Das sanfte Ende der Monarchie
Tunesiens Weg zu seiner ersten Verfassung 1959 von Samy Ghorbal
Scheich Abdelaziz Thâalbi war der Erste, der den Begriff „Destur“ (Verfassung) in Tunesien in den 1920er Jahren bekannt machte.1 1934 übernahm ihn dann der Vater der tunesischen Unabhängigkeit, Habib Bourguiba, der ihn weiterentwickelte und zum Leitprinzip im Kampf für die politische Unabhängigkeit des Landes machte. Der Begriff der Destur brach mit der kolonialen Ordnung ebenso wie mit der absolutistischen Herrschaft des tunesischen Beys und war damit Sinnbild für den Aufbruch in eine rechtsstaatliche und institutionelle Moderne.2 Doch erst als sie schon vor den Toren der Macht standen, begannen die tunesischen Nationalisten klarer auf die Notwendigkeit einer verfassunggebenden Versammlung zu verweisen.
Der entscheidende Impuls erfolgte im November 1955 auf dem Kongress der Neo-Destur, wie die von Bourguiba gegründete Partei sich nannte. Die Delegierten forderten die Regierung auf, „unverzüglich allgemeine demokratische Wahlen in den Gemeinden und für eine verfassunggebende Versammlung“ durchzuführen.
Im Juni desselben Jahres war die zwischen der tunesischen Führung und dem französischen Regierungschef Pierre Mendes France ausgehandelte „innere Autonomie“ Tunesiens in Kraft getreten – zum Missfallen des radikalen Flügels der Neo-Destur unter Salah Ben Youssef3 . Der forderte die „sofortige und totale Unabhängigkeit“ Tunesiens und drohte mit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfs. Mit der Zustimmung der Kongressteilnehmer zum Antrag für eine verfassunggebende Versammlung versuchte Bourguiba den Flügel der „Youssefisten“ zurückzudrängen. Damit gelang ihm ein doppelter Schlag: Zum einen stellte er die Franzosen vor vollendete Tatsachen, indem er die Frage der Unabhängigkeit erneut auf die Tagesordnung setzte, zum anderen grub er seinen internen Widersachern das Wasser ab.
Danach galt es nur noch die Bedenken des Palastes zu überwinden: Der Bey von Tunis, Muhammad al-Amin, fürchtete nicht ohne Grund, der den „Desturiern“ versprochene Verfassungskonvent könnte seine Vorrechte beschneiden. Deshalb spielte er auf Zeit und weigerte sich zunächst, der Forderung der Kongressteilnehmer nachzukommen. Doch die Machtverhältnisse verschoben sich immer mehr zugunsten der Nationalisten. Am 29. Dezember 1955 sah sich der Bey gezwungen, ein Dekret zu unterzeichnen, das die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung auf den 25. März 1956 festsetzte. Dabei versuchte al-Amin, noch möglichst viel für sich zu retten und die Kompetenzen der „Constituante“ zu begrenzen, indem er ihren Auftrag auf die Formel einengte, dem „Königreich Tunesien“ eine Verfassung zu geben.4
Die Modalitäten des Urnengangs wurden am 6. Januar 1956 festgelegt: In jedem der 18 neuen Wahlbezirke sollte nach Listen gewählt werden. Am 20. März, nur fünf Tage nach der Unterzeichnung des Protokolls zur Unabhängigkeit Tunesiens in Paris, gingen 85 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen: eine regelrechte Volksabstimmung. Die Nationalisten der Neo-Destur eroberten 98 Prozent der Sitze.5 Bourguiba wurde in seiner Heimatstadt Monastir mit 100 Prozent der Stimmen gewählt. Aus dieser Position der Stärke machte er sich sofort daran, sein Programm umzusetzen. Doch um die Fundamente eines modernen Staats und seiner Gesellschaft legen zu können, musste er zuvor die Unabhängigkeit des Landes festigen, die bislang nur auf dem Papier bestand. Daher die verfassunggebende Versammlung.
Die französische Unterschrift unter das Unabhängigkeitsprotokoll beendete die Fiktion des Protektorats. Frankreich übergab den Tunesiern die Regelung ihrer inneren Angelegenheiten, zögerte aber, ihnen auch die Verantwortung für auswärtige Beziehungen, Verteidigung und selbst für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung zu überlassen. Das Rückgrat der tunesischen Verwaltung bildeten nach wie vor die französischen Beamten, die gegenüber ihren tunesischen Kollegen bei weitem in der Überzahl blieben. Trotz der offiziellen Unabhängigkeit Tunesiens blieben 56 000 französische Soldaten im Land stationiert.
Die Aufgabe einer verfassunggebenden Versammlung bestand also vor allem darin, diesen unhaltbaren „Übergangszustand“ durch einen irreversiblen politischen Akt zu beenden. Bei ihrer konstituierenden Sitzung im symbolträchtigen Thronsaal des Bardo-Palasts am 8. April 1956 wählte die Versammlung Bourguiba zu ihrem Vorsitzenden. Bereits sechs Tage später wurde ein erstes Verfassungsgesetz verabschiedet: ein einziger Artikel mit drei Absätzen, die sogenannte kleine Verfassung von 1956.
Bourguiba war sich bewusst, dass die Frage des Verhältnisses zwischen Staat und Religion die Gemüter erhitzen würde. Damit diese Diskussion gar nicht erst aufkam und für Unruhe sorgte, lautete der erste Absatz des Verfassungsgesetzes vom 14. April 1956: „Tunesien ist ein freier, unabhängiger und souveräner Staat. Seine Religion ist der Islam und seine Sprache das Arabische“. Diese Formulierung, die wortgleich in die Verfassung vom 1. Juni 1959 einging,6 war ein Meisterwerk an Präzision und Doppeldeutigkeit. Der Islam ist die „Religion des Staats“, aber nicht „Staatsreligion“; die Religionsfreiheit wird „anerkannt“, und die freie Glaubensausübung wird „geschützt“, aber nur unter der Voraussetzung, „dass sie nicht die öffentliche Ordnung gefährdet“ (3. Absatz). Der tunesische Staat war damit zwar nicht laizistisch definiert, aber auch nicht islamistisch, sondern säkular. Die Scharia wurde nicht zur Quelle des Rechts erhoben.
Der zweite Absatz – „die Souveränität geht vom Volk aus, das sie gemäß den in dieser Verfassung festgelegten Bedingungen ausübt“ – bedeutete die Abwertung der Monarchie zu einer folkloristischen Institution. Nachdem Bourguiba vom Bey mit der Regierungsbildung beauftragt worden war, womit er den Vorsitz bei der verfassunggebenden Versammlung abgeben musste, führte er hinter den Kulissen weiter Regie: Er wachte über die Arbeit der „Constituante“, die ursprünglich nur wenige Wochen dauern sollte, sich dann allerdings drei Jahre und zwei Monate lang hinzog.
Bourguiba, der gewiefte Taktiker
Bis Januar 1957 einigten sich die Abgeordneten auf einen ersten 107 Artikel umfassenden Entwurf einer monarchischen Verfassung, die sich am „britischen Modell“ orientierte. Der wurde aber nicht einmal im Plenum diskutiert, geschweige denn verabschiedet. Der gewiefte Taktiker Bourguiba wartete auf einen günstigen Moment, um der schwächelnden Monarchie den Todesstoß zu versetzen.
Im Juli 1957 ging Bourguiba in die Offensive: Er verurteilte die Korruption am Hof des Beys und die Veruntreuung von Staatsgeldern durch die Prinzen. Jetzt sollte Schluss sein mit den anormalen Privilegien des Beys, die Bourguiba als inakzeptable Hinterlassenschaft einer dekadenten und demütigenden Vergangenheit empfand. „Die Stunde der Abrechnung wird bald kommen“, drohte der Führer der Neo-Destur am 17. Juli 1957. Für den 25. Juli ließ er eine außerordentliche Sitzung der Verfassungsversammlung ansetzen. Ein Delegierter nach dem anderen trat in der aufgeheizten Atmosphäre ans Rednerpult, um der Monarchie den Prozess zu machen.
Am Ende ergriff Bourguiba selbst das Wort. Er geißelte die Beys von Tunis als „ordenbehängte Hampelmänner und Säbelrassler“, die – bis auf eine Ausnahme7 – den „einer Monarchie normalerweise zukommenden Aufgaben niemals gewachsen waren“. Und dann forderte er die sofortige Abschaffung der Monarchie: „Um einen Staat auf einer soliden Basis zu errichten, muss es eine strikte Übereinstimmung zwischen den Menschen und den Symbolen geben.“ Am Ende der Sitzung wurde die Republik ausgerufen.
Damit begann eine neue Etappe der Verfassungsdebatte. An ihrem Ende stand ein Präsidialsystem, das auf Bourguiba zugeschnitten war. Im Januar 1958 lag dann der Entwurf für eine neue republikanische Verfassung vor, die aus 89 Artikeln bestand und keine Präambel mehr hatte. Die vorliegende Fassung war allerdings unausgereift und lückenhaft (etwa bei der Definition des politischen Systems und bei den Grundrechten).
In der Folge musste die ursprünglich für den 9. April 1958 vorgesehene Verkündung der neuen Verfassung wegen einer Krise mit Frankreich verschoben werden, nachdem die französische Luftwaffe im Februar das tunesische Dorf Sakiet Sidi Youssef bombardiert hatte. Die entstandene Pause nutzten Bourguiba und seine Berater, um die Verfassungsdebatte in Frankreich zu verfolgen, wo zwischen Mai und Oktober 1959 der Übergang von der IV. zur V. Republik vonstatten ging. Unter Verweis auf dieses Beispiel wurde das Übergewicht der künftigen tunesischen Exekutive verstärkt.
Danach ging alles ziemlich schnell. Am 26. Januar 1959 stimmte die „Constituante“ dem neuen Verfassungsentwurf in erster Lesung zu. Und am 28. Mai verabschiedete sie den endgültigen Text, der jetzt 60 Artikel umfasste und auch wieder eine Präambel hatte. Darin wurde feierlich der Wille des tunesisches Volks beschworen, „den Lehren des Islam, der Einheit des Großmaghreb und dessen Mitgliedschaft in der arabischen Familie treu zu bleiben“.
Diese Verfassung, die am 1. Juni 1959 von Bourguiba proklamiert wurde, beinhaltete ein starkes präsidentielles System, das den Prinzipien einer liberalen Demokratie zuwiderlief. Das in der Präambel noch erwähnte Prinzip der Gewaltenteilung fand keine konkrete Ausgestaltung; die Garantien für die richterliche Unabhängigkeit waren geradezu lächerlich. Grundrechte wie Presse-, Vereinigungs-, Meinungs- und Religionsfreiheit wurden im Prinzip anerkannt, doch wie wirksam und weitreichend sie auszugestalten waren, lag zumeist im Ermessen des Gesetzgebers, der wiederum der Exekutive untergeordnet war. Der Präsident war Staatsoberhaupt und Regierungschef zugleich und in beiden Funktionen unabsetzbar. Er war gegenüber keiner Institution verantwortlich und konnte Minister jederzeit ernennen und entlassen. Auch eine Begrenzung seiner Amtszeiten war nicht vorgesehen.8
Muss man also sagen, dass die verfassunggebende Versammlung von 1956 bis 1959 versagt hat? Ja und nein. Die Antwort lautet ja, insofern es ihr nicht gelungen ist, ein demokratisches System zu entwerfen, in dem die Grundrechte und Freiheiten wirksam gesichert waren. Und sie lautet nein, insofern sie ihre Aufgabe, die Unabhängigkeit Tunesiens zu festigen und seine Souveränität auszugestalten, dennoch weitgehend erfüllt hat. Vor allem aber hat sie den Bruch mit der Vergangenheit vollzogen, indem sie das Fundament für einen säkularen Staat rational-legalen Typs schuf, der zuvor fast ausschließlich der westlichen Moderne vorbehalten war.