Che, Balzac und natürlich Öcalan
Eine Reise ins irakische Hinterland der PKK von Olivier Piot
Ein grob gezimmerter Unterstand unter kakifarbenen Tarnnetzen. Kalaschnikows hängen an der Wand. Auf einem Tisch stehen Gemüse, Fleisch und Obst bereit, dann wird Tee serviert.
Wir sind froh über den gastfreundlichen Empfang, nach der zehnstündigen Reise von Erbil, der Hauptstadt der kurdisch regierten Region im Nordirak, in diese kargen Berge an der Grenze zur Türkei und zum Iran. Bis hinter Rawandoz waren die Straßenposten noch von Soldaten der kurdischen Regierung besetzt, dann tauchten andere Uniformen auf. Die 350 Kilometer lange Pufferzone entlang der türkischen Grenze wird von den Kämpfern der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) kontrolliert.
Schon lange dient dieses Gebiet den kurdischen Peschmerga als Rückzugsraum. Seit 1984, als die separatistische PKK den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat aufnahm, unterhält sie Militärlager in den Bergen. Einige ihrer Führer waren in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Südlibanon ausgebildet worden. Aber ihren Guerillakampf führten sie ausschließlich jenseits der Grenze, in den Kurdengebieten der Türkei. In den 1980er-Jahren diente das Rückzugsgebiet vor allem der militärischen und politischen Ausbildung von Kadern, die im Südosten der Türkei den bewaffneten Kampf für ein unabhängiges Kurdistan führten.
1993 schwand die Hoffnung auf eine Verhandlungslösung, als der türkische Staatspräsident Turgut Özal starb, der eine Legalisierung der PKK angestrebt hatte. 1999 wurde der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan in Kenia gefasst und zu lebenslanger Haft auf der Gefängnisinsel Imrali verurteilt. Wenige Monate später rief Öcalan zur Beendigung des bewaffneten Kampfs auf. Er setzte auf den „demokratischen Wandel“ in der Türkei und Verhandlungen mit Ankara über die „Kurdenfrage“. Die PKK wies ihre Kämpfer an, sich in die irakischen Berge zurückzuziehen. 2002 gab die Partei ihre marxistisch-leninistische Ideologie von Nationalismus und Klassenkampf auf und änderte ihren Namen in „Kongress für Freiheit und Demokratie in Kurdistan“ (Kadek).1
Innerhalb der Türkei bekennt sich die 2005 gegründete prokurdische Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP) zur Legalität. Bei den Parlamentswahlen im Juli 2007 konnte die DTP, die sich weigert, die PKK als „terroristisch“ zu qualifizieren (siehe Kasten), zwanzig unabhängige Kandidaten durchbringen, die jetzt eine Fraktion bilden.
Nach wie vor halten sich in der Türkei rund 2 000 PKK-Kämpfer verborgen, im nordirakischen Rückzugsraum stehen knapp 3 500 Peschmerga unter Waffen. Der Wortführer der Kämpfer, die uns im August 2007 in den Sagros-Bergen empfingen, hatte eine Menge Fragen: „Was meinen Sie zu Algerien? Und die Unabhängigkeitsbewegung auf Korsika? Und Che Guevara?“ Fünfundzwanzig Jahre hat er in türkischen Gefängnissen verbracht und dort viel gelesen.
Wir reden über Balzac, über Lenin, und natürlich über Öcalan. Dann steht mein Gesprächspartner plötzlich auf. Ein Fahrzeug fährt heran, dem fünf bewaffnete Männer entsteigen. Der älteste ist Murat Karayilan, Vorsitzender des Exekutivrats der PKK-Dachorganisation Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK).
Dass Karayilan sich hier aufhält, ist auch für uns nicht ohne Risiko. Nach wiederholten iranischen Luftangriffen muss er ständig seinen Aufenthaltsort wechseln.2 Wir sollen die Batterien aus dem Funktelefon nehmen, der Laptop wird kurzzeitig konfisziert. Dann kann das Interview stattfinden, in einem Raum mit vermauerten Fenstern, an den Wänden Bilder von PKK-Märtyrern und natürlich ein Porträt von Abdullah Öcalan. Am Tisch sitzt auch unser Kenner französischer und marxistischer Literatur, der sich als KCK-Vizepräsident herausstellt.
Karayilan weiß natürlich noch nicht, was in den folgenden drei Monaten auf ihn und seine Kämpfer zukommt: die Übereinkunft zwischen Bagdad und Ankara zur Eliminierung der PKK-„Terroristen“3 , der zunehmend kriegerische Ton der türkischen Führung, die Ermächtigung zu einer Militäroperation im Nordirak durch das türkische Parlament. Aber die allgemeine Gefahrenlage ist ihm durchaus klar: „Seit Februar hat die Türkei tausende von Soldaten an der Grenze zusammengezogen. Die Armee setzte im Hinblick auf die türkischen Parlamentswahlen noch mehr auf die nationalistische Karte. Wir wissen auch, dass Verhandlungen zwischen Ankara, Bagdad und Washington laufen. Ich kann nur hoffen, dass die AKP von Ministerpräsident Erdogan das Angebot unserer neuen Abgeordneten nicht ausschlägt, zu einer demokratischen Verhandlungslösung des Kurdenproblems zu finden.“
Aber worüber soll verhandelt werden? Bleibt die PKK bei ihrer alten Forderung nach einem gemeinsamen Staat für die Kurden in der Türkei, im Irak, im Iran und in Syrien? „Das steht noch immer in unserem Programm, aber es ist ein Fernziel“, meint Karayilan. „Tatsächlich – und das wissen die Türken – sind wir bereit, über eine regionale Autonomie katalanischen Typs innerhalb der türkischen Grenzen zu verhandeln. Das ist ein Angebot.“
Im irakischen Kurdistan, dem Zufluchtsort der PKK-Kämpfer, gilt seit 2002 ein Abkommen über die Aufteilung der Macht zwischen der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Beide Parteien zählen zu den Verbündeten der USA, ihre Provinz genießt innerhalb des Irak weitgehende Autonomie.
Der KCK-Chef ist sich über die Interessen der kurdischen „Brüder“ im Irak durchaus im Klaren: „Die Regierung in Erbil war in den 1990er-Jahren bereits zweimal auf türkischer Seite an Kriegen beteiligt, die uns in die Zange nehmen sollten. Hoffentlich macht sie diesen Fehler nicht noch einmal. Aber die Vergangenheit lehrt uns, dass wir nur auf uns selbst zählen können.“
Für Karayilan spielt die Kurdenfrage eine entscheidende Bedeutung für die Demokratisierung der ganzen Region: „Die Amerikaner haben gut daran getan, seit 1991 die kurdischen Autonomiebestrebungen im Irak zu unterstützen. Wenn sie mehr erreichen wollen, vor allem bei der Demokratisierung der türkischen Gesellschaft, müssen sie über den Irak hinausblicken.“ Beim letzten Satz glaube ich in seinen Augen leichte Zweifel zu sehen. Was ist, wenn am Ende niemand die PKK braucht?
Man führt uns auch zu „Außenposten“ der Peschmerga in den Bergen. Das Camp junger Kämpferinnen liegt, versteckt zwischen Bäumen und Felsen, auf über 2 000 Metern Höhe in dem Berggebiet, durch das die Grenze verläuft. Die Frauen sind jung, viele kommen aus der Türkei, einige sind in Syrien, im Iran oder im Irak geboren. Die 21-jährige Aske stammt aus einem Dorf südlich von Izmir, sie ist seit ihrem 14. Lebensjahr dabei: „Meine Eltern waren sehr engagiert in der Partei. Ich habe die Fackel weitergetragen, seit ich auf dem Gymnasium war, weil ich überzeugt bin, dass zur Befreiung des kurdischen Volks auch der Kampf gegen die feudalen Verhältnisse gehört, unter denen die Frauen zu leiden haben.“
Auch in diesem Lager gibt es einen Gemüsegarten, das Wasser kommt von einer nahen Quelle. Einmal in der Woche kommt Nachschub – wie genau, bleibt „geheim“. Dann gibt es Reis, Fleisch, Zigaretten, neue Batterien, aber auch Zeitungen und Erklärungen des Vorsitzenden Öcalan, notiert von seinem Rechtsanwalt, der zu den wenigen Personen gehört, die ihn auf der Gefängnisinsel besuchen dürfen. Übers Radio verfolgt die Gruppe die aktuellen Ereignisse in der Welt, man hört vor allem BBC World Service. Regelmäßig treffen sich die Kämpferinnen zur Diskussion über vorgegebene „politische und soziale Themen“. „So können wir uns ständig etwas gegenseitig beibringen“, meint die 35-jährige Leiterin des Camps. Neben ihr steht Horin aus Aleppo. Warum hat sie sich der Guerilla angeschlossen? „Auch in Syrien muss die kurdische Bevölkerung sehr viel erdulden. Als die syrische Sektion der PKK vorschlug, mich hier auszubilden, stimmte ich sofort zu.“ Horin hofft, eines Tages „den politischen Kampf“ in Syrien fortsetzen zu können. Und wenn es der PKK gelingt, mit der Türkei eine Autonomieregelung auszuhandeln? „Das wäre gut, so wie im Irak. Aber der Kampf muss weitergehen, bis wir das Großkurdistan bekommen, das uns die Alliierten 1920 versprochen haben.“4
Die Nacht verbringen wir wieder im Hauptlager. Am Fuß der gewaltigen Felswand hinter dem großen Gemeinschaftszelt sitzen die Kämpfer vor dem Fernseher und starren fasziniert auf den flackernden Bildschirm. Ein paar Meter weiter steht eine Satellitenschüssel. Es läuft „The Visitors II“ – auf Türkisch. Neben den Holztischen, an denen die Kämpfer essen, prangt in Schwarzweiß das Porträt eines der Gründer der PKK.
Am nächsten Morgen ist die Gruppe schon um fünf Uhr angetreten. Der Kommandeur schickt zehn Mann zum Holz sammeln – eine Stunde mühsames Klettern an einem steilen Hang, damit der Ofen für das gewohnte Ritual des Teetrinkens angeheizt werden kann. Zum Frühstück setzt sich der Chef zu uns, ein Mann um die dreißig mit harten, verschlossenen Gesichtszügen.
Ahmed hat sich der PKK mit 14 angeschlossen. Seit er bei einem Gefecht mit der türkischen Armee verwundet wurde, hinkt er leicht. Ahmed stammt aus Diyarbakir, Hauptstadt der Region, die man hier als „Nordkurdistan“ bezeichnet: „Wo ich herkomme, war die Verfolgung durch die Türken besonders hart. Tausende von Dörfern wurden zerstört, Hunderttausende zwangsweise umgesiedelt. Das war in den 1990er-Jahren. Jetzt bin ich seit zwei Jahren hier. Man braucht einen starken Charakter und muss viele Opfer bringen. Türkische Granaten, iranische Raketen – wir riskieren jeden Tag unser Leben. Aber wer wird für das kurdische Volk kämpfen, wenn nicht wir?“
Im September und Oktober hat sich die Lage verschärft, es kam zu Gefechten zwischen der türkischen Armee und PKK-Kämpfern. Ich denke an Murat Karayilans Worte zurück: „Seit Jahren sind wir nicht mehr auf türkisches Gebiet vorgedrungen, unsere Guerilla wehrt lediglich die Überfälle türkischer Soldaten ab. Wenn die Türkei jedoch den offenen Krieg will, werden wir zu reagieren wissen. Und das ganze kurdische Volk wird sich an unserer Seite erheben.“
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Olivier Piot ist Journalist und unter anderem Chefredakteur des Netzjugendmagazins Les Clés de l’actualité.