Knochenjob im Urlaub
Erlebnisse einer polnischen Saisonarbeiterin von Kamila Fialkowska und Mathias Wagner
Die polnischen Erntehelfer sind die „Heinzelmännchen“ der deutschen Landwirtschaft. Ohne sie würde das Obst und Gemüse auf den Plantagen und Feldern liegen bleiben.
Die ersten Strahlen der Sonne künden einen warmen Tag an. Vor unserem Camp fahren Traktoren mit Anhängern vor. Etwa fünfzig bis sechzig Personen steigen auf jeden Traktor. Die Hälfte muss während der Fahrt stehen, weil es nur zwei Bänke gibt. Eine Plane schützt uns vor neugierigen Blicken oder Regen. Besonders bequem ist es nicht. Wir spüren jede Kurve und jedes Schlagloch. Glücklich ist, wer einen Sitzplatz ergattert, doch dafür muss man morgens eine Viertelstunde vor der Abfahrt bereitstehen. Meine Mitbewohnerinnen sind auf dem Quivive, und so sind wir fast immer die Ersten. Die Mühe lohnt sich, denn zu manchen Feldern dauert die Fahrt eine Stunde. Im Sitzen lehne ich mich an meine Nachbarin und schließe wenigstens für ein paar Minuten die Augen. In der Hauptsaison arbeiten wir vom Tagesanbruch um halb fünf bis abends um acht oder neun. Rechnet man noch eine Stunde jeweils für die Hin- und Rückfahrt hinzu, so bleibt kaum Zeit zum Ausruhen. Doch nicht immer verläuft unsere morgendliche Fahrt ungestört. Einmal bricht ein Balken, an dem die Plane befestigt ist, und eine junge Frau wird an der Wange verwundet, ein anderes Mal verliert der Anhänger ein Rad, kippt auf die Seite, und wir purzeln alle durcheinander.
Deutschland ist traditionell das wichtigste Zielland für polnische Arbeitsmigranten. Von 2004, dem Jahr der Osterweiterung der Europäischen Union, bis 2008 gehen Schätzungen von einem Anstieg der polnischen Saisonarbeiter in Deutschland von 385 000 auf 490 000 aus.1 Doch als Großbritannien, Irland und Schweden im Gegensatz zu Deutschland in jenem Jahr beschlossen, ihre Arbeitsmärkte für die Bürger der acht neuen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa vollständig zu öffnen, konnte vorübergehend auf manch einem deutschen Spargelfeld die Ernte nicht eingebracht werden. Auch wenn die Zahlen sanken – für 2009 gehen polnische Statistiken von einem Rückgang auf 415 000 Saisonarbeiter aus –, ist Deutschland für die Arbeitsmigranten aus Polen immer noch das wichtigste Zielland. In einer Umfrage des polnischen statistischen Amts geben 39 Prozent Deutschland als Migrationsziel an, gefolgt von Großbritannien mit 22 Prozent.2
Seit dem 1. Mai 2011 gelten für die Bürger der 2004 eingetretenen acht Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas keinerlei Zugangsbeschränkungen mehr für den deutschen Arbeitsmarkt. Die Bundesregierung hat die in den Beitrittsverträgen festgeschriebene Frist von maximal sieben Jahren zwar voll in Anspruch genommen, in der Praxis war jedoch der deutsche Arbeitsmarkt die ganzen letzten Jahre über trotzdem nicht hermetisch abgeschottet.3 Im Gegenteil, der Gesetzgeber passte die Regelungen für die Arbeitsmigration den Bedürfnissen der Wirtschaft an.
So wurde die Beschäftigungsdauer für Saisonarbeiter in der Land- und Forstwirtschaft und im Hotel- und Gaststättengewerbe bis 2009 stufenweise auf sechs Monate verlängert.4 Und seit 2006 können polnische Kleinstbetriebe in Deutschland Aufträge annehmen.5 Als selbstständig arbeitende Ein-Personen-Betriebe etablierten sich seitdem vor allem Reinigungs- und Pflegekräfte sowie unterschiedliche Gewerke aus dem Baubereich. Eine unbekannte Anzahl ausländischer Arbeitskräfte galt durch die neue Gesetzeslage endlich als legal beschäftigt. Darüber hinaus steht der deutsche Arbeitsmarkt seit dem Jahr 2007 polnischen Ingenieuren und seit 2009 allgemein allen Hochschulabsolventen offen.6
Wir wohnen in Containern, die Arbeiter nennen es „Camping“. Ein Container besteht aus drei Schlafräumen für jeweils vier bis sechs Personen. Die Unterkunft kostet pro Tag und Person 2,50 Euro. Mein „Zimmer“ teile ich mit fünf Frauen. Es ist so eng, dass wir ständig über die Gepäckstücke der anderen stolpern, wenn wir den Raum verlassen müssen. Es gibt auch keinen Schrank, in dem man die persönlichen Dinge verstauen könnte. Wir haben weder einen Herd (wir kochen auf sechs kleinen Campingkochern) noch einen Kühlschrank. Und es gibt auch keinen Wasseranschluss.
Die Waschräume zum Abwaschen und Duschen liegen im hinteren Teil des „Campingplatzes“ und sind selbstverständlich ebenfalls in Containern untergebracht. Oft gibt es kein Warmwasser und die meiste Zeit auch keinen Strom, und so stehen wir häufig am Morgen bei Kerzenschein auf oder verbringen die Abende im Licht der Kerzen. Im ganzen Containerdorf gibt es übrigens keinen einzigen Feuerlöscher.
Viele Vorschriften für die Unterbringung von Saisonarbeitern werden hier missachtet. Eigentlich steht zum Beispiel jedem ein Schrank für die Wäsche und ein Stuhl und Platz am Tisch zu; eine Toilette sollten sich nicht mehr als acht und eine Dusche (mit Warmwasser) nicht mehr als zehn Personen teilen müssen. Wenn der Arbeitgeber keine warmen Mahlzeiten anbieten kann, müsste es eine Kochgelegenheit für jeweils zwei Personen geben und einen Spind und Kühlschrank für die Lebensmittel. Waschmaschinen und Trockenräume stehen ebenfalls in den Vorschriften. Trotz zahlreicher Mängel und Verstöße gegen die Vorschriften beschwert sich niemand beim Betriebsleiter.
Die meisten polnischen Saisonarbeiter sind im Niedriglohnsektor in der Landwirtschaft, Alten- und Krankenpflege, Gebäudereinigung, Gastronomie und auf dem Bau beschäftigt. Mit dem in Deutschland verdienten Geld können sie sich und ihren Familien zu Hause in Polen in der Regel einen höheren Lebensstandard leisten. Dafür werden das geringe soziale Prestige der Tätigkeiten und die oft miserablen Arbeitsbedingungen in Kauf genommen. In der Regel ist man bemüht, in Deutschland möglichst wenig Geld auszugeben. Man verzichtet auf Wohnkomfort, Restaurantbesuche, Kino, Theater und Konzerte. Selbst Frauen, die seit zehn Jahren als Reinigungskräfte in Privathaushalten oder Betrieben zwischen Berlin und Polen pendeln, teilen sich immer noch zu dritt oder viert ein Zimmer, wo die Matratzen nebeneinander auf dem nackten Boden liegen. Nur an den Wochenenden fahren sie nach Hause.
Der entscheidende Motivationsfaktor ist das Einkommen. Wenn wir davon ausgehen, dass beispielsweise Saisonarbeiter in der Landwirtschaft monatlich 1 000 Euro netto verdienen können, so entspricht dies einem drei- bis viermonatigen Verdienst in Polen. Rein theoretisch wäre es also möglich, mit dem Einkommen von drei Monaten ein Jahr in Polen zu leben.
Die Praxis sieht natürlich anders aus. In der Regel wachsen mit dem verfügbaren Einkommen auch die Konsumbedürfnisse, und man bemüht sich entweder um weitere temporäre Arbeitsmöglichkeiten im Ausland oder geht zu Hause einer regelmäßigen Arbeit nach. Zudem sind auch in Polen, jedenfalls in der Hauptstadt Warschau, die Lebenshaltungskosten und Mieten in den letzten Jahren deutlich gestiegen.
An manchen Tagen arbeiten wir fünfzehn Stunden auf den Erdbeerfeldern. Nach der Rückkehr zum Camp beginnt der Wettlauf um die ersten Plätze unter den Duschen, solange das Wasser noch warm ist. Danach hetzt man kurz vor Kassenschluss in den Supermarkt. Und wenn eine von drei funktionierenden Waschmaschinen frei ist, kann man noch schnell die Wäsche erledigen. Die Geräte sind oft kaputt. Das ist auch kein Wunder, denn sie stammen vom Sperrmüll. Frühere Saisonarbeiter haben sie dort aufgelesen und ins Camp geschleppt.
Überhaupt ist der Sperrmülltag sehr beliebt; wir nennen ihn „Ausstellung“ („wystawek“ auf Polnisch) und meinen, es handle sich um eine deutsche Sitte, dass die Leute an einem bestimmten Tag Dinge zum Tausch auf die Straße stellen. Man findet immer irgendetwas Nützliches, um das Leben in den Containern zu verbessern. Haben wir mit etwas Glück alles erledigt, trinken wir abends noch zusammen ein Bier. Obwohl wir über die Arbeitsbedingungen und Unterkünfte schimpfen, halten die meisten schon seit mehreren Jahren dem Betrieb die Treue.
Netzwerke spielen eine große Rolle. Vor allem Erntehelfer versuchen auch in der nächsten Saison wieder in demselben Betrieb zu arbeiten. Die Kenntnisse der örtlichen Wohn- und Arbeitsbedingungen schützen vor Betrug und anderen Unannehmlichkeiten. Außerdem hat man nach mehreren Jahren hintereinander die Chance als „alter Hase“ in der Hierarchie der Saisonarbeiter aufzusteigen. Ein entscheidender Vorteil kann schon die Zuteilung bestimmter Ernteflächen sein. Üblicherweise wird das Obst und Gemüse (Spargel, Erdbeeren, Äpfel et cetera) von den Arbeitern in Kisten gelegt, die anschließend in einer Sammelstelle am Feldrain registriert werden. Da zumeist im Akkord gearbeitet wird, bedeuten kürzere Wege auch einen höheren Gewinn.
Als ich mich auf die Suche nach einer Saisonarbeit machte, konnte ich auf keinerlei Kontakte zurückgreifen. Im Internet stieß ich auf die Annonce eines deutschen Erdbeerhofs. Offensichtlich handelte es sich um einen großen Betrieb, der bis zu zweihundert Personen in der Saison beschäftigt. Auf meine Anfrage per E-Mail schickte man mir eine Telefonnummer, unter der sich ein polnischer Vermittler meldete. Im Auftrag des deutschen Landwirts wirbt er die Saisonarbeiter in Polen an und verlangt von ihnen dafür eine Art Gebühr. Ich sollte ihm vorab 100 Zloty (etwa 26 Euro) schicken. Das wunderte mich, da es offiziell hieß, die Vermittlung sei kostenlos. Später erfuhr ich dann, dass diese illegalen Methoden der informellen Anwerbung weit verbreitet sind. Nachdem ich den geforderten Betrag per Einschreiben an die angegebene Adresse geschickt hatte, wartete ich auf die Mitteilung des Abreisetermins.
Nicht nur die Erntehelfer bleiben in der Regel den Betrieben treu, auch die Landwirte bemühen sich, die ihnen bekannten Leute, die sie schätzen, im nächsten Jahr wieder einzustellen. Da den Landwirten bei der zentralen Auslands- und Fachvermittlung der Agentur für Arbeit die Möglichkeit eingeräumt wird, Saisonarbeiter namentlich anzufordern, werden die informellen Vermittler von den deutschen Behörden sogar noch unterstützt.7
Denn wer bisher keine Kontakte hatte, ist auf das informelle System der privaten polnischen Vermittler angewiesen, die über eine marktbeherrschende Position verfügen. Unter Umgehung der polnischen Arbeitsämter nutzen sie ihre Schlüsselrolle aus und treiben bei den Arbeitssuchenden illegal Gebühren ein.8 Diese Praxis hat eine lange Tradition in der Geschichte der deutsch-polnischen Arbeitsmigration. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemühte sich die deutsche Reichsregierung offensichtlich erfolglos, das illegale Nebengeschäft zu unterbinden.9
Das mächtige System der informellen Arbeitsvermittlung verhindert, dass polnische Arbeitslose eine Chance bekommen. Sie stellen bei den saisonalen Erntearbeitern nur einen kleinen Anteil, da es sowohl von deutscher als auch polnischer Seite starke Vorbehalte gibt. Die deutschen Landwirte und die polnischen Arbeitsvermittler scheinen sich darin einig zu sein, dass die Arbeitslosen unzuverlässiger sind und oft Alkoholprobleme haben.
Tatsächlich ist eine große Anzahl der Saisonarbeiter in Polen ganz normal erwerbstätig. Sie nutzen ihren Jahresurlaub, den sie möglichst noch mit einer unbezahlten Urlaubszeit verlängern, um in Deutschland Erdbeeren oder Spargel zu ernten.
Während die Europäische Kommission den grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt preist, werden die sozialen und emotionalen Probleme, die mit den langen Trennungen von Familien und Freunden verbunden sind, vollkommen außer Acht gelassen. In den Medien spricht man hingegen schon länger über das Schicksal der „Eurowaisen“, das heißt der polnischen und rumänischen Kinder, deren Eltern über Monate oder Jahre in Westeuropa arbeiten.10 Jüngste Untersuchungen zeigen, dass die lange Abwesenheit eines Elternteils zu emotionalen Belastungen führen kann.11 Lehrer und Sozialpädagogen berichten von zunehmend aggressivem oder introvertiertem Verhalten bei Schülern, deren Eltern im Ausland arbeiten.
Gleichzeitig ist es seit nunmehr zwanzig Jahren für polnische Schüler eine selbstverständliche Vorstellung, dass sie eines Tages im Ausland arbeiten werden. Am Beispiel einer niederschlesischen Gemeinde zeigt sich deutlich das Ausmaß der Arbeitsmigration. In einem Viertel der Familien von den 162 Schülern der Jahrgänge 7 bis 10 arbeitet ungefähr ein Elternteil regelmäßig im westlichen Ausland. Drei Schüler wachsen bei den Großeltern auf, weil beide Elternteile außerhalb Polens arbeiten.
Neben den Belastungen für das private Umfeld wirkt sich die saisonale Abwanderung gut ausgebildeter Kräfte auf die gesamte polnische Gesellschaft zunehmend negativ aus. Selbst junge Akademiker mit abgeschlossenem Informatikstudium und guten Berufsaussichten in Polen ziehen es immer noch vor, nach dem Studium für einige Jahre in Großbritannien oder Irland einfache, aber einträgliche Jobs zu übernehmen, damit sie sich zu Hause ein Auto, ein Eigenheim oder eine schicke Einrichtung kaufen können. Um einen weiteren Braindrain zu verhindern, bemüht sich die polnische Regierung schon seit einigen Jahren, die gut ausgebildeten Migranten zur Rückkehr zu bewegen.
Je näher der Tag der Abreise rückt, umso häufiger schauen wir uns Fotos von zu Hause an und erwarten sehnsüchtig die Rückkehr in unser normales Leben. Obwohl ich nur fünf Wochen in Deutschland auf dem Erdbeerfeld gearbeitet habe, während andere zwei Monate und länger in dem Camp leben, erscheint mir die Heimat als ruhiger Hafen, in dem ich wieder Herr über die eigene Zeit und das eigene Leben bin. In unseren Träumen haben wir das mühsam erarbeitete Geld schon ausgegeben, und wir Frauen freuen uns darauf, endlich wieder schöne Sachen anziehen zu können. Verglichen mit meinem ersten Erschrecken bei der Ankunft in dem, wie wir es nennen, „Camping-Slum“, ist es erstaunlich, zu welchen Anpassungen die Kollegen in der Lage sind, die Jahr für Jahr an diesen Ort zurückkehren.