09.11.2007

Natürlich war der Sozialismus in Russland unmöglich

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Natürlich war der Sozialismus in Russland unmöglich

Über die Verwandlung einer revolutionären Partei in eine Klasse von Buchhaltern von Moshe Lewin

Die Oktoberrevolution des Jahres 19171 hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt. Sie war Anlass zu zahlreichen Polemiken, zu Rechtfertigungen und ideologischen Proklamationen, zu triumphalistischen Bildern und kategorischen Verdammungen, die sich für viele Beobachter mit der Wirklichkeit vermengen. Die Zählebigkeit solcher subjektiven Wahrnehmungen, die sich auf das Ausgangsereignis, den Sturm auf das Winterpalais, beziehen, hat dazu beigetragen, die Realität zu verdecken. Im Revolutionsjahr selbst waren vor allem zwei Faktoren bestimmend: die Umwälzung aller führenden Strukturen (Armee, Polizei, Staatsapparat, Wirtschaftskreise, Überzeugungen und Wahrnehmung des politischen Lebens) sowie ein Chaos, das für die weiteren Entscheidungen der Bolschewiki schwerwiegende Folgen haben sollte.

Jedes gegenwärtige oder untergegangene System muss unter der Fragestellung analysiert werden, ob es aus sich heraus (noch) lebendige Kräfte entwickelt, wie es zu inneren Reformen fähig, also in der Lage ist, durch die Korrektur gefährlicher Entwicklungen zu neuer Vitalität zu finden. Ideologien machen häufig blind, weil sie das Prinzip der Selbstverherrlichung praktizieren. Unter ihrem Einfluss merken die Menschen nicht mehr, wenn die Ordnung, in der sie leben und leben wollen, nach ganz anderen Regeln zu funktionieren beginnt, weil sich destruktive ökonomische und soziale Kräfte entwickelt haben, die diese Ordnung ihrer Substanz berauben und von ihr nur noch die äußere Form übrig lassen. Das Ganze erinnert dann an eine Theateraufführung, bei der das Bühnenbild und die Handlung völlig auseinanderfallen: Das Bühnenbild gehört zu einem Stück aus einer Epoche, während die Handlung ganz woanders spielt.

Krisen und Zerfallsperioden sind ein untrennbarer Bestandteil des historischen Prozesses, die oft das Ende einer Ära oder eines Systems anzeigen. Wenn in einer solchen Krisensituation bestimmte (innere oder äußere) Kräfte existieren, kann es sein, dass ein neues Kapitel aufgeschlagen wird, das zuweilen den Titel „Revolution“ trägt.

Warum die Bolschewiki an der Revolution nicht „schuld“ waren

Im Gegensatz dazu schreiben zahlreiche Autoren, die Revolution sei von den Bolschewiki „gemacht“ worden, wobei häufig mitgedacht ist, diese seien an der Revolution „schuld“. Diese Lesart zeugt von totaler Unkenntnis der russischen Verhältnisse im September und Oktober 1917: Die Staatsmacht war völlig gelähmt, überall drohten Bauernaufstände, das ganze Land trieb auf den Bürgerkrieg zu. Kurz: Es herrschte ein allgemeines Chaos. Die Revolution war nur eine Antwort auf dieses Chaos und auf die Aussicht, dass sich die Staatsnation Russland schlicht hätte auflösen können.

Es war also keineswegs so, dass die Revolution, die Krise auslöste, sondern umgekehrt: Eine abgrundtiefe Krise wurde durch die Revolution unter Führung der Bolschewiki bewältigt, nachdem die anderen Kräfte bei ihrem verzweifelten Bemühen, die Lage unter Kontrolle zu bringen, die Krise nur noch vertieft hatten. Das offizielle politische System, symbolisiert durch die nach dem Sturz des Zarismus im Februar 1917 eingesetzte provisorische Regierung, war in dieser Situation auf eine Fassade reduziert, „erschöpft“, am Ende. Eine Staatsmacht war nur zum Schein vorhanden.

Der Gedanke, die Bolschewiki hätten irgendjemandem „die Macht entrungen“, geht völlig an der Realität vorbei: Niemand besaß irgendwelche Macht, die man ihm hätte wegnehmen können. Die Bolschewiki mussten sich die Macht vielmehr erst schaffen. Wie Lenin später schrieb, hatten die Bolschewiki anfangs nichts als Parolen wie „Sozialismus“, „Revolution“, Abschaffung von Privilegien und Titeln (der Aristokratie, der Bürokratie). Zum entscheidenden Erfolgsfaktor wurde ihr Aufruf an die Bauern, sich das Land anzueignen, das sie bestellen. Hätte die provisorische Regierung diese Maßnahme beschlossen, hätte sie sich womöglich noch retten können, doch die hielt es mit den Grundbesitzern. Im Übrigen war sie überzeugt, dass der Sozialismus unmöglich sei – eine richtige Annahme, die dennoch zu einer falschen Schlussfolgerung führte.

Natürlich war der Sozialismus in Russland unmöglich, aber die Führung der provisorischen Regierung weigerte sich zu begreifen, dass eine bürgerlich-demokratische Revolution genauso unmöglich war. Hier liegt das eigentliche Drama der politischen Kräfte, die zwischen Februar und November 1917 die Regierungskoalitionen stellten: Als sich das Chaos ausbreitete, konnten sie es weder begreifen noch unter Kontrolle bringen. Die Bolschewiki hingegen schritten zur Tat und gewannen am Ende die Oberhand. Doch angesichts der Heftigkeit der Krise und der grundsätzlichen Unsicherheiten, die ein völliger Umsturz der Gesellschaft mit sich bringt, ließen sie sich damit auf ein erhebliches Risiko ein.

Die siegreiche Partei war anfangs nur nominell an der Macht. Angesichts des massenhaften Zustroms neuer Mitglieder und der drängenden Probleme konnten die Bolschewiki ihre Regierungsaufgaben nicht bewältigen, auf die sie weder organisatorisch noch durch ihre vorrevolutionären Erfahrungen vorbereitet waren. Und die innerparteiliche Demokratie, die tatsächlich existiert hatte, konnte die Umwälzung nicht überleben. Das lag weniger an dem folgenden Bürgerkrieg als an dem Druck, der von den zahllosen Aufgaben in der Verwaltung und beim Aufbau des Staates ausging. Unmittelbar vor der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik, die 1921 nach dem „Kriegskommunismus“ eine Erholungspause bringen sollte, begriff Lenin, dass er eine neue Partei aufbauen musste. Damit war der Bolschewismus, der sich während des Bürgerkriegs noch als handlungsfähig erweisen hatte, nur noch ein Phantom.

Mit dem Ende des Bürgerkrieges begann ein neues Stück, allerdings vor denselben Bühnenkulissen. Die Bolschewiki übernahmen die Macht, aber viele Autoren beschwören nur ein Gespenst, wenn sie weiterhin von „Bolschewiki“ sprechen. Das neue Stück könnte den Titel tragen: Die Verwandlung einer revolutionären Partei in eine Klasse von Buchhaltern.

Vor diesen Kulissen standen sich zwei Szenarios gegenüber, die den Geist des aus der Revolution hervorgegangenen Systems unterschiedlich definieren wollten. In meinem Buch „Le Siècle soviétique“ habe ich gezeigt, dass der Konflikt zwischen Lenin und Stalin ein Zusammenstoß zweier zutiefst konträrer politischer Programme war – und nicht ein Konflikt zwischen zwei Fraktionen innerhalb derselben Partei. In diesem Konflikt unternahm Lenin den Versuch, ein Programm für ein neues politisches Lager zu definieren, das an die aus dem Bürgerkrieg hervorgegangene völlig neue Situation angepasst war. Sein Gegner Stalin schickte sich dagegen an, sein eigenes Konzept von einem Staat (unter seiner Ägide) zu definieren. Dieses Staatskonzept beruhte auf Prämissen, die nichts mit dem Bolschewismus zu tun hatten und vornehmlich seine Vision persönlicher Macht ausdrückten. Wobei diese Vision von seinen Ideen über die Geschichte Russlands geprägt war – und über die Implikationen dieser Geschichte für die Gegenwart. Die Programme, die sich in den Jahren 1922 und 1923 vor allem in der Debatte über die Gründung der UdSSR2 diametral gegenüberstanden, schlossen sich gegenseitig aus. Dieser Kampf der Programme endete mit der Krankheit und dem darauffolgenden Tod Lenins im Januar 1924.

Der Stalinismus war ein nicht reformierbares System

Am Stalinismus3 lässt sich exemplarisch zeigen, was das Altern eines Systems bedeuten kann. Dabei stellt sich die Frage, ob seine Zählebigkeit nicht sogar durch seine Reformunfähigkeit „genetisch vorbestimmt“ war. Denn der Stalinismus konnte nichts anderes sein als das, was er war und zu bleiben verdammt war: ein auf höchste Sicherheit bedachtes System, das für und um einen Autokraten herum entstand. Ein solches System ist nicht reformierbar, was auch erklärt, weshalb der Stalinismus unter dem Einfluss der Wandlungsprozesse, die sich gerade infolge der Politik des Staates in der Gesellschaft vollzogen hatten, sich nur sein eigenes Grab schaufeln konnte.

Stalins permanenter Kampf gegen die revolutionäre Vergangenheit erklärt sich damit, dass ihm diese Vergangenheit keine Sicherheit bot. Er hatte ihre Lehren nicht befolgt, ja er handelte ihnen sogar zuwider, wie sein Kampf für eine chauvinistisch-großrussische Sowjetunion zeigte.

Stalins Suche nach einer Vergangenheit, die ihm besser ins Konzept passte, ist damit ebenso wenig überraschend wie die Tatsache, dass er sich bei seinen Vorstellungen über die künftige Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken auf das Erbe des autokratischen Zarenreiches berief. Nur der Zarismus verschaffte ihm die Legitimität, nach der er strebte, denn der Zar hatte seine Macht unmittelbar – also ohne Vermittler – von Gott bezogen und abgeleitet.

Erstaunlicher ist schon, dass Stalin während des Zweiten Weltkriegs und nach 1945 systematisch an ideologische Strukturen des zaristischen Russland anknüpfte – unter völliger Missachtung der allzu bekannten Tatsache, dass dieses Regime während des Ersten Weltkriegs seine Möglichkeiten völlig erschöpft hatte. Der Kremlherrscher war sich anscheinend nicht bewusst, dass das Modell, das er übernehmen wollte, an seinen ständigen inneren Krisen zugrunde gegangen war.4

Ein ähnliches Schicksal widerfuhr dem Regime Stalins paradoxerweise genau in der Zeit, da es für die ganze Welt auf dem Höhepunkt seines Ruhms zu stehen schien, nach der Niederwerfung des Nazismus. Das System trat in eine Phase des Niedergangs, während sein Chef als Führer einer siegreichen Supermacht auftreten konnte. Doch diese Supermacht stand auf tönernen Füßen, was alle Gefährten Stalins damals wussten.

Dieser Punkt ist von Bedeutung. Das Zarenregime hatte keinen Erlöser, keinen legitimen und fähigen Erben. Das Regime Stalins hatte einen solchen in Gestalt der Gefährten Stalins, die ungeduldig auf den Moment warteten, in dem sie das System – mit seinen absurden Funktionsstörungen – wiederbeleben konnten. Auf den ersten Blick sah es damals nicht so aus, als habe die UdSSR noch eine Periode spektakulärer Entwicklung vor sich: Stalin hatte gerade erst die „Kosmopoliten“ denunziert, die sich „vor dem Westen niederwerfen“, die Nomenklatura hatte wieder Uniform anziehen müssen, jüdische Intellektuelle waren liquidiert und hohe Funktionäre ermordet worden (Ärzte-Prozess5 und Leningrad-Affäre6 ).

Tatsächlich aber machten sich Stalins Nachfolger, die als Vollblut-Stalinisten galten oder es tatsächlich waren, an die Arbeit, um den Dreck wegzuräumen, den sie dem Kremlherrscher zu verdanken hatten. Und sie taten dies ziemlich rasch und auf radikale Weise, indem sie eine Reihe wichtiger Reformen einleiten, die 1956 auf dem 20. Parteitag der KPdSU konkret beschlossen wurden.

Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen – und damit viele schockiert –, dass die Abschaffung des Gulag eine der ersten Maßnahmen der poststalinistische Führung gewesen ist. Und ich bestehe darauf, dass ein entscheidender Unterschied besteht zwischen dem Gulag unter Stalin, der ein militärisch-industrieller Komplex des Innenministeriums war, und dem von Grund auf reformierten Lagersystem, das in der Periode nach Stalins Tod weitergeführt wurde.7

In diesem Punkt stellt sich die Frage, warum man im Westen immer so sehr auf den Gulag fixiert ist, also ohne Weiteres den Diskurs akzeptiert hat, der den Gulag mit dem sowjetischen System gleichsetzte, das damit zum Reich des absoluten Bösen wurde. Der Verfechter dieser These, Alexander Solschenizyn, wurde im Westen als Prophet begrüßt – und das, obwohl er eine reaktionäre Ideologie vertrat. Solschenizyn hasste die Sozialdemokraten, die sich um die Zeitschrift Nowy Mir und deren Redakteur Alexander Twardowski zusammengefunden hatten und war ein geschworener Feind der westlichen Demokratie. Vielleicht war dieser Prediger einer mittelalterlichen Orthodoxie notwendig, um das ideologische Vakuum des Kalten Krieges auszufüllen.

Das vorzeitige Altern des bürokratischen Zentralismus

Mit der sogenannten Stagnationsperiode, die Ende der 1960er-Jahre einsetzte, begann eine weitere Phase des Niedergangs. Hier stellt sich eine neue Frage: Wie hat das Auftreten wichtiger Faktoren des sozialen Wandels – wie die Urbanisierung und die Modernisierung des Landes in großem Maßstab – zu den widersprüchlichen Orientierungen innerhalb des Systems beigetragen? Zwar blieben die Teile der Bevölkerung, die in den ländlichen Gebieten lebten, weiterhin wichtig, doch die Mehrheit der Bürger lebte in Städten, erwarb einen höheren Bildungsgrad und war mit neuen Technologien vertraut. Auch der Status der Frauen hatte sich stark verbessert. Indirekt machte sich diese gründliche Transformationen der Gesellschaft auch auf dem Lande bemerkbar, wo die Menschen ebenfalls einen städtische Lebensstil übernahmen.

Diese Dynamik brachte eine relativ neue städtische Gesellschaft hervor. Die Urbanisierung war „jung“, der bürokratisierte Staat dagegen „alt“ oder genauer: vorzeitig gealtert. Der sowjetische Staat war total bürokratisch und praktizierte einen strikten, von oben nach unten funktionierenden Zentralismus. Gleichwohl war die Macht an der Spitze völlig abhängig von der bürokratischen Maschinerie und vor allem von der Ministerialbürokratie. Der war es gelungen, sich zum Verhandlungspartner der politischen Spitze zu machen, wobei diese Verhandlungen immer häufiger zu ihren Gunsten ausgingen. Am Ende hatten sie es nicht einmal mehr nötig, auf die Befehle der Spitze zu reagieren. Diese bürokratische Maschinerie verwandelte sich in ein Ungeheuer, das nur noch seiner eigenen Logik gehorchte und das System an den Abgrund führte.

Der entscheidende Punkt ist nun, dass das Zentrum die Macht verlor und außerstande war, die Ereignisse zu kontrollieren. Damit wurde es unfähig, das zu tun, was Systeme tun müssen, um nicht unterzugehen: Reformen einleiten, sich an Veränderungen anpassen, die Strategie und die politische Orientierung ändern, neue Verbündete gewinnen und die Haupthindernisse aus dem Weg räumen. Das System hatte sich entpolitisiert und jede Durchsetzungsfähigkeit verloren. Das Symbol für diesen Zustand war Leonid Breschnew, der als Generalsekretär in tiefster Agonie lag oder praktisch schon tot war.

Eine solche Entpolitisierung im Sinne des Verlusts jeglicher Fähigkeit, Politik zu treiben, war nicht nur ein Symptom. Sie zeigte vielmehr an, dass der point of no return erreicht war. Sie bestätigte, dass es keine „führende Partei“ mehr gab, zumindest nicht im Sinne einer Organisation, die zu stringentem politischen Handeln fähig gewesen wäre. Eine solche Partei wäre niemals in eine derart jämmerliche Abhängigkeit von Funktionären der unterschiedlichsten Verwaltungen geraten, die ausschließlich ihre eigenen Interessen pflegten und eine gigantische Armee von Leitern befehligten, die damit beschäftigt waren, die angeblich von ihnen verwalteten Unternehmen zu „privatisieren“.

Analytiker, Planer und Schriftsteller warnten und prophezeiten die Katastrophe, aber die Spitze war gelähmt. Von Ende der 1960er- bis in die 1980er-Jahre hinein galt jede Bewegung, in welcher Richtung auch immer, als verhängnisvoll. Die weit verbreitete Legende, nach der die Sowjetunion infolge der unerträglichen Kosten zusammengebrochen sei, die der Kalte Krieg und der Rüstungswettlauf verursacht hatten, ist – zurückhaltend formuliert – eine Fehldiagnose. In dem interessanten Intermezzo mit Juri Andropow (Generalsekretär der KPdSU von 1982 bis 1984) gab es Anzeichen dafür, dass sich das System hätte repolitisieren und dringende Reformen auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet vorantreiben können. Die Voraussetzungen für den Erfolg waren da.

Aus dem Scheitern des sowjetischen Systems lassen sich zahlreiche Erkenntnisse über Systeme im Allgemeinen gewinnen: wie sie sich verändern, zu viel versprechen, altern, in Krisen geraten. Der Begriff „altern“ geht davon aus, dass ein System verschiedene Stadien durchläuft, in denen es eine gewisse Dynamik entwickelt, gefolgt von Perioden der Stagnation und des Niedergangs und von wieder neuen dynamischen Phasen. Diese Perioden lassen sich als Glieder einer Kette ansehen, solange sich das System noch als solches identifizieren lässt und Überlebenschancen hat.

Welche Aussagekraft diese Kategorien und Überlegungen haben, lässt sich anhand eines Vergleichs zwischen der UdSSR und China anschaulicher machen. Zwischen beiden Systemen gibt es unbestreitbar gewisse Parallelen, denn sowohl unter Mao Tse-tung als auch unter Stalin hat es einen „großen Sprung nach vorn“ gegeben, dem in beiden Ländern Perioden der Stagnation und des Niedergangs und dann wieder gewisse Formen des Aufschwungs gefolgt waren. Dennoch haben sich in beiden Systemen ganz unterschiedliche Entwicklungen vollzogen.

Sozialismus ist Demokratie ohne Kapitalisten und Bürokraten

Obgleich das sowjetische System viel weiter entwickelt war, blieb es in einer Phase der Stagnation stecken und erwies sich als unfähig, weitreichende Reformen anzustoßen, die nicht nur zwingend nötig waren, sondern für die das Land auch bereit war. Das chinesische System hingegen zeigte sich imstande – trotz nur geringfügiger Unterschiede zum Regime Stalins – spektakuläre Reformen durchzuführen. Dabei war es weit repressiver und praktizierte eine striktere soziale Kontrolle als das sowjetische System in derselben Epoche. Das zeigt, dass das Problem nicht bei den viel geschmähten „kommunistischen Regimes“ liegt, sondern dass es darauf ankommt, ob ihre Führungsgruppen in entscheidenden Phasen fähig sind, das System grundlegend zu reformieren.

Der sozialistische oder zumindest emanzipatorische Charakter der Oktoberrevolution steht außer Frage. Aber kann man auch von einem sozialistischen Sowjetstaat sprechen? Das lässt sich schwerlich vertreten. Die Tatsache, dass der Staat selbst sich als „sozialistisch“ bezeichnete und an seiner Spitze eine „kommunistische“ Partei stand, hat nicht mehr Beweiskraft als Parolen und offizielle Plakate. Der Sozialismus ist eine Form der Demokratie, die über alle Formen hinausgeht, die in der kapitalistischen Welt möglich sind. Damit ist noch nichts über die Art von Wirtschaftssystem gesagt, das eine solche Demokratie installieren könnte, zumindest aber kann man sagen, dass ein solches System ohne Kapitalisten und ohne Bürokraten auskommen und in den Händen der Gesellschaft liegen muss.

Aber man kann vielleicht grundlegende Elemente eines solchen Systems herausarbeiten, wenn man über das sowjetische Beispiel nachdenkt – über einen Staat also, der sich großmäulig als sozialistisch proklamierte und von einer kommunistischen Partei gelenkt wurde. Diese Proklamationen waren – wie die Mythen, die andere Staaten unter die Leute bringen wollen – ein unentbehrliches Mittel, um das System vor seinem eigenen Volk und vor der Weltmeinung zu legitimieren. Doch die Parolen hielten der Prüfung durch die Wirklichkeit nicht stand, und das nicht nur im Ausland, sondern auch in Russland selbst. Hier existierte nach der Stalin-Zeit durchaus eine städtische, entwickelte, gebildete Gesellschaft mit zahlreichen qualifizierten Leuten, die in allen Bereichen Erfahrungen gesammelt und auch Fähigkeiten entwickelt hatten, und zwar auch solche, die für die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten erforderlich sind. Eine solche Gesellschaft konnte das Gerede vom „Sozialismus“ einfach nicht ernst nehmen.

Das eigentliche Drama besteht darin, dass die Last der Geschichte nicht abgeworfen wurde und nicht abzuwerfen ist. Das bürokratische Gestrüpp, das schon das zaristische Russland überwuchert hatte, erblühte nach der Revolution in neuen Formen, die sich den sowjetischen Realitäten angepasst hatten.

Doch alles Lamentieren bringt nichts. Der Sowjetstaat ist nach wie vor eine Herausforderung zu ernsthaftem historischem Studium. Eines allerdings steht fest: Dieser Staat war nicht sozialistisch. Aber die Menschen, die den Oktober getragen haben, waren Sozialisten. Die Ideen, an die sie glaubten und die sie in die Praxis umsetzten, sind heute immer noch so vital wie damals, als sie sich mitten im Zusammenbruch eines Landes und angesichts der Auflösung einer Nation dafür einsetzten, Russland erneut zu einem Akteur der Geschichte zu machen.

Fußnoten: 1 Die Eroberung der Macht (für die als Symbol das Winterpalais im damaligen Petrograd stand, in dem die provisorische Regierung ihren Sitz hatte) fand in der Nacht vom 6. zum 7. November nach dem gregorianischen Kalender statt, der in Russland einige Monate später eingeführt wurde. Bis dahin verwendete man in Russland den julianischen Kalender, nach dem die bolschewistische Revolution im Oktober stattfand. 2 In der Debatte über die künftige UdSSR steht Lenin, der (unterstützt von den wichtigsten Führern, von Sinowjew bis Trotzki) für eine „Föderation“ eintritt, die den nichtrussischen Republiken zahlreiche Rechte zugesteht (nur für die Außenpolitik und das Militärwesen sollte die Zentralmacht zuständig sein), im Gegensatz zu Stalin, der die Idee einer Konzentration der Kräfte im Zentrum vertritt, wobei den nichtrussischen Republiken nur eine Scheinautonomie gewährt wurde. Aus dieser Kontroverse stammt Lenins Vorwurf gegen Stalin, er sei der Fortsetzer des großrussischen Chauvinismus. Vgl. hierzu „Le Siècle soviétique“, S. 35–51. 3 Unter Stalinismus verstehe ich einzig und allein die Periode, in der Stalin an der Macht war. 4 Nicht erstaunlich ist auch, dass Stalins historische Lieblingsfigur Iwan der Schreckliche war (der als Zar Iwan IV. von 1574 bis 1584 regierte), also ein blutiger Tyrann, der das Land in eine dunkle Phase politischer Wirren gestürzt hatte. 5 Zur Unterdrückung der sowjetischen Juden, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzt und 1953 mit dem Verschwörungsvorwurf Stalins gegen die (jüdischen) Ärzte ihren Höhepunkt erreicht: Laurent Rucker, „Staline, Israël et les Juifs“, Paris (Presses universitaires de France) 2001. 6 1950 werden alle alten Führer der Partei und der Verwaltung von Leningrad hingerichtet. Der Hauptangeklagte ist Alexei Kusnezow, den Stalin zum Sekretär für die Parteikader ernannt hatte. In dieser Eigenschaft galt Kusnezow als potenzieller Nachfolger Stalins. Der stellvertretende Ministerpräsident und Leiter des Gosplan, Nikolai Wosnessenski, gehört ebenfalls zu den Opfern. 7 Vgl. „Le Siècle soviétique“, S. 151–166 und 204–222.

Aus dem Französischen von Martin Pfeiffer Moshe Lewin, 1921 im damals polnischen Wilna geboren, studierte in Israel und Frankreich. Er lehrte in Paris und Birmingham und zuletzt an der University of Pennsylvania Geschichte und ist unter anderen Autor von „Lenins letzter Kampf“, Hamburg (Hoffmann und Campe) 1970, (mit Ian Kershaw) „Stalinism and Nazism“, Cambridge (Cambridge University Press) 1997. „Le Siècle soviétique“, Paris (Fayard/Le Monde diplomatique 2003) erschien 2005 auch auf Englisch: „The Soviet Century“ (Verso).

Le Monde diplomatique vom 09.11.2007, von Moshe Lewin