Minsk II, kleinste aller Hoffnungen
von Igor Delanoë
Als im Januar der Krieg im Osten der Ukraine an Heftigkeit zunahm, erschien das zweite Minsker Abkommen als ein Sieg der Diplomatie in einer extrem gefährlichen Situation. Dass Washington Anfang Februar lautstark darüber nachdachte, moderne Waffensysteme1 an die Ukraine zu liefern, erhöhte den Druck zusätzlich. So warfen Frankreich und Deutschland ihr ganzes Gewicht in die Waagschale, um durch ihre Friedensinitiative auf höchster Ebene die Gefahr einer militärischen Eskalation einzudämmen.
Fast 16 Stunden dauerten die Verhandlungen, bis die deutsche Kanzlerin und die Präsidenten Frankreichs, der Ukraine und Russlands am 12. Februar 2015 in der weißrussischen Hauptstadt Minsk zu einem Kompromiss gelangten. Mit 13 Punkten und einer Zusatzerklärung ähnelt das zweite Minsker Abkommen dem ersten vom 5. September 2014, das von den Vertretern Russlands, der Ukraine und der selbst ernannten Separatistenrepubliken unterzeichnet worden war.2 „Minsk II“ enthält zum einen die Vereinbarung über einen Waffenstillstand und dessen Umsetzung, etwa durch den Rückzug schwerer Waffen, zum anderen über Schritte zur Erhaltung der territorialen Einheit der Ukraine, wobei die Krim nicht erwähnt wird. In diesem Kontext geht es vor allem um eine Verfassungsreform, die zu einer Dezentralisierung des Landes führen soll.
Die Europäer taten sich schwer, den allzu lange vernachlässigten Dialog mit Russland wiederaufzunehmen. Die heutigen Schwierigkeiten rühren auch daher, dass sich die beiden Seiten angesichts der Probleme im Zusammenhang mit den „gemeinsamen Nachbarländern“ (Ukraine, Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland, Georgien und die Republik Moldau) lange Zeit nicht miteinander abgestimmt haben. Die Ukraine-Krise hat dieses Kommunikationsdefizit noch verschärft.
Im Mai 2009 hatte die EU mit den genannten Ländern das Projekt der „Östlichen Partnerschaft“ (ÖP) gestartet. Diese geht auf die Initiative Polens und Schwedens zurück, zwei Staaten mit einem historisch belasteten Verhältnis zu Russland. Im Rahmen der ÖP sollte bis Ende 2015 eine Freihandelszone etabliert werden, was jedes andere Abkommen der ÖP-Staaten mit Moskau ausgeschlossen hätte, obwohl sie mit Russland durch ein gemeinsames Regelsystem und sehr wichtige Handelsbeziehungen verbunden sind.3
Angesichts der ÖP-Initiative der EU trieb der Kreml seinerseits die Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion voran, zu der in jedem Fall die Ukraine gehören sollte.4 Die große Sorge Russlands bestand darin, dass Länder, die zur Sowjetunion gehört hatten, außenpolitisch an die Nato heranrücken und sich wirtschaftlich auf die EU zubewegen könnten. Deshalb forderte Moskau – parallel zur ÖP – eine „privilegierte Einflusszone“, die aber die Europäische Union und die USA nicht anerkennen wollten.
Damit befand sich die Ukraine – als östlicher Nachbar der EU und zugleich als „nahes Ausland“ Russlands – geopolitisch in der Zwickmühle. Dadurch lebten auch die innerukrainischen Ost-West-Gegensätze wieder auf. Dieser Kampf um Einflusszonen mündete in eine Krise, deren Verschärfung letztlich zum Krieg im Donbass führte. Diese Entwicklung nun wieder zurückzudrehen, fällt heute schwer.
Für die EU und die USA war die entscheidende Eskalationsstufe und der Auslöser der ersten Sanktionswelle die gewaltsame Annexion der Krim am 18. März 2014. Aus der Sicht Moskaus dagegen war der Point of no Return schon mit dem Regierungswechsel in der Ukraine vom 23. Februar 2014 erreicht. Zwei Tage zuvor hatten Präsident Janukowitsch und die Führer der ukrainischen Opposition dank der Vermittlung der Europäer und in Anwesenheit eines russischen Vertreters ein Abkommen erzielt, das den Ausweg aus der Krise weisen sollte. Der auch von den Außenministern Deutschlands und Polens unterzeichnete Text sah die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie sowie vorgezogene Präsidentschaftswahlen vor. Doch Janukowitsch floh am nächsten Tag nach Russland und Parlamentspräsident Turschinow wurde zum Übergangspräsidenten ernannt.
Angesicht dieser Ereignisse beschuldigte Russland die Europäer, sie hätten nicht nur die Umsetzung des Abkommens vom 21. Februar versäumt, sondern auch noch einen Staatsstreich unterstützt.
Eine entscheidende Wendung nahm die Krise, als am 17. Juli 2014 ein Flugzeug der Malaysia Airlines über dem Donbass abgeschossen wurde. Dies löste eine neue Welle von Sanktionen aus, die nun auf die russische Wirtschaft zielten. Im August wurden die Separatisten im Donbass vor der sicheren militärischen Niederlage bewahrt, indem sie „freiwillige“ Kämpfer und Nachschub aus Russland bekamen.
Die erfolgreiche Gegenoffensive der Aufständischen in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk (DNR) und Lugansk (LNR) führte zu Gesprächen in Minsk, wo die Kriegsparteien am 5. September das erste Abkommen unterzeichneten. Doch die Kampfhandlungen gingen bald weiter, da beide Lager sich mit der Situation nicht abfinden wollten: Die Regierung in Kiew sah ein Territorium mit 5 Millionen ukrainischen Bürgern ihrer Kontrolle entzogen; die Rebellengebiete hatten ohne Zugang zum Hafen Mariupol am Asowschen Meer und ohne Kontrolle über den Eisenbahnknotenpunkt Debalzewe (auf halber Strecke zwischen Donezk und Lugansk) keine wirtschaftliche Perspektive. Da die Umsetzung des Abkommens nicht wirksam überwacht wurde, brachen die Kämpfe wieder aus, vor allem um Mariupol und Debalzewe sowie den Flughafen von Donezk.
Das zweite Minsker Abkommen ist ein Produkt der europäischen Ängste sowohl vor einem Konflikt größeren Ausmaßes auf dem Kontinent als auch vor dem drohenden militärischen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch der Ukraine. Präsident Poroschenko, der die Niederlage von Debalzewe immer noch nicht wahrhaben wollte, obwohl zum Zeitpunkt der Minsker Verhandlungen 6 000 bis 8 000 ukrainische Soldaten dort eingekesselt waren, stand vor der Wahl, das Abkommen zu unterzeichnen oder einen verlorenen Krieg fortzusetzen. Kurz nach der Unterschrift gewährte der Internationale Währungsfonds (IWF) der Ukraine eine weitere Hilfe in Höhe von 17,5 Milliarden Dollar.
Für Russland bedeutete Minsk II die Chance, die Spaltung der Ukraine entlang der Waffenstillstandslinie im Donbass anerkennen zu lassen und als einzige Macht aufzutreten, die den Aufständischen einen Kompromiss abzuringen vermochte. Dabei konnte Putin für die östlichen Regionen der Ukraine einen Sonderstatus durchsetzen, ist aber gleichzeitig in der Lage, das Kräfteverhältnis innerhalb der Ukraine jederzeit zu verschieben. Damit hat Moskau den Fuß in der Tür und kann verhindern, dass die Ukraine der Nato beitritt. Ähnliches gilt für die „eingefrorenen“ Konflikte in Transnistrien und in Georgien (siehe Artikel auf Seite 17).
Das wichtigste Ziel des Abkommens bestand darin, trotz allgemeiner Skepsis ein Ende der Kampfhandlungen durchzusetzen. Das kann nur funktionieren, wenn die schwere Artillerie abgezogen und eine Pufferzone zu beiden Seiten des Frontverlaufs vom 10. Februar 2015 (für die ukrainische Armee) und vom 19. September 2014 (für die Separatisten) gebildet wird.
Die Überwachung des Waffenstillstands und des Abzugs der schweren Waffen obliegt der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die über 250 bis 350 Beobachter verfügt. Doch die Erfolgsaussichten für Minsk II bleiben gering, denn beide Kriegsparteien haben ihre Ziele nicht erreicht: Kiew konnte seine Herrschaft über die Territorien, die von den Separatisten gehalten werden, nicht zurückgewinnen, und die Aufständischen konnten nicht genug Gebiet dauerhaft sichern, um damit ihre Unabhängigkeitsforderungen zu untermauern. Deshalb sind neue und erbitterte Kämpfe um Mariupol zu befürchten.
Kämpfer aus Polen gegen „Freiwillige“ aus Russland
Das Abkommen hat noch weitere Schwächen: Viele Vereinbarungen sind vor Ort schwer umzusetzen, zudem sind die Kontrollmechanismen zu schwach. Und die Soldaten, die seit September ein Gebiet von weniger als 1 000 Quadratkilometern zu verteidigen oder zu erobern versuchen, werden ihre gefallenen und verwundeten Mitkämpfer nicht so leicht vergessen. Auch deshalb bleibt höchst fraglich, ob der Waffenstillstand hält. Zumal das Abkommen keine vollständig demilitarisierte Zone vorsieht und auch keinerlei Vorgaben für eine mögliche Eingreiftruppe macht, denn deren Zusammenstellung hätte zu neuen Zwistigkeiten geführt.
Der Rückzug von fremden Truppen, Söldnern und „illegalen Gruppen“ aus ukrainischem Territorium ist sehr schwer durchsetzbar und überdies an keinerlei Fristen gebunden. Wie soll ein OSZE-Beobachter einen Aufständischen aus Donezk von einem russischen „Freiwilligen“ unterscheiden, wenn beide perfekt Russisch sprechen? Zudem operieren die privaten Bataillone, in denen kroatische, polnische oder baltische Milizionäre dienen, zwar gemeinsam mit der ukrainischen Armee vor Ort, fühlen sich jedoch nicht an die Befehle aus Kiew gebunden. Sie haben vielmehr ideologische Motive oder werden von Oligarchen wie Igor Kolomojskij, dem Herrscher von Dnipropetrowsk, bezahlt.5
Das zweite Minsker Abkommen wird auch schwerlich eine Mehrheit in der Rada bekommen, wo die ukrainischen Abgeordneten noch bis zum 14. März im Detail festlegen können, welche Gebiete im Donbass künftig unter Sonderstatus stehen sollen. Eine solche Resolution wurde zwar bereits am 16. September 2014 verabschiedet, aber niemals umgesetzt. Im Rahmen der Dezentralisierung, welche diesen Gebieten eine gewisse sprachliche, wirtschaftliche und innenpolitische Autonomie verleihen soll, könnte der Sonderstatus auch die Aufstellung eigener Polizeieinheiten ermöglichen. Die politische Debatte über diesen Punkt wird sicher kompliziert, sowohl unter den Kriegsparteien wie auch innerhalb der ukrainischen Regierung, wo Falken wie Ministerpräsident Jazenjuk und Innenminister Awakow immer noch zum endgültigen Sieg über die Separatisten aufrufen.
An entschiedenen Gegnern von Minsk II mangelt es in Kiew ohnehin nicht. Zu den schärfsten Kritikern gehören der Chef der rechtsextremen Partei „Rechter Sektor“, Dmytro Jarosch, der das Abkommen nicht anerkennen will, und auch Außenminister Pawlo Klimkin, der erklärte, die Ukraine sei keinesfalls verpflichtet, eine Verfassungsreform durchzuführen oder dem Donbass eine größere Autonomie zu gewähren. Auch Präsident Poroschenko erklärte seit der Unterzeichnung von Minsk II mehrfach, die Föderalisierung der Ukraine stehe nicht auf der Tagesordnung. Die Aufständischen ihrerseits bestehen weiterhin auf der völligen Unabhängigkeit ihrer Landesteile.
Zudem steht die Ukraine vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen. Man muss nun nicht nur die zerstörten Gebiete wieder aufbauen, sondern auch die Auszahlung der Sozialleistungen im Donbass wieder aufnehmen, die im November 2014 auf Anweisung von Präsident Poroschenko unterbrochen wurde. Bei einer Rezession, die 2014 bereits 8,2 Prozent betrug, und einer Inflationsrate von fast 25 Prozent wird es der Ukraine extrem schwerfallen, diese Lasten zu schultern.
Das Hauptvertragsdokument von Minsk II wiederholt zwar zahlreiche Fehler, die schon Minsk I enthielt, aber die begleitende gemeinsame Erklärung6 gestattet dennoch einige positive Schlussfolgerungen. Russland, die EU und die Ukraine haben sich verpflichtet, in der Gasfrage zusammenzuarbeiten, die sich erneut stellen wird, sobald am 1. April 2015 das sogenannte Winterpaket7 ausläuft. Das Bemühen um wirtschaftliche Rettung könnte die Konfliktparteien einander wieder näher bringen.
Zudem scheinen die Europäer die russischen Bedenken über das Freihandelsabkommen zwischen EU und Ukraine inzwischen ernst zu nehmen. Im Zweiten Minsker Abkommen wird im Anhang das sprachliche Selbstbestimmungsrecht eines Teils des Donbass anerkannt, aber auch das Recht dieser Territorien auf Zusammenarbeit mit Russland. Solche Punkte deuten einen zaghaften Brückenschlag hin zu einer politischen Lösung an.
Der Waffenstillstand hat dann eine Chance auf Realisierung, wenn die radikalsten ukrainischen Bataillone jede Provokation vermeiden und wenn Moskau es schafft, die Separatisten vom Versuch weiterer Geländegewinne abzuhalten. Dann läge die Hauptlast der Verantwortung allerdings in Kiew. Die EU könnte Druck auf die Rada ausüben, um Präsident Poroschenko bei seiner schwierigen Vermittlungsmission zu helfen, die ihn angesichts seiner Wahlversprechen und gegenüber Teilen seines Kabinetts in Schwierigkeiten bringen kann.
Was die USA betrifft, so sind diese zwar nicht direkt in die Verhandlungen eingebunden und versteigen sich zu großen Versprechungen, verfügen aber durchaus über Druckmittel gegenüber dem ukrainischen Parlament. Vor allem durch die engen Kontakte zu Regierungschef Jazenjuk könnte Washington einiges zur Umsetzung des Minsker Abkommens beitragen.
Unterstützt wird der Westen auch durch den UN-Sicherheitsrat. Dieser verabschiedete am 17. Februar einstimmig die Resolution 2202, die eine vollständige Umsetzung des Minsker Abkommens fordert und die „volle Respektierung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität der Ukraine“ bekräftigt.