11.11.2011

Noch lange kein Frühling

zurück

Noch lange kein Frühling

Saudi-Arabien bleibt eine absolute Monarchie von Volker Perthes

Audio: Artikel vorlesen lassen

Saudi-Arabien spürte politischen Reformdruck nicht erst im Zusammenhang mit den Revolutionen in Tunesien und Ägypten und den Revolten im benachbarten Jemen oder in Syrien und Libyen. Die Fragen, mit denen junge Saudis sich beschäftigen, sind nicht dieselben, aber zum Teil ähnliche wie die, die ihre Altersgenossen in anderen arabischen Ländern umtreiben: Es geht zunehmend um Teilhabe und den Umgang mit Andersdenkenden, zumal bei Jugendlichen, die nicht aus reichen Familien stammen. Es geht auch um die Schwierigkeiten, einen Job zu finden, um die oft mangelnde Qualifikation von Schul- und Hochschulabsolventen, um Leere und Langeweile in einer Gesellschaft, die wenig kulturelle und soziale Freiheiten lässt, und nicht zuletzt um die Rechte von Frauen und den Umgang von Männern und Frauen miteinander.1

Opposition, Widerspruch gegen die Politik des Herrscherhauses oder Protest gegen die Dogmen und Zwänge der strikt durch die konservative, sunnitisch-wahhabitische Auslegung des Islam genormten Gesellschaft kommt allerdings aus sehr unterschiedlichen Segmenten der Bevölkerung, die wenig miteinander zu tun haben und schon gar nicht gemeinsam für Veränderung eintreten würden. So muss das Herrscherhaus sich mit Forderungen der schiitischen Minderheit nach Gleichberechtigung, mit liberalen Forderungen nach gradueller politischer Veränderung, einem Ende der Diskriminierung von Frauen und grundlegenden Reformen im Bildungs- und Erziehungswesen genauso auseinandersetzen wie mit mehr oder weniger radikal agierenden religiösen Ultras, die selbst die kleinen Reformschritte der vergangenen Jahre wieder zurücknehmen wollen.

Die Schiiten in der Ostprovinz des Landes haben sich im vergangenen Jahrzehnt stärker um Integration bemüht und die von König Abdullah in seiner Zeit als Kronprinz vorsichtig zum Dialog ausgestreckte Hand gern ergriffen. Es geht ihnen um die Anerkennung als Bürger mit gleichen Rechten, um die Beendigung religiöser und sozialer Diskriminierung und nicht – wie teilweise in früheren Jahren – um Sezession oder ein Ende der Monarchie. Während des Aufstands in Bahrain kam es zunächst zu kleineren Solidaritätsdemonstrationen in der Ostprovinz, die der Insel gegenüberliegt, und auch zu begrenzter Gewalt. Erst nach dem Einmarsch saudischer und emiratischer Truppen in Bahrain zogen diese Demonstrationen dann nicht nur einige Hundert, sondern Tausende an. Bereits im Januar hatten sich kleinere Gruppen von Aktivisten via Facebook zu Wort gemeldet und zu Demonstrationen aufgerufen; die Resonanz blieb allerdings gering. Wie in früheren Jahren wurden ferner Reformpetitionen im Internet eingestellt, in denen sich Intellektuelle, Journalisten, jüngere Aktivisten und liberale Kleriker mit allem Respekt an die „politische Führung“ wandten: Der König selbst, hieß es etwa in einer „Nationalen Reformerklärung“, solle einen Prozess anführen, der das Land schrittweise in eine konstitutionelle Monarchie transformiere und auf die „großen Ziele“ Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung, Gleichheit der Bürger, politische Teilhabe sowie ausgeglichene Entwicklung verpflichte.2 Konkret wurde verlangt, dass der bislang ernannte Konsultativrat in Zukunft gewählt werden solle.

Die Regierung ging nicht direkt auf den Aufruf ein, versprach im Frühjahr aber immerhin, dass im Herbst zum zweiten Mal Kommunalwahlen durchgeführt werden sollten. Eine erste Runde hatte 2005 stattgefunden, auf die eigentlich 2009 fälligen Neuwahlen hatte man verzichtet. Sie jetzt doch noch durchführen zu lassen, war insofern eine vorsichtige Konzession an die Liberalen. Im September erklärte der König zudem, dass bei den nächsten Wahlen – 2015 – dann auch die Frauen das Wahlrecht erhalten sollten. Zunächst aber sollten weiterhin nur Männer wahlberechtigt sein. Im März ließ man zudem durch die höchsten Religionsgelehrten des Landes erklären, dass Demonstrationen gegen islamisches Recht verstoßen.

Reaktionäre Botschaften auf Facebook

Die neuen sozialen Medien blieben nicht die Domäne von Liberalen und Reformern. Sie wurden zunehmend auch von saudischen Salafiten genutzt, also von jenen konservativ-wahhabitischen Kräften, die befürchten, dass Saudi-Arabien seinen streng islamischen Kurs aufgibt, der bisher die Staatsideologie dargestellt hat. Die Salafiten sind keineswegs nur alte, verknöcherte Religionsgelehrte, die sich gegen jede technische Neuerung wehren. Muhammad al-Arifi etwa ist ein durchaus modern auftretender junger Prediger, der sich dank Internet und Satellitenfernsehen eine Anhängerschaft weit über Saudi-Arabien hinaus geschaffen hat. Und er ist nur ein – wenngleich prominentes – Beispiel für den „salafitischen Trend“.

Arifi predigt jeden Freitag in einer Moschee in Riad, betreibt ein religiöses Programm im Satellitenkanal Iqraa („Lies!“) und unterhält eine aktive Facebook-Seite. Er wurde 1970 geboren und ist damit für einen saudischen Religionsgelehrten und Hochschullehrer an der konservativen King-Saud-Universität relativ jung. Er hat Witz und bedient sich einer verständlichen Umgangssprache, was gerade beim jungen Publikum ankommt. Die Botschaft allerdings ist reaktionär: Mal predigt er gegen die Liberalen, mal beschimpft er die Schiiten des Landes als eine bösartige, mörderische und ungläubige Sekte, die die heiligen Stätten unter iranische Kontrolle bringen will. Die saudischen Sicherheitskräfte sollten sich mit dem Problem befassen. Bei diesen ist er durchaus Persona grata und wird gern zu religiösen Vorträgen etwa im Offiziersklub der Polizei geladen.

Als Arifi im Frühjahr 2011 in einer Freitagspredigt einen offenen Angriff auf die im allgemeinen reformorientierten saudischen Journalisten und Intellektuellen startete und diesen vorwarf, die Interessen ausländischer Staaten zu vertreten und im Übrigen nur daran interessiert zu sein, dass „Frauen Auto fahren und im Badeanzug an den Strand gehen“, sah man sich im Religionsministerium immerhin veranlasst, ihn öffentlich zu tadeln: Er solle solche Äußerungen künftig unterlassen und die Kanzel des Freitagsgebets nicht missbrauchen, um „Konflikte zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen anzufachen“.3 Der junge Scheich ließ sich dadurch allerdings nicht einschüchtern, griff vielmehr die Zeitung und die Journalisten an, die die Abmahnung durch das Ministerium öffentlich gemacht hatten.“

Beständigkeit ist vielleicht eine der wichtigsten Eigenschaften, die veränderungswillige Kräfte in einem Land benötigen, in dem die Kräfte der Beharrung so stark sind und „Veränderung“ immer noch gern als „Abweichung“ (bid’a) – von der rechten islamischen Lehre – verstanden wird. Beharrungsvermögen benötigen gerade auch die Frauen, die seit einigen Jahren ihre Rechte als Bürgerinnen einfordern. Dabei geht es nicht nur um das Lenken eines Fahrzeugs, vielmehr ist die Forderung, am Steuer eines Autos sitzen zu dürfen, stets mit der Forderung nach Gleichberechtigung in anderen Bereichen verbunden.

Immer mehr saudische Frauen sind gut ausgebildet und üben einen Beruf aus: als Lehrerinnen, Professorinnen und Ärztinnen, Unternehmerinnen, Investmentberaterinnen oder Journalistinnen. Nach herrschender Lehre benötigen sie aber nach wie vor die Zustimmung eines männlichen Verwandten, wenn sie etwa ein Hotelzimmer buchen wollen. Im Juni setzten mehrere Frauen sich über die keineswegs kodifizierte Vorschrift hinweg, die Frauen das Autofahren verbietet, und fuhren mit ihren Wagen durch Riad. Einige Wochen zuvor war die 32-jährige Informationstechnikerin Manal al-Sharif festgenommen und zehn Tage lang in Haft gehalten worden, weil sie ihr eigenes Auto gesteuert und sich dabei hatte filmen lassen. Das Video hatte sie ins Internet gestellt, um andere Frauen zu ermuntern, ebenfalls den Bann zu brechen. Die Inhaftierung Sharifs war durchaus als Warnung des konservativen Establishments zu verstehen, dass man eine Unterminierung des religiös-moralisch begründeten Regelwerks durch Einzelne nicht tolerieren werde. Insofern blieb die Zahl der Frauen, die sich in den folgenden Wochen und Monaten demonstrativ hinters Steuer setzten, überschaubar.

Mehr Ahnung von Religion als von Mathematik und Bio

Allerdings gelang es, eine breitere öffentliche Debatte loszutreten und die Regierung ein Stück weit in die Defensive zu drängen: Viele Saudis erkennen an, dass das Frauenfahrverbot auch ökonomisch völlig unsinnig ist: Jeder weiß, dass saudische Frauen auf dem Land seit Jahrzehnten ihren Traktor fahren. Die Regierung hat ganz offensichtlich kein Interesse daran, das von den Konservativen verteidigte Verbot in Zeiten erhöhter Aufmerksamkeit für die innere Entwicklung des Landes womöglich gesetzlich festzuschreiben. Am liebsten würde man wohl jede einzelne Auto fahrende Frau einfach übersehen.

Tatsächlich wird das Regime nicht von Frauen am Steuer bedroht. Furcht herrscht dagegen bei der Regierung, dass die soziale Unzufriedenheit Unruhen auslösen könnte. Saudi-Arabien ist immer noch ein reiches Land, aber die Bevölkerung ist enorm gewachsen – auf heute etwa 26 Millionen Einwohner, davon über 20 Millionen Saudis, mehr als doppelt so viele wie 1990. Das heißt aber, dass im Schnitt für den Einzelnen weniger übrig bleibt. Es gibt spürbare Armut und eine wachsende Zahl von arbeitslosen Jugendlichen. Das saudische Bildungssystem trägt einen Teil der Schuld, hat es die jungen Leute doch vom ersten Schultag an eher in den Überlieferungen des Propheten und in islamischem Recht ausgebildet als in Mathematik, Naturwissenschaften und Fremdsprachen.

Unter König Abdullah hat man versucht, das Erziehungswesen zu reformieren; sogar eine technische Universität, an der Frauen und Männer gemeinsam auf einem Campus studieren, wurde aufgebaut. Aber die Veränderungen schreiten nur langsam voran. Die Sorge der Regierenden, dass sich soziale Unzufriedenheit mit politischem Protest mischen und dieser von radikalen Islamisten genutzt werden könnte, ist nicht unberechtigt.

Die saudische Führung lancierte deshalb angesichts der Proteste und Unruhen in den umliegenden Ländern ein im regionalen Vergleich, aber auch für die eigene Volkswirtschaft beispielloses soziales Ausgabenprogramm: Man warf im wahrsten Sinne des Wortes Geld auf die Probleme. Die Ausgaben von zwei kurz nacheinander verkündeten Programmen addierten sich zusammen auf über 130 Milliarden Dollar, fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts.4 Die saudische Führung ignorierte die eigenen sozialen Probleme und die politischen Herausforderungen, die die Revolutionen und Revolten in anderen arabischen Ländern auch für das Königreich bedeuten könnten, also keineswegs.

Sie setzte insgesamt – abgesehen von kleineren Zugeständnissen wie der Ankündigung neuer Kommunalwahlen – nur nicht auf politische Lösungen, sondern auf ein bewährtes, nun allenfalls höher dosiertes Rezept: Protest vorzugsweise in Geld zu ersticken und wenn nötig mit repressiver Gewalt unterdrücken. Mit den vom Golfkooperationsrat beschlossenen Milliardenhilfen für dessen zwei ärmste Mitglieder Bahrain und Oman wie auch mit dem Einmarsch ins benachbarte Bahrain signalisierte Riad zugleich, dass man dasselbe Rezept auch im unmittelbaren Umfeld zur Anwendung zu bringen bereit war. Die Revolution in Ägypten musste man tolerieren; im Jemen konnte man versuchen, zu einem verhandelten, friedlichen Regimewechsel beizutragen. Im Familienkreis der Golfmonarchien aber würde man versuchen, revolutionären Tendenzen von Anfang an die Luft zu nehmen.

Fußnoten: 1 Siehe dazu ausführlicher Perthes, „Orientalische Promenaden. Der Nahe und Mittlere Osten im Umbruch“, München (Siedler) 2006, S. 135–236. 2 www.saudireform.com. 3 Huda al-Salih, „Das Ministerium für religiöse Angelegenheiten verhängt eine Disziplinarstrafe gegen Scheich Muhammad al-Arifi“, in: al-Sharq al-Awsat, 21. April 2011. 4 Caryle Murphy, „Saudi king unveils massive spending package“, in: The National, 19. März 2011. www.thenational.ae. © Dieser Text ist ein Auszug aus: Volker Perthes, „Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen“. Das Buch erscheint am 14. November 2011 im Pantheon Verlag. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte. Volker Perthes leitet die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Le Monde diplomatique vom 11.11.2011, von Volker Perthes