Mehr Recht für eine neue WTO
Gesucht: Ein Hebel gegen den Protektionismus der Starken von Monique Chemillier-Gendreau
Die Globalisierung ist nur in einem multilateralen Rahmen zu beherrschen. Ein solcher wurde zwar nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen, hat inzwischen jedoch an Bedeutung verloren. Die Öffnung der Welt für den Handel wurde mit dem Instrument der Meistbegünstigungsklausel erzwungen. Diese basiert zwar auf Gegenseitigkeit und scheint insofern auf das Gleichheitsprinzip zu setzen, in Wirklichkeit nützt sie aber nur denen, die bereits dominierende Positionen besetzen. Als in den Wirren der Nachkriegsjahre das Projekt einer internationalen Handelsorganisation gescheitert war, bot das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) eine Notlösung. 1994 wurde es in die Welthandelsorganisation (WTO) umgewandelt, womit das Freihandelsprinzip erneut bestätigt wurde.
Angesichts massiver Ungleichheiten zwischen den Ländern ist der Freihandel jedoch nur ein Deckmantel für einen Protektionismus zugunsten der Stärksten. Mittlerweile hat das weltweite Wachstum das Bild von Arm und Reich verändert, insbesondere durch den Machtzuwachs von China und Indien, während in den Industrieländern trotz steigender Wachstumsraten große Teile der Bevölkerung im Zuge der ungezügelten Globalisierung zu verarmen drohen.1 Ein weiteres Problem besteht darin, dass Handelsbeziehungen, die ja von den Wechselkursen der Währungen beeinflusst werden, zur Verschuldung einzelner Länder führen können. Die globale Gesellschaft braucht mithin geeignete Regeln, die von global organisierten, demokratischen Instanzen beschlossen werden.
Das Paradoxe an dieser Situation liegt darin, dass die oft kritisierte WTO immerhin einen großen Schritt in Richtung multilateraler Strukturen darstellt. Hier haben alle Staaten das selbe Stimmrecht – im Gegensatz zu den Vereinten Nationen (UNO), zum Internationalen Währungsfonds (IWF) oder zur Weltbank, deren Abstimmungsverfahren die reichen Länder begünstigen. Zudem laufen die Debatten unter den Augen der Öffentlichkeit, was zu Zeiten des Gatt nicht der Fall war. Eine internationale Handelsgerichtsbarkeit ist entstanden, die allmählich Rechtsprinzipien entwickelt.
Die ärmsten Länder haben die Möglichkeit entdeckt, sich in der WTO gegen die stärksten zu verbünden. Das haben sie zum Beispiel dazu genutzt, um die Verhandlung in Cancún zu blockieren und damit auch die nachfolgende Doha-Runde2 zu lähmen. Doch das herrschende Kräfteverhältnis erlaubt ihnen nicht, noch weiterzugehen, und die festgefahrene Situation begünstigt die Rückkehr zu bilateralen oder regionalen Verträgen. Was fehlt, ist also ein stimmiges globales Projekt, das die Entwicklung des Handels mit dem sozialen und ökologischen Gleichgewicht in Einklang brächte.
Während auf politischer Ebene eine gewisse Lähmung herrscht, erfahren die rechtlichen Instanzen, die von den Medien weniger beachtet werden, einen ständigen Machtzuwachs. Eine der wichtigsten Änderungen der Reform von 1994 war die Schaffung des WTO-Streitschlichtungsorgans, das eine echte juristische Funktion hat, weil es mit bindender Wirkung entscheidet. Von diesem Organ machen die Entwicklungsländer zunehmend Gebrauch, während sich die USA immer häufiger in die Defensive gedrängt sehen. Washington hat deshalb vor kurzem vorgeschlagen, den Interpretationsspielraum, den die Richter nutzen können, stärker einzuengen. Das zeugt von einigem Verdruss über geschrumpften Einfluss auf eine Justiz, die für die Handelsbeziehungen nach und nach neue allgemeine Prinzipien entwickelt, und zwar ohne Rücksicht auf die Macht oder Bedeutung der jeweiligen Kläger.
Aufgrund der Rechtsprechung der letzten zehn Jahre kann man heute die Arbeit des Streitschlichtungsorgans einer Bewertung zu unterziehen.3 In diesem Zeitraum wurden 350 Klagen eingereicht. Dabei überwogen in den ersten Jahren die Kläger aus entwickelten Länder, die zu einem gütlichen Vergleich kommen wollten. Doch zunehmend wird der Mechanismus auch von Entwicklungsländern und speziell von sogenannten Schwellenländern genutzt, um die Großen in die Knie zu zwingen, zum Beispiel im Streit um die Subventionierung der Baumwoll- oder der Zuckerproduktion.4 In diesen Verfahren wird zwischen zwei Staaten vermittelt, deren Handelsstreitigkeiten auf der Basis von bereits vorliegenden Vereinbarungen beigelegt werden sollen.
Doch hinter der staatlichen Fassade verbergen sich häufig starke private Interessen. Im Übrigen möchte die Zivilgesellschaft an den Debatten beteiligt werden. Sie hatte sich schon beim Gipfel von Seattle im Jahr 1999 selbst eingeladen und lautstark eingemischt. Das ständige Berufungsorgan des Schiedsgerichts hat vorläufig zugelassen, dass ihm auch Berichte von nichtstaatlichen Akteuren vorgelegt werden können. Damit wird es Nichtregierungsorganisationen (NGOs) möglich, ihre Positionen vorzutragen, die häufig die Interessen der südlichen Länder verteidigen. Allerdings können vor diesem Gremium auch Lobbyisten von Unternehmen oder Berufsverbänden ihre Positionen darstellen. Und auch die Richter haben eine vorsichtigere Haltung entwickelt und beschlossen, dass vorgetragene Amicii curiae5 (also Erwägungen von NGOs) nicht mehr in ihre Entscheidung einfließen dürfen.
Die wesentlichen Akteure sind jedoch nach wie vor Staaten; und Ziel der Verfahren ist, den Mitgliedsländern den Zugang zu den verschiedenen nationalen Märkten zu erleichtern, wobei alle die selben Rechte und Pflichten haben sollen. Recht ist hier, wie sonst auch, nichts anderes als die schwierige Suche nach Objektivität angesichts subjektiver Forderungen, die häufig ziemlich weit hergeholt sind. Da die beteiligten Partner eine gemeinsame Wertebasis akzeptieren, tragen solche Schiedsverfahren zum Aufbau einer politischen Gemeinsamkeit bei. Aber das Ganze funktioniert nur unter bestimmten Voraussetzungen, deren wichtigste der Bezug auf gemeinsame und vorweg vereinbarte Standards ist.
Im Fall der WTO handelt es sich um Handelsabkommen, die das Resultat von Verhandlungsrunden sind und die gegebenen Machtverhältnisse zuweilen sehr krude widerspiegeln. Zu Gatt-Zeiten (also bis 1994) haben die Mitglieder des Schiedsgerichts diese Abkommen ohne Bezug auf übergeordnete Rechtsgrundsätze angewendet, womit die Schwächsten in die Ecke gedrängt wurden. Das ist heute anders. Das unglaubliche Dickicht von Bestimmungen, zu dem sich die WTO-Verträge nach so vielen Verhandlungsrunden verdichtet haben, wirft ständig neue Interpretationsprobleme auf. Deshalb müssen die Richter nun, um die Rechte und Pflichten der Mitglieder gemäß der WTO-Abkommen zu erhalten – ohne sie auszuweiten oder zu schmälern –, die Bestimmungen dieser Abkommen nach den Regeln des internationalen Rechts interpretieren.6 Das bedeutet, dass in Zukunft allgemeine Rechtsgrundsätze – wie das Prinzip des Widerspruchs oder der angemessenen Frist – etwas mehr Rechtssicherheit ermöglichen.
Die wichtigste Errungenschaft ist aber sicher der verbindliche Charakter der Verfahren und Entscheidungen. Dazu muss man wissen, dass der Zugang zum Internationalen Gerichtshof (IGH), der ein Organ der Vereinten Nationen ist, oder zum Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) voraussetzt, dass die involvierten Staaten die Zuständigkeit des IGH oder des IStGH anerkennen. Bei der WTO hingegen können sich die betroffenen Staaten der Justiz nicht entziehen und müssen die Entscheidungen umsetzen, andernfalls drohen Sanktionen. Allerdings hat der US-Kongress das Abkommen von Marrakesch nur unter dem Vorbehalt ratifiziert, dass die USA bei mehrmaliger Verurteilung aus dem System aussteigen würden, was sie allerdings trotz mehrfacher Niederlagen noch nicht getan haben. Hier eröffnen sich also durchaus neue Möglichkeiten, aber es wären noch weitere Verbesserungen zu wünschen. So könnte man die Staaten verpflichten, die im multilateralen Kontext geltenden – und in Rechtsverfahren präzisierten – Regeln auch im Rahmen bilateraler oder regionaler Vereinbarungen anzuwenden.
Bei der Bewertung der Regeln des internationalen Handels haben sich einige Kriterien von allgemeinem Interesse herausgebildet. Eine Analyse der Fälle, die derzeit verhandelt werden, ergibt zudem, dass nicht alle Kämpfe vergeblich waren.7 Zu den symbolischen Siegen zählt etwa die erfolgreiche Klage Perus gegen die Europäische Gemeinschaft (Urteil vom 26. September 2002). Danach darf Europa die Bezeichnung „Sardine“ nicht mehr für die im Atlantik gefangene Sardina pilchardus monopolisieren und als Handelshindernis gegen die Sardinops sagax des Ostpazifik benutzen. Auch Pakistan konnte eine Verurteilung der Vereinigten Staaten erwirken. Washington hatte Schutzmaßnahmen gegen den Import von gekämmtem Baumwollgarn eingeführt, die in keinem Verhältnis zu dem erlittenen Schaden standen, der zudem nicht ausschließlich Pakistan angelastet werden konnte (Urteil vom 8. Oktober 2001).
Ähnlich gelagert war der Streit zwischen Costa Rica und den USA über den Import von Bekleidung und Unterwäsche aus Baumwolle und Synthetikfasern (Urteil vom 10. Februar 1997). Ein letztes Beispiel ist das Urteil gegen die USA wegen des Byrd-Amendment, das Entschädigungen von US-Produzenten aus den Einnahmen von Importzöllen vorsah, die gegen angeblich subventionierte ausländische Dumpingprodukte verhängt wurden. Mit diesem Urteil (vom 16. Januar 2003) erreichte eine große Koalition von Staaten, dass die USA ihre Gesetzgebung am internationalen Handelsrecht ausrichten müssen.
Bestätigt wurde dagegen das Verbot der französischen Justiz, Asbest wegen seiner Schädlichkeit auf dem internationalen Markt anzubieten. Und in derselben Sache wurde die Klage Kanadas abgewiesen, das im Asbestverbot ein Hindernis für den Marktzutritt seiner Produkte erkennt. Auch hier wurde dem Schutz der Gesundheit Vorrang eingeräumt (Urteil vom 12. März 2001). Im Fall der Subventionen der US-amerikanischen Baumwollproduzenten bekam Brasilien recht, das gegen diese schwere Benachteiligung geklagt hatte (Urteil vom 3. März 2005). Ein ähnliches Urteil (vom 14. Januar 2002) erging gegen die versteckten Subventionen für US-Firmen, die diese in Form von Steuervorteilen für ihre Vertriebsgesellschaften im Ausland bezogen. In diesem Fall erreichten die Europäischen Gemeinschaften (die Organe der EU), dass die größte globale Handelsmacht ihren lang anhaltenden Widerstand schließlich aufgab.
Die Europäischen Gemeinschaften selbst wurden aufgrund der Klage Australiens, Brasiliens und Thailands wegen ihrer Subventionen für Zuckerproduzenten verurteilt (28. April 2005). Verurteilt wurden auch protektionistische Maßnahmen der USA. Das gilt für die Importrestriktionen für frisches und gefrorenes Lammfleisch aus Neuseeland und Australien (Urteil vom 1. Mai 2001) wie auch für die Hindernisse für den Import bestimmter Stahlprodukte, die von den Europäischen Gemeinschaften, Japan, Brasilien, Korea, China, der Schweiz, Norwegen und Neuseeland moniert wurden (Urteil vom 1. November 2003).
Diese Verfahren haben wichtige Fragen aufgeworfen. Die wichtigste ist dabei die der Subventionen. Aus dem WTO-Jahresbericht geht hervor, dass bei einer repräsentativen Gruppe von Entwicklungsländern die Gesamtsumme der Subventionen 0,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, während die entsprechende Zahl für die Industrieländer bei 1,4 Prozent liegt. Der so hoch gelobte Wettbewerb ist also zum Nachteil der Schwächsten verzerrt. Nicht vergessen sei auch, dass für die Lähmung der WTO-Verhandlungen vor allem die starre Haltung der entwickelten Länder in Sachen Agrarsubventionen verantwortlich ist. Gerade durch diese Subventionen haben die entwickelten Länder ihre beherrschende Stellung auf dem Weltmarkt erlangt, womit die Nahrungsmittelabhängigkeit für den Rest der Welt besiegelt wurde. All dies zu beklagen, heißt nicht, auf den allgemeinen Wettbewerb zu setzen. Denn der kann, ob verzerrt oder nicht, für die schwächsten Gesellschaften fatale Folgen haben.
In der Frage der Diskriminierungen treten alle Paradoxien der Globalisierung zutage. Die Europäische Union unterstützt Sonderpräferenzen für die AKP-Staaten (Afrika, Karibik- und Pazifikstaaten). Doch die WTO, die ja eine allgemeine Öffnung befürwortet, kann dieses System im System nur vorläufig dulden. Dennoch ist diese Ausnahme vom Prinzip der Nichtdiskriminierung ein Vorteil für die Entwicklungsländer, deren Interessen die WTO zum zentralen Anliegen des Doha-Programms gemacht hat. Die Ablehnung jedweden Präferenzsystems hätte die automatische Folge, dass die benachteiligten Länder auf bilaterale oder regionale Verträge setzen, um sich überlebenswichtige Vorteile zu sichern. Damit aber würde das ohnehin bereits angeschlagene multilaterale Projekt in seinem Kern zerstört.
In dieser Hinsicht hat der Prozess über die Ausgestaltung von Zollpräferenzen für die Entwicklungsländer, den Indien (von 17 Ländern gefolgt) gegen die Europäische Union anstrengte, den Kern des Problems freigelegt: Wie bestimmt man die Kategorie Entwicklungsland? Kann ein System von Handelspräferenzen eine Ungleichbehandlung in die Gruppe der Länder einführen, die sich „Entwicklungsländer“ nennen (Urteil vom 7. April 2004)? Zurzeit beruht diese Klassifikation auf der Selbstdefinition der jeweiligen Länder. Darüber hinaus hängt die Entscheidung über die Gewährung von Präferenzen von der Willkür derjenigen ab, die diese Präferenzen vergeben. Ein objektives Kriterium gibt es nicht. Die aktuelle Rechtsprechung sieht noch die Möglichkeit von Präferenzen vor, auf lange Sicht werden sie jedoch verschwinden.
Die verurteilten Staaten müssen ihre Handelsgesetze entsprechend den gegen sie getroffenen Entscheidungen ändern. Wenn die auferlegten Fristen verstrichen sind, haben ihre Gegner das Recht, Sanktionen zu verhängen. All das wird sich künftig im Rahmen von Verfahren vollziehen, die schrittweise verbessert werden. Die Umsetzung ist jedoch obligatorisch und bleibt nicht mehr der Willkür der jeweiligen Staaten überlassen.
Über diesen juristischen Fortschritten dürfen wir jedoch die Hauptkritikpunkte am Welthandelssystem nicht vergessen, denn dessen Logik wurde nicht etwa außer Kraft gesetzt. Bestimmte Entscheidungen des Schiedsgerichts haben zwar bestimmte Grundsatzpositionen gestützt, aber deren Wirkungen blieben häufig begrenzt oder wurden durch andere Entscheidungen konterkariert. Das zeigt sich etwa beim Streit über die Einfuhr bestimmter Krabbenarten. Die wurde von den USA unter dem hehren Vorwand beschränkt, die exportierenden Länder müssten Methoden des Krabbenfangs verbieten, die eine vom Aussterben bedrohte Meeresschildkröte gefährden.
Zunächst wurde in dem Verfahren anerkannt, dass die bedrohten biologischen Ressourcen „erschöpfbare“ seien und dass die Interpretation der WTO-Abkommen den Erhalt dieser Ressourcen zu einer Ausnahme macht, die Beschränkungen rechtfertigt. Doch diese Grundsatzposition verhinderte nicht ein Urteil gegen die USA: Washington dürfe ohne internationale Vereinbarung über die Fangmethoden keine unilateral beschränkenden Maßnahmen ergreifen. Das klang wie eine vernünftige Entscheidung. Doch unter dem Vorwand, die WTO-Entscheidung umzusetzen, haben die USA ihre Bestimmungen zum Schutz der Meeresschildkröte beim Krabbenfang geändert und ihre Einfuhrbeschränkungen beibehalten, obwohl es zu keiner internationalen Vereinbarung gekommen war.
Seitdem hat Malaysia den Streit neu aufgerollt, wobei das WTO-Streitschlichtungsorgan eine für die südlichen Länder sehr nachteilige Entscheidung getroffen hat: Die von den USA ergriffenen unilateralen Maßnahmen wurden mit der Begründung bestätigt, es sei ausreichend, dass die USA ihren guten Willen zu Verhandlungen über ein multilaterales Abkommen gezeigt haben, auch wenn ein solches Abkommen nicht zustande gekommen sei (Urteil vom 22. Oktober 2001).
Ein anderes bedauerliches Beispiel betrifft den Handel mit Hormonfleisch. Hier wurde der Grundsatz der Vorsicht vorerst zum Opfer der kapitalistischen Logik. Die Europäische Union wurde verurteilt, weil sie ihre Märkte gegen die als gesundheitsschädlich eingestuften US-Produkte abgeschottet hatte. Begründung: Die EU habe keine Risikoeinschätzung im Sinne des Abkommens über sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen (SPS-Abkommen) vorgenommen.
Natürlich musste die EU diese Entscheidung umsetzen, aber bedeutete dies, dass sie das Verbot zurückziehen und ihren Markt wieder öffnen musste? Umsetzung kann ja auch heißen, eine neue Risikoeinschätzung in Übereinstimmung mit den Anforderungen des SPS-Abkommens vorzunehmen, so jedenfalls der europäische Standpunkt. Nachdem ein unabhängiger wissenschaftlicher Ausschuss ein Risiko für die Verbraucher festgestellt hatte, glaubte die Gemeinschaft ihre Pflicht erfüllt zu haben und erließ eine neue Bestimmung, die bestimmte Hormonsubstanzen untersagte. Doch Washington besteht auf Sanktionen, und Europa verlangt nun, diese aufzuheben. Damit liegt die Sache den Richtern zur erneuten Entscheidung vor.
An dieser Stelle muss man darauf verweisen, dass zwischen den einzelnen Staaten hinsichtlich ihrer Fähigkeit, Sanktionen zu verhängen, ein horrendes Ungleichgewicht besteht. Für die ganz Mächtigen gibt es eine Art Straffreiheit, denn selbst wenn sie verurteilt werden, sind ihre obsiegenden Gegner häufig außer Stande, Sanktionen gegen sie zu verhängen. Das gilt natürlich vor allem für sehr kleine Länder, doch selbst die Europäische Union, die im Streit über die Besteuerung von ausländischen Vertriebsgesellschaften gegen die USA gewonnen hat, hat es schwer, Sanktionen durchzusetzen, die dem erlittenen Schaden entsprechen würden. Die Summen, um die es hier geht, sind so gewaltig, dass Sanktionen in derselben Höhe die Handelsbilanzen zum Kippen bringen würden.
Schließlich kommt in jüngster Zeit auch noch China ins Spiel. Peking geht zusammen mit anderen Klägern in der Frage der US-Sondersteuer auf Stahlimporte gegen Washington vor, doch auch die USA haben mehrere Klagen gegen ihren Hauptkonkurrenten angestrengt. Die wichtigste Beschwerde bezieht sich auf die illegalen Subventionen Pekings für die chinesische Industrie, die jüngste auf das Urheberrecht und auf den Marktzugang für bestimmte US-Produkte. Im Sitzungssaal des WTO-Streitschlichtungsorgans werden also demnächst wichtige Entscheidungen über das globale Gleichgewicht getroffen.
Die internationale Handelsgerichtsbarkeit muss heute über Themen entscheiden, die über Handelsfragen hinausgehen. Und die Nichtregierungsorganisationen wollen diese Zuständigkeit noch stärker ausweiten: Sie nennen Werte wie Gesundheit, das Leben von Menschen und Tieren, den Schutz von Pflanzen und, allgemeiner, die guten Sitten, die Einschränkungen bei der Liberalisierung des Warenverkehrs rechtfertigen sollen.8
Das WTO-Streitschlichtungsorgan hat durchaus anerkannt, dass bestimmte Angelegenheiten von höherwertigem Interesse sein können. Dennoch muss es auf der Grundlage der Handelsabkommen entscheiden und tendiert dazu, Kompromisse zu finden, die diesem Geist entsprechen. Das geht nicht nur häufig auf Kosten des Allgemeininteresses, es kann auch paradoxe Konsequenzen haben. Die starre Anwendung ökologischer, sozialer oder sanitärer Bestimmungen kann auch dem Protektionismus der mächtigsten Länder dienen: Die Sorge der USA um die Meeresschildkröte ist nicht frei von weniger hehren Zielen wie der Abschottung des eigenen Krabbenmarkts.
Von entscheidender Bedeutung ist also der Widerspruch zwischen den Handelsinteressen der südlichen Länder und der Forderung nach Fortschritten im sozialen, sanitären und ökologischen Bereich, denen diese Länder häufig nicht ausreichend nachkommen, weil sie Marktanteile gewinnen wollen. Aber muss ein Organ der WTO über dieses Problem entscheiden? Kann es Hierarchien ins internationale Recht einführen, das seinerseits auf diesen Gebieten keine sonderlich hohen Anforderungen formuliert?
Es gibt eine Kategorie von Quellen des internationalen Rechts, die über allen anderen steht: das sogenannte ius cogens oder „zwingendes Recht“. Die Wirkung dieser Normen ist so durchgreifend, dass sie jede ihnen widersprechende Norm außer Kraft setzen. Diese Rechtsqualität, die wichtige Fortschritte in Richtung eines universellen Gemeinwohls verspricht, bleibt jedoch ein sehr theoretisches Konstrukt. Um praktisch wirksam zu werden, müssten die Richter mit Streitigkeiten befasst sein, bei denen es um die Hierarchie der Normen geht. Doch genau an diesem Punkt ist die internationale Rechtsprechung blockiert, weil die Staaten sich ihr entziehen können.
Weil nun aber die Handelsgerichtsbarkeit demgegenüber bindend ist, erwartet man von ihr das, was die anderen Instanzen nicht leisten können. Die globalisierungskritischen Aktivisten haben also offensichtlich das verkehrte Ziel im Visier, denn im Grunde müssten sie sich gegen die Schwächen der internationalen Verfahren allgemein wenden. Echte Fortschritte bei den eigentlich wichtigen Problemen könnte es nämlich erst dann geben, wenn die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs und des Internationalen Strafgerichtshofs für alle Staaten verbindlich wäre, und erst recht, wenn es eine Art Weltgerichtshof für Menschenrechte gäbe, vor dem alle Menschen ihre Rechte einfordern könnten, die sie dann auch gegenüber allen geltend machen könnten. Eine solche Rechtsprechung würde die unabdingbaren Grundsätze definieren, die der Handelsgerichtsbarkeit als Leitlinien dienen können, aufgrund derer sie im Interesse des Gemeinwohls auch den freien Warenverkehr einschränken könnte.
Doch selbst das wäre nur ein Prolog für die Lösung der viel tiefer sitzenden, eigentlichen Probleme. Die Forderung nach sozialen, sanitären und ökologischen Standards für die Länder des Südens kann nämlich tatsächlich deren Exportfähigkeit schwächen, sie also ärmer machen und damit auch die Grundrechte beeinträchtigen. Das wird etwa dann der Fall sein, wenn zum Schutz der Meeresschildkröten der Krabbenfang ruiniert wird, von dem ganze Bevölkerungsteile leben. Um die Grundrechte zu wahren, müsste die Forderung nach der Einhaltung von Normen, die für die Lebensqualität zentral sind (also Gesundheit, Umwelt, Arbeitsbedingungen betreffen), durch massive und präzise fokussierte Maßnahmen unterstützt werden. Wir müssen dafür kämpfen, dass die Subventionen wie auch die Sanktionen auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhen. Und dieser Kampf geht weit über eine Kritik an der WTO hinaus.
Aus dem Französischen von Manuela Lenzen und Martin Klaus Monique Chemillier-Gendreau lehrt Internationales Recht an der Universität Paris 7 Diderot.