11.11.2011

Standardgefühle

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Standardgefühle

Wie die Psychologie in den Markt integriert wurde von Eva Illouz

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Lange Zeit postulierte das „vormoderne“ Denken die Existenz einer Seele: „über“ dem Körper, unergründlich, tief, ewig und in Verbindung mit dem Göttlichen. Das Christentum verlieh dem natürlich kraftvoll Ausdruck: „Ja ist denn, Herr, mein Gott, etwas in mir, das Dich fassen könnte?“, fragt Augustinus in einem Versuch der Selbstdefinition.1 Seelen sind also unendlich und zutiefst mit der kosmischen Ordnung verwoben. Sie können aber durch etwas aufgewühlt und entstellt werden, das man „Leidenschaften“ nannte und im Christentum gelegentlich mit den sieben Todsünden gleichsetzte – von denen man sich durch verschiedene Formen von Buße reinigen konnte. Seelen waren in ein moralisches Verständnis des Personseins eingebettet und mit einem System moralischer Grundsätze verknüpft. Die Schulung der Gefühle war also ein Element der umfassenden Bildung von Seele und „Charakter“ eines künftigen Mitglieds der menschlichen und religiösen Gemeinschaft. So wurde eine bestimmte Vision von Gut und Böse, von Verdammung und Erlösung begründet.

Wie ist es nun hiermit? „Michael Galpert dreht sich in seinem New Yorker Apartment im Bett herum, der Wecker klingelt. Der 28-jährige Internetunternehmer zieht das Stirnband ab, das seine Gehirnströme über Nacht aufgezeichnet hat, und studiert das Balkendiagramm seiner Tiefschlaf-, Leichtschlaf- und REM-Phasen. Er marschiert ins Bad und stellt sich auf seine Waage, die Gewicht und Körpermasse an eine Onlinedatei sendet.“

Später „breitet jemand aus Großbritannien ein über dreieinhalb Meter großes Liniendiagramm aus, das seine Stimmungsschwankungen im Lauf des letzten Jahres verzeichnet. […] Schritte, Schweiß, Koffein, Erinnerungen, Stress, sogar Sex und Partnersuche – all dies lässt sich berechnen und bewerten wie die Durchschnittsleistung eines Baseballspielers. Und wenn es nicht schon eine App oder dergleichen gibt, die die entsprechenden Werte verfolgt, dürfte sich das binnen weniger Jahre ändern.“2 Moderne Menschen wie Michael Galpert verhalten sich zu ihrem eigenen Selbst wie zu etwas Kenntlichem, Endlichem, einem Ensemble materieller, chemischer Kräfte, das sich an einem durchschnittlichen und abstrakten Standard von „Normalität“ messen und kontrollieren lässt.

Der Übergang von der Seele und den Leidenschaften zu Gefühlen als einem Ensemble beherrschbarer Einheiten lässt sich als Bestandteil dessen verstehen, was Max Weber „Entzauberung“ nannte: den Verlust von Glauben und Sinn, den man als ein bezeichnendes Merkmal unserer modernen Zeit betrachten kann. Die Entzauberung entstand zum einen mit der Rationalisierung der Lebensführung durch die Institutionen von Wissenschaft und Technik, die die Kategorie des „Mysteriums“ außer Kraft setzten und die Welt auf eine Reihe erkennbarer Größen reduzierten. Ein weiterer Antrieb war das vom Markt geforderte ökonomische Verhalten, das unter anderem verlangt, dass sich unser Innenleben und unsere Äußerungen mit unserem Eigeninteresse decken, damit wir effizient und gewinnorientiert agieren können. Was keinen unmittelbaren Profit versprach, stand von da an unter dem Verdacht der Nutzlosigkeit.

Aber dieser Entzauberung konnte durch ein intensives Gefühlsleben begegnet werden, das dem Menschen zu einem Gefühl der Sinnhaftigkeit und einem leidenschaftlichen Verhältnis zur Gesamtheit seiner Erfahrungen verhelfen würde. So glaubte jedenfalls Weber. Er hatte noch keine Vorstellung von den gewaltigen Kräften, die nach dem Ersten und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg selbst noch das Gefühlsleben rationalisieren sollten.

Nicht alle unsere Gefühle werden uns bewusst, und traditionell gelten Gefühle als schwer kontrollierbar. Lange Zeit gingen wir davon aus, dass wir vielleicht lernen können, unsere Gefühlsäußerungen zu beeinflussen, die Gefühle selbst sich aber jeder Dressur verweigern. Dies war zweifellos auch der Fall – bis sich Wissenschaft und Markt zusammentaten.

Wilhelm Wundt verkündete, die Seele sei für die Wissenschaft vom Menschen irrelevant, und Männer (wie wahrscheinlich auch Frauen) müssten sich anhand konkreter, objektiver, physisch beobachtbarer Phänomene verstehen lassen. Er trug viel dazu bei, dass sich die experimentelle Psychologie als Disziplin etablierte, und leitete die Umfirmierung der „Seele“ zur – steuerbaren und wandelbaren – „Persönlichkeit“ oder „Psyche“ ein.3 Die experimentelle Psychologie entwickelte sich zur einzigen wissenschaftlich legitimierten Form von Psychologie.

Doch es war die klinische Psychologie, die den größten kulturellen Einfluss hatte und die Modelle der Seele und des Selbst durch das ärztliche Ideal der geistigen Gesundheit und des Wohlbefindens radikal umformte. Damit prägte sie die zeitgenössischen Gesellschaften in sämtlichen Bereichen, von der Wirtschaft (durch Managementtheorien) über Familie und Schule (durch Modelle der Kindererziehung), Intimität und Sexualität (durch Eheberatung), Militär (durch die Behandlung von Traumata), Gefängnisse (durch Rehabilitationsprogramme), Werbung und Marketing, Massenmedien (durch Talkshows) bis hin zu internationalen Konflikten (durch die Behandlung von Kriegstraumata und Genoziderlebnissen).4

Ein gesundes Selbst als käufliches Produkt

Nachdem die Psychologie in den Markt integriert worden war, breitete sich das Therapiewesen weltweit in vielerlei Gestalt aus – ein Prozess, der die „Person“, das „Wohlbefinden“ und die „geistige Gesundheit“ in unsichtbare und einflussreiche Güter verwandelte, mit deren Hilfe die „reparierte“ Person gleichermaßen produziert wie konsumiert wird. Um dieses neue Produkt – das gesunde, positive, funktionierende Selbst – zu verkaufen, griffen experimentelle wie klinische Psychologie auf standardisierte Werkzeuge zurück, um die Person und ihre Gefühle zu erkennen und zu messen.

Im Bereich der Produktion diente die Sprache der Psychologie dazu, die Belegschaften umzugestalten. Vor allem in den 1920er Jahren verzeichneten die klinischen Psychologen, die nicht selten auf der Basis einer vereinfachten Interpretation von Freuds psychodynamischen Theorien operierten, große Erfolge in der Armee bei der Rekrutierung von Soldaten und der Heilung von Kriegstraumata. Die Unternehmen griffen auf die Psychologie zurück, um Arbeitnehmer zu beurteilen, das zwischenmenschliche Klima in den Unternehmen zu verbessern und die Produktivität zu erhöhen.

Mit Hilfe von Persönlichkeitstests, wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt worden waren5 und von da an ein zentrales Element des amerikanischen Organisationswesens bildeten,6 zielten die Psychologen darauf ab, die am besten geeigneten Kandidaten für einen bestimmten Arbeitsplatz zu finden. Dem lag die Annahme einer engen Verbindung zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Arbeitsleistung zugrunde: Von den 1930er Jahren an wurden im Gefolge Elton Mayos – des Begründers der „Human Relations“-Bewegung, die das Management in eine Wissenschaft verwandelte – die Empfindungen von Arbeitnehmern zum zentralen Gegenstand von Managementtechniken. Das emotionale Verhalten wurde in diesem Zusammenhang ein wesentliches Kriterium.7

Es ging also darum, Menschen zu koordinieren und zur Kooperation anzuhalten. Der Wunsch, den Arbeitsprozess disziplinierter und effizienter zu gestalten, hatte für die Führungen von Belegschaften seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein „Problem“ aufgeworfen: Wie leitet man Menschen zur Arbeit an, um das Meiste und Beste aus ihnen herauszuholen? Hatten die Vorarbeiter in kleinen Fabriken zuvor zu verschiedenen Formen von Gewalt gegriffen, um die Arbeiter zur Ausführung anstrengender oder schwieriger Tätigkeiten zu bringen, lehrten die Psychologen jetzt emotionale Beherrschung.

Der neue Manager verkörperte jetzt Effizienz und Rationalität, denn seine wichtigste Funktion bestand nunmehr darin, den menschlichen Prozess wirtschaftlicher Produktivität in Gang zu bringen und zu leiten. Rationalität erforderte die strenge Kontrolle der Gefühle, zumal der negativen. Auch eine heitere Grundeinstellung wurde nachdrücklich angeordnet, weil sie die Kooperation förderte. Freundlichkeit, Teamgeist, positives Denken, Einfühlungsvermögen wurden zu wünschenswerten Fähigkeiten eines Managers, der emotionale und menschliche Interaktionen in ökonomische Produkte umzuwandeln hatte.

Die diversen Managementtheorien, die zwischen den 1930er und 1970er Jahren in populären Leitfäden ausgearbeitet wurden, trafen sich in einem kulturellen Leitmodell, dem der „Kommunikation“. Gut kommunizieren können, ist das, was heute einen guten Manager, Lehrer, Ehemann auszeichnet. Kommunikationsfähigkeit verlangt, dass wir uns selbst „objektiv“ einschätzen. Das heißt: zu wissen, wie wir auf andere wirken. Und das bedeutet, sich der ziemlich komplexen Aufgabe permanenter Selbstbeobachtung zu unterziehen, sich seine Gefühle bewusst zu machen und sie zu benennen – immer mit dem Ziel, das eigene Selbstbild zu evaluieren und mit dem Bild zu vergleichen, das andere von uns haben.

Gut kommunizieren können heißt darüber hinaus, das Verhalten und die Gefühle anderer zu interpretieren und sich einzufühlen: eine entscheidende Fähigkeit, um Konflikte zu vermeiden und Kooperationsketten in Gang zu setzen. Mit „Kommunikation“ wurden Techniken und Mechanismen eingeübt, die überall – von der häuslichen Sphäre bis zur Politik – Anwendung finden sollten, um Beziehungen zu glätten, um die eigenen Interessen zu vertreten und gleichzeitig die Interessen der anderen, ob die des eigenen Kindes, der eigenen Frau oder der Kollegen, „anzuerkennen“. Um diesem Ideal der „Kommunikation“ zu entsprechen, muss man seine Gefühle permanent verbalisieren und intellektualisieren; negative Gefühle muss man überwinden, um positive zu erleben; extreme Gefühle sollen einer gemäßigten Emotionalität weichen, in der die eigene Autonomie und die Fürsorge für andere in einem harmonischen Verhältnis stehen; anpassungsfähige Temperamente sind im Vorteil, weil sie kooperationsfähiger sind; und der Ausdruck von Gefühlen ist dem Gebot, die eigenen Interessen zu wahren und zu verteidigen, nachgeordnet. Gefühle unter Kontrolle zu haben, wurde also von da an als Zeichen der Reife begrüßt und gefördert – denn ein psychologisch reifes Selbst wäre eines, das um seine eigenen Interessen weiß.

Die Vorstellung, dass sich von Gefühlen auf berufliche und soziale Kompetenz schließen lässt, ist nirgends so deutlich geworden wie in dem berühmten Begriff der „emotionalen Intelligenz“, der einen ausdrücklichen Zusammenhang zwischen emotionaler Selbststeuerung, wirtschaftlicher Produktivität und sozialem Erfolg herstellt.

Die modische Vorstellung von der emotionalen Intelligenz

Dieses Konzept entstand in den 1980er Jahren und entwickelte sich rasch zu einem neuen Instrument der Bewertung von Arbeitsleistung. Mit ihm konnten die Psychologen nun die Merkmale einer Welt „entdecken“, die sie selbst mitgeprägt hatten, namentlich den Umstand, dass Gefühle benutzt werden konnten, um Menschen zu evaluieren. Mit der „emotionalen Intelligenz“ war die Behauptung verbunden, dass die Art, wie wir mit Gefühlen umgehen, Wesentliches darüber aussagt, wer wir sind, und dass Gefühle im Gegenzug eine Währung darstellen, die sich in Führungspositionen umtauschen lässt. Damit war das Ende jenes langen Prozesses erreicht, in dem Gefühle dafür instrumentalisiert wurde, ein wirtschaftlich produktives Selbst und eine entsprechende Identität hervorzubringen.

Emotionale Intelligenz – die Fähigkeit zur Selbstkontrolle – wird als Instrument zur Klassifikation von Arbeitnehmern eingesetzt und hat einen stark homogenisierenden Effekt: Menschen besuchen Workshops, um zu lernen, wie man sein emotionales Verhalten gezielt modifiziert; die erzieherische Praxis will Kindern die entsprechende Ausstattung mitgeben, um im Team zu funktionieren. Stets geht es darum, Selbstkontrolle, gute Laune, Einfühlungsvermögen und Flexibilität zu kultivieren. Emotionale Intelligenz und „Kommunikation“ sind austauschbare Begriffe, die derselben Vorstellung einer auf Kooperationsbereitschaft und Effizienz getrimmten Emotionalität anhängen, wie sie entscheidend ist für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.

„In Berufen mittlerer Komplexität (Verkäufer, Mechaniker) ist ein Leistungsträger zwölfmal produktiver als einer aus der Gruppe der schwächsten Mitarbeiter und um 85 Prozent produktiver als ein durchschnittlicher Mitarbeiter. In den komplexesten Berufen (Versicherungsagent, Kundenbetreuer) ist ein Leistungsträger um 127 Prozent produktiver als ein durchschnittlicher Mitarbeiter. Untersuchungen der Kompetenzen in über 200 Unternehmen und Organisationen weltweit besagen, dass ungefähr ein Drittel dieses Unterschieds auf technische Fertigkeiten und kognitive Fähigkeiten zurückzuführen ist, während zwei Drittel auf die emotionale Kompetenz zurückzuführen sind. (In Führungspositionen auf oberster Ebene sind vier Fünftel des Unterschieds auf die emotionale Kompetenz zurückzuführen.)“8

Wir haben es hier mit einem der originellsten Aspekte der Wirtschaft im 20. Jahrhundert zu tun: Die Person und ihre Gefühle sind zur Zielscheibe einer Industrie geworden, deren wichtigster Artikel eben die Person ist. Die Techniken zur Verarbeitung und Handhabung menschlicher Leiden und Konflikte lassen sich theoretisch endlos wiederholen, recyceln und neu konsumieren, weil der Idealzustand nicht definiert ist und sich ständig erweitert. Damit der Mensch immer rentabler werde, haben sie die Seele standardisiert.

Fußnoten: 1 Augustinus, „Bekenntnisse. Confessiones“, Frankfurt am Main (Insel) 1987, S. 15. 2 April Dembosky, „Invasion of the Body Hackers“, Financial Times, 10. Juni 2011,www.ft.com. 3 Wilhelm Wundt, „Grundriß der Psychologie“, Leipzig (Engelmann) 1896. 4 Eva Illouz, „Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2009. 5 Hugo Münsterberg, „Psychologie und das Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur angewandten Experimental-Psychologie“, Leipzig (Barth) 1912. Er entwickelte Persönlichkeitstests für Arbeitnehmer und begründete das Feld der Berufsberatung. 6 Andrew Abbott, „The System of the Professions. An Essay on the Division of Expert Labor“, Chicago (University of Chicago Press) 1988, S. 149. 7 Heute gibt es 2 500 verschiedene Persönlichkeitstests, an denen eine 400-Millionen-Dollar-Industrie hängt. Vgl. Annie Murphy Paul, „Cult of Personality“, New York (Free Press) 2004. 8 Cary Cherniss, „The Business Case for Emotional Intelligence“, New Jersey 1999, www.eiconsortium.org/reports/business_case_for_ei.html, zitiert nach: Illouz, siehe Anmerkung 4, S. 352 f. Aus dem Englischen von Michael Adrian Eva Illouz ist Professorin für Soziologie und Anthropologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Auf Deutsch ist soeben von ihr erschienen: „Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung“, Berlin (Suhrkamp) 2011.

Le Monde diplomatique vom 11.11.2011, von Eva Illouz