09.11.2007

Der stabile Unsicherheitsfaktor

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Der stabile Unsicherheitsfaktor

Washingtons Strategie hat eine neue Chaosregion erzeugt von Alain Gresh

Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten sei bis vor zehn Jahren noch ganz auf Europa ausgerichtet gewesen, erklärte im April 2007 Nicholas Burns, Staatssekretär für politische Fragen im US-Außenministerium: „Das begann im April 1917, als Präsident Woodrow Wilson eine Million Soldaten an die Westfront schickte, und reichte bis zur Intervention von 1999 im Kosovo, unter Präsident Clinton.“ Aber inzwischen habe sich das Interesse einer neuen Schwerpunktregion zugewandt. Was Europa für die US-Regierungen des 20. Jahrhunderts war, sei nun vor allem die Nahost-Region.1

Daran ließ Präsident Bush in seiner Rede an die Nation vom 11. Januar 2007 keinen Zweifel: „Bei der Herausforderung im gesamten Nahen und Mittleren Osten geht es um mehr als nur einen militärischen Konflikt. Es ist der entscheidende ideologische Kampf unserer Zeit. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die an die Freiheit und Mäßigung glauben, auf der anderen die Extremisten, die Unschuldige töten und ihre Entschlossenheit bekunden, unsere Lebensweise zu vernichten.“2

Seit dem 11. September 2001 ist das von Bush „Greater Middle East“ genannte Gebiet – eine nicht genau definierte Region, die sich von Marokko über das Horn von Afrika bis nach Pakistan erstreckt – zum wichtigsten, wenn nicht einzigen Schauplatz eines Konflikts geworden, der für die USA ein globaler ist.

Wegen ihrer Ölvorkommen, ihrer strategischen Bedeutung und der besonderen Rolle des Staates Israel richtet sich das Interesse der USA bereits seit 1956 auf die Region, als sich Frankreich und Großbritannien zurückzogen.

Dass der Nahe und Mittlere Osten seither einen grundlegenden politischen Wandel erlebt hat, lag zweifellos im Interesse der Strategen im Pentagon und der neokonservativen Kräfte. Die aktuelle Situation dürfte deren Hoffnungen auf eine dauerhafte Vormachtstellung der USA in einem neu gestalteten Nahen Osten allerdings kaum entsprechen. In dieser Hinsicht waren Frankreich und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg erfolgreicher.

Heute ist die Nahost-Region eine Zone erbitterter Kriege. Hier werden zahlreiche blutige Konflikte gleichzeitig ausgetragen, und in viele sind westliche Streitkräfte unmittelbar verwickelt. In Afghanistan können die Truppen der USA und der Nato nicht verhindern, dass sich die Ordnung im Lande auflöst. Im Irak haben der Widerstand gegen die Besatzung und die Kämpfe zwischen verfeindeten Ethnien und Religionsgruppen bereits hunderttausende von Opfern gefordert – womöglich mehr als beim Genozid in Ruanda.

Verdeckte Bürgerkriege, hilflose Friedenstruppen

Wer soll die Wunden heilen, die hier geschlagen werden? Im Libanon führen die Regierungskräfte unter Präsident Fuad Siniora und die Opposition um die Hisbollah und die „Freie Patriotische Bewegung“ (FPM) von General Michel Aoun einen verdeckten Bürgerkrieg; auch die Stationierung beträchtlicher Kontingente der UNO-Friedenstruppe Unifil im Südlibanon bietet keine Garantie gegen neue bewaffnete Auseinandersetzungen mit Israel. In Palästina haben die Siedlungstätigkeit und die militärische Intervention Israels zur Fragmentierung der Palästinensergebiete geführt. Zudem zerfällt die palästinensische Zivilgesellschaft, und die nationale Bewegung ist, vielleicht unwiderruflich, gespalten.

Somalia hat seit dem von Washington unterstützten Einmarsch Äthiopiens im Dezember 2006 das fragwürdige Privileg, als „neue Front im Krieg gegen den Terrorismus“ zu gelten. Und dazu kommen noch Darfur, die Konflikte in Pakistan, die „terroristische Bedrohung“ in den Maghreb-Staaten, die Gefahr neuer Kriegshandlungen zwischen Israel und Syrien.

Jeder dieser Konflikte hat seine Geschichte und seine lokalen Ursachen, aber alle werden von der Nahost-Strategie der USA vereinnahmt, um ihnen einen neuen „Sinn“ zu verleihen. Während des Kalten Krieges sahen die USA – wie die Sowjetunion – jede politische Krise im Licht des Ost-West-Konflikts. Für Washington war Nicaragua 1978 bis 1990 nicht etwa Schauplatz eines Bürgerkriegs, in dem die Frente Sandinista (FSLN) gegen eine brutale Diktatur und für mehr soziale Gerechtigkeit kämpfte, vielmehr ging es allein darum, das Land nicht an „das Reich des Bösen“3 zu verlieren. Ganz ähnlich gibt es heute für Washington kein Palästinaproblem, keine Staatskrise in Somalia und keine konfessionellen Auseinandersetzungen im Libanon, sondern nur noch den globalen Kampf zwischen Gut und Böse. Damit wird spiegelbildlich die Vorstellung der al-Qaida vom ewigen Feldzug gegen „Juden und Kreuzritter“ bedient.

Diese manichäischen Vorstellungen wurden am Ende zu einer „self-fulfilling prophecy“, zumal die politischen Kräfte vor Ort sich ihrer gern bedienten. Somalia4 ist ein gutes Beispiel: Nachdem die „Bewegung der islamischen Gerichtshöfe“ in Mogadischu die Macht übernommen hatte (siehe den Artikel von Philippe Leymarie, S. 8f.), gelang es der somalischen Übergangsregierung, einem korrupten und unfähigen Haufen von Warlords, die US-Regierung zu überzeugen, dass Somalia zum Kampfplatz des „internationalen Terrorismus“ geworden sei. In Washington gab man daraufhin grünes Licht für eine militärische Intervention Äthiopiens. Die Konsequenzen einer solchen Entscheidung interessieren nicht. Vom Einmarsch des christlich geprägten Landes Äthiopien in das muslimische Somalia profitierten voraussehbar die radikalsten islamistischen Strömungen im Land.5

Ein weiteres Beispiel ist der Libanon, dessen Staatlichkeit seit langem auf einem komplizierten System des Ausgleichs zwischen den Religionsgruppen beruht. Indem Frankreich und die USA hier eindeutig Partei ergreifen und eine Hälfte des Landes gegen die andere stärken, erschweren sie den inneren Ausgleich. Der Libanon ist zum Schauplatz einer grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen dem Westen plus Verbündeten und dem Lager Irans und Syriens geworden. Obgleich ein Kompromiss in diesem Konflikt unabdingbar wäre, könnte nun jedes Nachgeben als ein „Sieg des Bösen“ erscheinen.

Zwischen den vielen neuen Kriegen gibt es auf vielen Ebenen Verbindungen: Waffen und Kämpfer (und deren Kampftechniken) passieren die zunehmend durchlässigen Grenzen, im Strom von hunderttausenden Flüchtlingen. In Afghanistan werden seit zwei Jahren Selbstmordanschläge wie im Irak verübt – die es beim Widerstand gegen die sowjetische Besatzung nie gab. Auch in Algerien werden heute selbst gebastelte Sprengsätze gegen Truppentransporte der Streitkräfte eingesetzt.

Im libanesischen Flüchtlingslager Nahr al-Bared hielten einige hundert Kämpfer mehr als drei Monate den Angriffen der libanesischen Armee stand, darunter etliche Ausländer, die zuvor im Irak Erfahrung gesammelt hatten. Tausende Kämpfer – aus den arabischen Ländern, aus Zentralasien und aus Pakistan –, die ihre Ausbildung im Irak erhielten, sind inzwischen zu neuen Fronten aufgebrochen. Sie folgen den Spuren jener Gotteskrieger, die noch vom pakistanischen oder US-Geheimdienst für den Krieg gegen die Sowjetunion in Afghanistan ausgebildet wurden, sich später aber terroristischen Gruppierungen in Algerien, Ägypten und anderswo anschlossen und am Ende bei al-Qaida landeten. Die Kriege in der Nahost-Region wurden zur Basis illegaler Geschäfte: So findet man in der Türkei bei Berufskriminellen neuerdings Waffen, die ursprünglich von den USA an irakische Sicherheitskräfte geliefert wurden.6

Die Staaten der Region sind ohnehin durch Jahrzehnte der Korruption und Gewaltherrschaft geschwächt. Nun wurde ihre nationalstaatliche Autorität noch weiter untergraben. In Afghanistan hat die Regierung im Grunde nichts zu sagen. Im Irak ist der Zerfall des Staates nicht nur Resultat des Kriegs, sondern auch des von 1990 bis 2003 dauernden Embargos. Schon in diesen 13 Jahren gewannen radikale sunnitische Salafisten im Irak an Einfluss, die über geheime Verbindungen (vor allem nach Jordanien) verfügten, über die sie Lebensmittel und Medikamente einführen, aber auch Waffen und neue radikale Ideen ins Land bringen konnten.7

Für die Nachbarländer bedeutete diese Instabilität an ihren Grenzen eine Gefahr, die sie nicht ignorieren konnten: Saudi-Arabien wie der Iran, Syrien wie die Türkei versuchten ihre Interessen durch direkte oder indirekte Einflussnahme im Irak abzusichern. Im Libanon sind die Bemühungen um eine Stärkung der zentralstaatlichen Autorität weiter ohne Erfolg. Und die palästinensische Autonomiebehörde ist abhängig von ausländischer Militär- und Wirtschaftshilfe wie vom Wohlwollen der israelischen Regierung. Zudem werden dadurch, dass einige Territorien wie der Gazastreifen oder das irakische Kurdistan sich für autonom erklärt haben, Unabhängigkeitsbestrebungen in der gesamten Region genährt. Das gilt für die Kurden in der Türkei bis zu den Belutschen in Pakistan und im Iran.

Noch nie haben einzelne bewaffnete Gruppen eine so entscheidende Rolle in den Verhandlungen über die Zukunft eines Landes gespielt: In Afghanistan wie im Irak und in Somalia sind sie die bestimmenden Faktoren; im Libanon gibt die Hisbollah den Ton an, im Gazastreifen liegt die territoriale Souveränität bei der Hamas. Solche Organisationen sind beängstigend stark geworden. Im Irak halten sie die mächtigste Armee des Westens in Schach, in Afghanistan sind sie von der Allianz von USA und Nato nicht zu besiegen. Und im Libanon konnte die Hisbollah nicht nur 33 Tage lang der israelischen Invasion standhalten, sondern sogar den Spieß umdrehen: Zum ersten Mal seit 1948/49 mussten viele Israelis fliehen, weil ihre Wohnorte angegriffen wurden.

Sogar die Hamas ist immer noch in der Lage, aus ihrer letzten Bastion Gaza Raketenangriffe auf die israelische Stadt Sderot auszuführen.8 Der Einsatz von einfachen, aber wirkungsvollen und leicht zu beschaffenden Waffen bringt die USA wie Israel militärisch in eine schwierige Lage. Ze’ev Schiff, der verstorbene Militärkorrespondent der israelischen Tageszeitung Ha’aretz, analysierte die Situation im Juni so: „Wir können noch so oft erklären, die Hamas sei in die Enge getrieben und hoffe auf einen Waffenstillstand – das ändert nichts daran, dass Israel den Kampf um Sderot verloren hat (…). Dort musste Israel zum ersten Mal hinnehmen, dass der Gegner eine ganze Stadt und den Alltag ihrer Bewohner völlig zum Stillstand bringen konnte.“9

Die verfahrene Situation in Palästina, der Zerfall staatlicher Strukturen, die wiederholten militärischen Eingriffe der USA – all das trägt in der Region zu einer Verzweiflung und Suizidneigung bei, von der die Extremisten von al-Qaida profitieren.

Nachdem eine bislang unbekannte radikale Gruppierung im Gazastreifen zwei Journalisten des US-Senders Fox News entführt hatte, erschien in der saudischen Tageszeitung al-Watan am 31. August ein Artikel über die „dritte Generation“ islamistischer Kämpfer in Palästina, der auch die Hamas und der Islamische Dschihad schon zu angepasst sind. Der Autor zeichnete folgendes Bild: Diese Gruppen sind nicht in der Bevölkerung verankert, sie lehnen jeden Kompromiss ab und fühlen sich nicht an die politischen Regeln gebunden. Sie betrachten nicht allein Israel als Gegner, und ihre Forderungen beziehen sich nicht nur auf Palästina. Dass in Irak wie in Afghanistan neue Gruppierungen auftreten, die sich auf al-Qaida berufen und auch in palästinensischen Lagern im Libanon oder in Somalia und im Maghreb aktiv werden, macht deutlich, dass die zunehmende Durchlässigkeit der Grenzen in der Region ideologisch den Extremisten hilft.

Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte die Idee des Nationalismus die staatlichen Strukturen der Region bestimmt. Nun wird sie durch ethnische oder religiöse Identitätskonzepte verdrängt, wobei diese Entwicklung von Washington, bewusst oder unbewusst, gefördert wurde. General David Petraeus, der US-Oberkommandierende im Irak, war 2003 Kommandeur der 101. Fallschirmjägerdivision, die die nordirakische Stadt Mossul einnahm. Zu seinen ersten Verfügungen nach der Eroberung gehörte die Einrichtung eines neuen Stadtrats. Die Wahl erfolgte getrennt nach Bevölkerungsgruppen: Kurden, Araber, Turkmenen, Christen usw. hatten ihre eigenen Wahlurnen. Fortan gab es keine „Iraker“ mehr.

Hier wird ein Prinzip der US-Politik im Nahen Osten deutlich. Danach zerfällt die Region in eine Vielzahl von „Minoritäten“ – jeder Einzelne soll sich seiner Gemeinschaft zuordnen, nationale (oder andere) Zugehörigkeiten10 spielen keine Rolle mehr.

Diese Politik destabilisiert alle Staaten der Region und kann unabsehbare Konflikte stiften: heute im Irak, morgen in Syrien oder im Iran. Sie ermutigt überdies alle ausländischen wie regionalen Mächte zur Einmischung: Jeder kann sich eine Gruppierung vor Ort suchen, in deren Namen er interveniert.

Während der ersten Amtszeit von Präsident George W. Bush fühlten sich die Neokonservativen stark genug, eine Strategie der „konstruktiven Destabilisierung“ des Nahen Ostens zu empfehlen.11 „Wir erleben hier die Geburtswehen eines neuen Nahen Ostens, und wie wir auch weiter verfahren – wir sind entschlossen, diese neue Entwicklung zu fördern und niemals zum alten Nahen Osten zurückzukehren.“ So sprach US-Außenministerin Condoleezza Rice im Sommer 2006, als der Libanon von den israelischen Luftangriffen erschüttert wurde. Diese vermeintlich zynische Äußerung erntete damals heftige Kritik, aber in gewisser Weise hat die US-Außenministerin recht: Seit dem 11. September 2001 entsteht tatsächlich ein „neuer Naher Osten“. Doch mit den Vorstellungen der US-Strategen hat er wenig zu tun, vielmehr ist er zu einem stabilen Unsicherheitsfaktor in der Weltpolitik geworden.

Fußnoten: 1 Vortrag in Boston, am 11. April 2007, siehe bostonreview.net/BR32.3/burns.html. 2 Siehe www.whitehouse.gov/news/releases/2007/01/20070110-7.html. 3 Reagan benutzte diesen Begriff erstmals 1983 in einer Rede vor christlichen Fundamentalisten, siehe www.presidentreagan.info/speeches/empire.cfm. 4 Siehe Gérard Prunier, „Somalia ist nicht Afghanistan“, Le Monde diplomatique, September 2006. 5 Siehe Roland Marchal, „Somalie: un nouveau front antiterroriste?“, Les Études du CERI, Nr. 135, Juni 2007, Centre des études et de recherches internationales, Paris. 6 International Herald Tribune, 31. August 2007. 7 Siehe Vali Nasr, The Shia Revival: „How Conflict within Islam will Shape the Future“, New York (Norton) 2006, S. 230/231. 8 Am 7. Oktober 2007 wurde sogar eine Katjuscha-Rakete aus dem Gazastreifen abgefeuert, die präziser ist und eine größere Reichweite hat als die Kassam-Raketen. 9 Ha’aretz, 8. Juni 2007. 10 Es gibt eine Reihe von Stammesverbänden, die Sunniten wie Schiiten umfassen. Für sie hat die Stammeszugehörigkeit Vorrang vor der Religion. 11 Siehe dazu Walid Charara, „Der Wille zur Instabilität“, Le Monde diplomatique, Juli 2005.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Le Monde diplomatique vom 09.11.2007, von Alain Gresh