09.11.2007

Staatenbund statt Bundesstaat

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Staatenbund statt Bundesstaat

Fährt man von Nordfrankreich aus durch Wallonien nach Flandern, bekommt man einen gewissen Eindruck von der jüngeren Geschichte Belgiens. Von Péruwelz bis Saint-Sauveur dominiert bäuerliche Landschaft. In der Provinz Hainaut gibt es ein paar Gewerbegebiete, die Unternehmen beherbergen. Lutosa, ein Familienunternehmen für Kartoffelprodukte, ist hier einer der größten Arbeitgeber. Wenige Kilometer weiter ändert sich die Kulisse. Der Verkehr nimmt zu. Industriebauten reihen sich aneinander. Wir sind in Flandern.

Im Jahr 2007 gehört Flandern zu den dreißig reichsten Regionen der Europäischen Union. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf übersteigt hier derzeit den europäischen Durchschnitt um 23 Prozent, und die Arbeitslosenquote liegt gerade mal bei 6,5 Prozent.1 Jenseits der Sprachgrenze, in Wallonien, liegt das BIP 10 Prozent unter dem EU-Durchschnitt, und die Arbeitslosenquote übersteigt seit einem Vierteljahrhundert die 15-Prozent-Marke.2 Von den unter 25-Jährigen sind nahezu 30 Prozent arbeitslos.

Seit neuestem steigen die Exporte und die Zahl der Unternehmensgründungen, doch trotz umfangreicher europäischer Hilfsprogramme wie den „Zukunftsvertrag“3 geht es nur langsam aufwärts.

Die wallonische Regierung hat innerhalb von vier Jahren 1,5 Millionen Euro in Forschung und Bildung investiert, aber die Wirkungen werden wohl frühestens in zwei oder drei Jahren zu spüren sein. Die flämische Öffentlichkeit ist die Aufschwungsversprechen leid. Ihrer Meinung nach kostet der anhaltende wirtschaftliche Rückstand Walloniens zu viel. Tatsächlich beschert Flandern als die produktivere der beiden Regionen dem belgischen Föderalstaat höhere Einnahmen, bei geringeren Sozialausgaben. Der Finanzausgleich zwischen Flandern und Wallonien macht 3,3 Prozent des BIP aus. „Das ist ein bisschen so, als würde jeder Flame täglich einem Wallonen ein halbes Bier ausgeben“, schreibt der flämische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Rudy Aernoudt.4 „Im Vergleich mit anderen Transferleistungen in Europa ist das nicht übermäßig viel.“

Soziales Chaos und Förderprogramme

Auf solche Vergleiche geben die Flamen allerdings nichts mehr. Zumal das Problem nicht nur mit dem Finanzausgleich zusammenhängt. Die politische Klasse Flanderns musste jüngst Hiobsbotschaften in strategisch wichtigen Wirtschaftsbereichen hinnehmen. So hat das Pharmaunternehmen Janssen, eine feste Größe in der flämischen Provinz Limburg, im September den Abbau von 688 Arbeitsplätzen angekündigt. Auch der Chemieriese Bayer hat bereits 300 Stellen in seiner Niederlassung an der Schelde gestrichen.5 Die Diamantenhändler von Antwerpen wiederum leiden unter der zunehmenden Konkurrenz aus Dubai. Beim Audi-Werk in Brüssel – das die Flamen im Gegensatz zu den Brüsselern und den Wallonen zu Flandern zählen – kriselt es ein knappes Jahr nach der letzten Umstrukturierung erneut.

Die flämischen Unternehmen sehen sich in ihrer Wettbewerbsfähigkeit bedroht und streben nach Flexibilisierung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Unternehmensleitungen wollen liberale Reformen, sind aber überzeugt, dass diese mit den frankophonen Abgeordneten nicht zu machen sind. Zwischen den beiden Sprachgemeinschaften herrschen inzwischen nicht nur kulturelle, sondern auch ideologische Differenzen. Die politische Landschaft Walloniens wird von der Sozialistischen Partei (PS) dominiert, die in den beiden vorangegangenen föderalstaatlichen Legislaturperioden Maßnahmen zur Flexibilisierung der Arbeit und zur Entlastung der Unternehmen von Sozialabgaben verhindert hat.

Die flämischen Abgeordneten sind entnervt von dem, was sie als Behinderung durch ihre wallonischen Kollegen bezeichnen, und verlangen die Übertragung weiterer Befugnisse auf die Gliedstaaten: Beschäftigungspolitik, Unternehmensbesteuerung, Arbeitsrecht und Familienleistungen. Zwar verlor die PS die letzten Wahlen, doch die neue Ausgangslage ändert nichts mehr am Kurs der Flamen: Sie haben sich auf die Idee einer Konföderation eingeschossen – im Gegensatz zum bestehenden föderalen System.

Die aktuellen Entwicklungen gehören zu einer Emanzipationsgeschichte, die vor mehr als achtzig Jahren begann. Der starke Wille zur Autonomie verbindet sich mit dem Wunsch nach dauerhafter kultureller und geografischer Einheit und schöpft sein Selbstbewusstsein aus der modernen Erfolgsgeschichte Flanderns.

In der ersten Hälfte der Geschichte des modernen belgischen Staates war Flandern weder kulturell noch wirtschaftlich anerkannt. Französisch war die Sprache des Bürgertums, der Literatur und der Politik. Gewiss, Flandern konnte sich einer glorreichen Vergangenheit rühmen: Städte wie Brügge, Gent und Antwerpen waren schon im Mittelalter Zentren ökonomischer und kultureller Blüte. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts befanden sich die großen Fabriken überwiegend in Wallonien. Die Ingenieure aus Charleroi oder Lüttich wurden nach Russland oder Australien abgeworben, während die flämischen Arbeiter auswandern mussten – nach Wallonien, wo es viele Unternehmen gab. Dazu gehörte Ende des 19. Jahrhunderts etwa das Wirtschaftsimperium von Edouard Empain mit Transportunternehmen, Stromgesellschaften und einer eigenen Bank, das Chemiewerk der Brüder Solvay oder das Stahlunternehmen Cockerill.

Die Wallonen jedoch sprachen kein Niederländisch. Sie betrachteten die Sprache ihrer Landsleute als volkstümliche Mundart. Der Unmut der Bevölkerung im Norden des Landes politisierte die Flämische Bewegung. Flandern sollte seinen angestammten Platz wiedererhalten, und dafür musste es wohlhabend werden. Nach dem Ersten Weltkrieg verfolgten die Führer der Flämischen Bewegung dieses Ziel geradezu mit Besessenheit. 1926 entstand der Vlaams Economisch Verbond. Wenige Jahre später gründete sich eine rein flämische Bank, die Kredietbank. In den Folgejahren förderte sie hunderte von kleinen und mittleren Unternehmen, die in den Exportmarkt investierten. Die wachsenden Handelsbeziehungen, unter anderem mit dem Kongo, machten den Hafen von Antwerpen zu einem Hauptumschlagsplatz.

Dieser Aufstieg erlebte in den 1950er-Jahren noch einmal eine Steigerung. Ausländische, insbesondere amerikanische Investoren strömten nach Flandern. Die Bodenpreise waren niedrig, die geografische Lage günstig, und der belgische Staat bewilligte großzügige Wirtschaftshilfen. Flämische Politiker nutzten die demografische Mehrheit, um innenpolitische Entscheidungen in Belgien zu ihren Gunsten zu wenden.6 Der Staat verschuldete sich massiv, um gigantische Infrastrukturen in Flandern aufzubauen – wie die Häfen von Seebrügge und Antwerpen. Nach und nach verlagerte sich die belgische Industrie nach Norden und an die Küste.

Flandern wurde zum wirtschaftlichen Erfolgsmodell. Die Arbeitslosenquoten, die Ende der 1940er-Jahre noch bei 19 Prozent im Norden und 8 Prozent im Süden lagen, glichen sich allmählich an. 1967 schließlich holte Flandern Wallonien beim Bruttoinlandsprodukt ein. Das Machtverhältnis hatte sich nachhaltig umgekehrt.7

Für diese Entwicklung gab es eine doppelte Ursache: Flandern hatte eine vorausschauende Politik betrieben, und die wallonischen Entscheidungsträger hatten sich erhebliche Versäumnisse geleistet. Dabei war die Industrie Walloniens, die geringere Bombenschäden erlitten hatte, nach 1945 schneller wieder in Gang gekommen als die in anderen Ländern. Die industrielle Substanz war jedoch veraltet, und die Aktionäre investierten zu zögerlich in die Erneuerung. Stück für Stück eroberten die Konkurrenten daraufhin Marktanteile. Erst mussten die Kohlebergwerke schließen, später folgten die Stahlfabriken. Mit den 1960er-Jahren setzten die Massenentlassungen ein.

Der Staat wandte erhebliche Mittel auf, um die schlimmsten Auswirkungen abzufedern, und schuf Stellen im öffentlichen Sektor, versäumte es aber, im industriellen Sektor einen Strukturwandel einzuleiten. So wurden etwa Unternehmen, die keine Überlebenschance mehr hatten, verstaatlicht.

Die Kosten für das soziale Chaos in Wallonien, zu denen die Finanzierungskosten für den wirtschaftlichen Aufschwung in Flandern kamen, überforderten Belgien: Zu Beginn der 1980er-Jahre war die Staatsverschuldung fast genauso hoch wie das Bruttoinlandsprodukt. Der Regierung blieb nichts anderes übrig, als den belgischen Franc abzuwerten, um den Bankrott abzuwenden. Zur selben Zeit begann eine erste Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen auf die Regionen. Mit den Reformen der staatlichen Institutionen von 1980, 1988 und 1993 wurde Belgien zum Föderalstaat.

In den folgenden zwanzig Jahren setzte sich Flandern immer weiter von den anderen Regionen ab. Brüssel und Wallonien gelang es nicht, aus ihrer regionalen Autonomie Nutzen zu ziehen. In der Hauptstadt stieg die Arbeitslosigkeit auf fast 20 Prozent. In Wallonien ist die wirtschaftliche Entwicklung ungleich verteilt: Gegenden wie Arlon, Mouscron oder die Provinz Wallonisch-Brabant schafften den Aufschwung in den 1990er-Jahren. Aber der Aufwärtstrend übertrug sich nicht auf den Rest der Region.

Flandern kostet seine historische Revanche aus. Wann der Moment erreicht ist, um dem bislang so erfolgreichen Emanzipationsbestreben Grenzen zu setzen, scheint niemand so recht zu wissen. In Spanien, Frankreich oder Großbritannien geht die Tendenz in Richtung Dezentralisierung.

Sollte sich Flandern unabhängig machen, wird das für Unruhe sorgen. Deshalb beobachtet ganz Europa die Region mit Argusaugen, und die flämischen Politiker wissen das ganz genau. Wenn sie zu weit gehen, dürfte das das Ende von Brüssel als europäischer Hauptstadt bedeuten, mit verheerenden wirtschaftlichen Folgen auch für Flandern. Jean-Yves Huwart

Fußnoten: 1 VDAB (Flämisches Amt für Beschäftigungspolitik und Berufsausbildung), „Evolutie van de Werkloosheid in Vlaanderen“, September 2007. 2 Eurostat, Brüssel, 19. Februar 2007. 3 Der Zukunftsvertrag von 1999 ist der erste Schritt einer regionalen Strategie, mit der die Wirtschaft Walloniens strukturell wieder aufgebaut werden soll, indem insbesondere kleine und mittlere Unternehmen sowie die Forschung gefördert werden. Der Vertrag, der 2002 und 2004 erneuert wurde, brachte nicht den Umschwung, aber der wirtschaftliche Niedergang ist aufgehalten worden. 4 Autor von „Wallonie-Flandre: Je t’aime moi non plus. Anti-manifeste sur les relations entre les Flamands et les Wallons“, Roeselare (Roularta Books) 2006. 5 Vgl. De Standaard, Groot-Bijgaarden, 18. und 26. September 2007. 6 1961 stellten die Flamen 55 Prozent der belgischen Bevölkerung, heute sind es 57 Prozent. 7 Siehe Sergio Carrozzo, „Die Hochöfen sind am Erlöschen“, Le Monde diplomatique, März 2004.

Aus dem Französischen von Veronika Kabis Jean-Yves Huwart ist Journalist bei der belgischen Zeitschrift Trends-Tendances und Autor von „Le second déclin de la Wallonie – en sortir“, Brüssel (Racine) 2007.

Le Monde diplomatique vom 09.11.2007, von Jean-Yves Huwart