Ein Fall für Moskau
Transnistrien möchte in die Russische Föderation, doch der Kreml hat andere Pläne von Jens Malling
Mit Russland in die Zukunft!“ Auf dem Omnibus, der in Tiraspol die Straße des 25. Oktober entlangfährt, klebt ein riesiges Plakat. Der Text ist auf Russisch, neben Moldauisch und Ukrainisch eine der drei Amtssprachen der Moldauischen Republik Transnistrien. Auf dem Bild in Blau-Orange – es sind die Logofarben der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) – blickt eine Kleinfamilie erwartungsvoll in Richtung Kreml, dessen Silhouette als schützende Festung dargestellt ist.
Als Russland die Krim im März 2014 annektiert hatte, begann sich der Westen wieder verstärkt für die vielen „eingefrorenen Konflikte“ auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zu interessieren. Drei Monate später – die EU hatte gerade die Assoziierungsabkommen mit der Republik Moldau, der Ukraine und Georgien unterzeichnet – wurde darüber spekuliert, ob sich Russland nun auch Abchasien, Südossetien und Transnistrien einverleiben würde.
Schon 2006 hatte der damalige Präsident von Transnistrien, Igor Smirnow, zu einem Referendum über den „eventuellen Zusammenschluss mit Russland“ aufgerufen. Große Debatten fanden damals nicht statt. Am Ende stimmten 98 Prozent der Wähler dafür.
Die russische Geschichte Transnistriens beginnt mit dem Friedensvertrag von Jassy, den Russland und das Osmanische Reich nach fünf Jahren Krieg 1792 unterzeichneten. Russland erhielt alles Land östlich des Dnjestr, der so zum Grenzfluss wurde. Während der westliche Teil des damaligen Fürstentums Moldau osmanisch blieb, wurde der östliche Teil 1812 dem russischen Gouvernement Bessarabien zugeschlagen (siehe Karte).
Von 1944 bis 1991 gehörte Transnistrien zur Moldawischen Sowjetrepublik. Im Juni 1990, als sich die UdSSR aufzulösen begann, protestierte Transnistriens slawophone Bevölkerung gegen ein neues Gesetz, das Rumänisch zur alleinigen Amtssprache Moldawien erklärte.1 Im März 1992 versuchten moldauische Truppen das Gebiet, in dem fast 60 Prozent der Bevölkerung entweder Russen oder Ukrainer sind,2 unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie wurden zurückgedrängt – mithilfe der ehemaligen 14. Gardearmee der UdSSR, die ihr Hauptquartier in Tiraspol hatte. Am 21. Juli 1992 kam es zum Waffenstillstandsabkommen, das zwar die Kriegshandlungen beendete, aber nicht den eigentlichen Konflikt, der heute als „eingefroren“ bezeichnet wird.
Transnistrien, ein schmaler Streifen Land von 3 500 Quadratkilometern, auf dem 500 000 Einwohner leben, ist de facto unabhängig. Es hat eine eigene Regierung, ein Parlament, eine Armee, eine Polizei, eine eigene Post. Es gibt eine Verfassung, eine Nationalflagge, eine Hymne und ein Staatswappen. Doch für die Vereinten Nationen gehört Transnistrien zur Republik Moldau.
Auf dem östlichen Ufer des Dnjestr begegnen einem heute immer wieder Männer mit russischen Uniformabzeichen. Sie gehören neben Moldauern und Transnistriern zu der 1992 gebildeten Friedenstruppe. Schätzungen zufolge halten sich heute etwa 2 000 russische Soldaten in Transnistrien auf, von denen zwischen 400 bis 500 zu dieser Friedenstruppe gehören. Der Rest ist Teil der Operationellen Gruppe der russischen Streitkräfte in Moldau (OGRF), die aus der ehemaligen 14. Gardearmee hervorging. Ihre Anwesenheit wird von Moldau und den meisten westlichen Regierungen als unrechtmäßig betrachtet. Moskau dagegen argumentiert, dass die Präsenz der OGRF in Transnistrien notwendig sei, um die Waffenbestände aus der Zeit des Kalten Kriegs zu schützen, die insbesondere im Dorf Kolbasna im Norden des Landes lagern.
Diese russische Militärpräsenz auf moldauischem Boden stellt laut US-Senator John McCain, der „die Aufnahme Moldaus und Georgiens in die Nato beschleunigen“ möchte, ein bedeutendes Hindernis dar.3 Es gibt zwar keine offizielle Regel, die es verbieten würde, einen Staat, der in einen eingefrorenen oder „offenen“ Konflikt verwickelt ist, in die Nato aufzunehmen. Doch in der Praxis hätten weder die Ukraine noch Georgien oder Moldau eine Chance. Zu groß wird die Gefahr eingeschätzt, dass die Bündnispartner gemäß Artikel 5 des Nato-Vertrags in einen Konflikt hineingezogen werden könnten.
Entscheidung gegen Moldau
Am 18. März 2014, kurz nach der Annexion der Krim, wandte sich der Sprecher des transnistrischen Parlaments, Michail Burla, mit einem Ersuchen an den Vorsitzenden der russischen Duma, Sergei Naryschkin: Transnistrien wolle der Russischen Föderation beitreten. Moskau unterstützt das Land großzügig mit billigen Gaslieferungen, und wer einen russischen Pass besitzt, bekommt auch etwas Rente aus Russland. 180 000 bis 200 000 Transnistrier, also etwa 35 Prozent der Bevölkerung, sollen einen russischen Pass haben. Dennoch wurde Burlas Ansinnen zurückgewiesen.
Nadjeschda Gynj, eine 60 Jahre alte Rentnerin aus Tiraspol, besitzt ebenfalls einen russischen Pass. Mit einem Besen aus zusammengebundenen Reisigzweigen kehrt sie gerade den Hof. „Hier sind wir für Russland“, sagt sie und macht eine kurze Pause. Auf die Frage, wie sie ihr Leben hier in Transnistrien beschreiben würde, antwortet Nadjeschda: „Normal, wir führen ein ganz normales Leben.“ Sie sagt, sie sei Russin, geboren wurde sie in der ukrainischen Hafenstadt Odessa. Dort wohnen auch heute noch viele ihrer Angehörigen. Früher hat sie in einer Textilfabrik in Tiraspol gearbeitet. Ihre Tochter ist weggezogen, nach Smolensk in Russland.
„Hier lebt man besser als in Moldau“, meint die Bäuerin Walentina Boiko, die aus ihrem Dorf in die Stadt gekommen ist, um in den Wohnblocks Milch in Flaschen zu verkaufen. Diesen Satz hört man hier oft. Tatsächlich sind die kommunalen Dienstleistungen in moldauischen Städten viel teurer als in Transnistrien. Die meisten glauben nicht, dass das geplante Assoziierungsabkommen mit der EU daran viel ändern wird. Im Westen Moldaus gehen 62 Prozent der Bevölkerung davon aus, dass alles sogar noch teurer wird.4 Das könnte unter anderem den großen Zuspruch für die prorussischen Parteien erklären, die bei den letzten Parlamentswahlen am 30. November 2014 39 Prozent der Stimmen bekamen und sich nur knapp dem prowestlichen Block mit 44 Prozent geschlagen geben mussten.
Das transnistrische Wirtschaftsmodell ist ein Mix aus Sowjetsozialismus und freier Marktwirtschaft. Ein von Russland alimentiertes Sozialwesen besteht neben oligarchischen Strukturen, wie man sie aus vielen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken kennt. Ein Beispiel ist die Sheriff-Gruppe von Viktor Gushan, der im Groß- und Einzelhandel quasi ein Monopol aufgebaut hat. Gushan besitzt unter anderem Supermärkte und Tankstellen. Das Firmenlogo ist in hier allgegenwärtig.
Transnistrien produziert hauptsächlich Stahl, Zement, Textilien und Elektrizität. 95 Prozent gehen in den Export.5 Die wichtigsten Handelspartner sind Moldau, Russland, Rumänien, die Ukraine und Italien, doch es wird auch nach Deutschland, Österreich und Griechenland exportiert.
Aus eigener Kraft könnte sich das kleine Land kaum finanzieren. Ohne die Einnahmen aus dem Weiterverkauf der russischen Gaslieferungen gegen Aufschlag an die eigene Bevölkerung, die Rücküberweisungen von Emigranten und die direkten Finanzhilfen aus Moskau wäre dieser Staat schon längst zusammengebrochen. Seit der Sezession vor 23 Jahren wird er nun von Moskau unterstützt. Zwischen 2008 und 2012 betrug die Hilfe, die hauptsächlich in Pensionen und Armenspeisungen floss, etwa 27 Millionen US-Dollar (über 20 Millionen Euro) pro Jahr.6
Frau Gynj würde gern mehr Rente bekommen. Sie erhält umgerechnet rund 100 Euro monatlich. Doch die Miete kostet allein schon fast 80 Euro. Deshalb bessert sie ihr Einkommen damit auf, an fünf Tagen in der Woche die Höfe auszufegen. Ihr Mann stand damals im Sezessionskrieg gegen Moldau an der Front. Der Krieg in der Ukraine hat schlimme Erinnerungen wachgerufen. „Ich weiß nicht, was ich von der Auseinandersetzung mit dem Westen halten soll; aber uns hilft Russland. Ich hoffe, es gibt bald Frieden in der Ukraine.“
Transnistriens Lage zwischen der Ukraine und der Republik Moldau macht das Land gerade in der jetzigen Situation für die russische Regierung interessant, die die Expansion von EU und Nato in die ehemaligen Sowjetrepubliken unbedingt aufhalten will. „Es gibt keinen Zweifel, dass die Bevölkerung Transnistriens prorussisch eingestellt ist“, sagt Artem Filipenko, der in Odessa eine Außenstelle des Kiewer Instituts für Strategische Studien leitet. Die politische Führung sei offensichtlich der Ansicht, dass das EU-Assoziierungsabkommen mit Moldau nicht den Interessen Transnistriens diene.
Vetorecht für Russlandfreunde
Kamil Calus vom Warschauer Zentrum für östliche Studien meint, dass Russland in Transnistrien offensichtlich die gleiche Strategie verfolgt wie in der Ostukraine, wo sich die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk am 7. beziehungsweise 27. April 2014 abgespalten haben. Bis jetzt hat kein Staat diese Gebilde offiziell anerkannt. „Moskaus Plan für Transnistrien ist nicht, seine Unabhängigkeit oder seinen Anschluss an die Russische Föderation zu unterstützen“, meint Calus. „Im Gegenteil: Russland möchte, dass Transnistrien Teil eines föderalen Moldaus ist. Die Idee ist, das Gebiet zu nutzen, um einen ‚Fuß in der Tür‘ zu haben, um dann ganz Moldau zu kontrollieren und seine Hinwendung zum Westen zu verhindern. Das Gleiche gilt für die neuen Republiken im Donbass. Moskau möchte, dass sie Mitglieder einer föderalen Ukraine werden. Man will sie dazu nutzen, die Integration der Ukraine in Organisationen wie der EU und der Nato zu blockieren.“
Eine Art Blaupause dieser russischen Strategie stellt das sogenannte Kozak-Memorandum von 2003 dar, in dem Moskau Vorschläge für eine Lösung des Konflikts unterbreitete. Nach diesem Plan sollte Transnistrien ein Vetorecht über alle wichtigen Entscheidungen in Chisinau übertragen werden. Dies sollte durch einen Umbau des moldauischen Senats ermöglicht werden, in dem Transnistrien und die ebenfalls sezessionsbereite Region Gagausien im Süden des Landes zusammen 13 von 26 Sitzen bekommen sollten.7 Zudem sollte die Stationierung der russischen Truppen in dem neuen Föderalstaat bis 2020 legalisiert werden. Wäre dieses Memorandum umgesetzt worden, hätte Moldau keine Chance mehr gehabt, jemals in die europäischen oder atlantischen Organisationen aufgenommen zu werden, meint Calus.
Dass Moskau diese Strategie auch auf die Ukraine anwenden könnte, zeigte sich am 30. März 2014, als der russische Außenminister Sergei Lawrow verlangte, dass „die USA und ihre europäischen Partner den Vorschlag akzeptieren, den russischsprachigen Regionen im Osten und Süden der Ukraine weitgehende Autonomierechte gegenüber Kiew zu bewilligen“.8 Laut einem Bericht des finnischen Instituts für internationale Angelegenheiten vom Dezember 2014 wollte die Kiewer Regierung jedoch nur einer „Dezentralisierung“ zustimmen, das heißt die lokalen Behörden hätten mehr Kompetenzen bekommen, aber die verfassungsrechtliche Struktur der Ukraine sollte unangetastet bleiben.9
Transnistrien und die vom Krieg verwüstete Donbass-Region sind darüber hinaus kaum vergleichbar. Im Donbass leben zehnmal mehr Menschen, es gibt eine gemeinsame Grenze mit Russland und – zumindest offiziell – keine russischen Soldaten. Im Gegensatz zu Transnistrien verlaufen durch die Separatistengebiete auch keine für die Ukraine wichtigen Pipelines. Damit fehlt den Kämpfern ein wichtiger Trumpf für Verhandlungen.10 Außerdem bräuchte der Donbass viel mehr Militär- und Finanzhilfe aus Russland als das kleine Transnistrien. Zu guter Letzt dürfte es für Russland sehr viel schwieriger werden, den Fall Donbass als „eingefrorenen Konflikt“ zu handhaben.
Am Beispiel Transnistrien wird noch etwas erkennbar: Wenn der Westen die strategischen Interessen Russlands ernst nimmt, kann er mit den unsicheren Verhältnissen in den ehemaligen Sowjetrepubliken auch ganz gut leben.