In Europa werde ich Zuflucht finden
Flüchtlingsgeschichten aus dem türkisch-bulgarischen Grenzgebiet von Stefano Liberti
Flüchtling bin ich. Meine Geschichtebewegt die Menschen.Ich kann ganze Zeitungsseiten füllen. Ich lebe von Lügen, bin zur Nahrungdes Meeres geworden. Die Flüsse tragen meinen zerstückelten Körper fort. Ein Wald nimmt mein Wehklagen auf.Ich sterbe vor Kälte, und mein Herz ist gebrochen vom Schrei meiner Leiden. Ein Schmerz, der meine erlittenen Leidennicht vergessen lässt. Niemand hat mein Wehklagen erhört. In den Wäldern Bulgarienshabe ich meine Leiden begraben.
Magead Ali liest die Verse laut und deutlich vor. Um ihn herum Schweigen, die Menschen weinen stumm, wirken stolz, konzentriert, auf der Hut. Die Gedichtzeilen gehen unter die Haut wie eine Nadel, die eine Fleischwunde näht. Sie wecken Erinnerungen, knüpfen an gemeinsame Erfahrungen an, sie geben einer Tragödie einen Sinn, die sonst nicht zu ertragen wäre. Magead Ali ist ein Mann und ein Vater; aber er steht hier für alle Flüchtlinge, die ihre Hoffnungen in den bulgarischen Wäldern begraben haben.
Harmanli ist ein kleines Dorf 50 Kilometer von der türkisch-bulgarischen Grenze entfernt. Der Dichter Magead Ali lebt heute hier, weit weg von seinem Dorf, von der Welt, die ihm lieb und teuer ist und die er wahrscheinlich nie wieder sehen wird. Sein neues Zuhause liegt in einem militärischen Sperrbezirk: verfallende Schlafbaracken für die Truppe, hastig aufgestellte Container in einer Reihe, eine Ambulanz und ein Appellplatz, wo einst die Fahne gehisst wurde und heute Dutzende von Kindern, die von weit her gekommen sind, hinter einem Ball herrennen. Die Kaserne ist ein Aufnahmelager, ein Dorf im Dorf. 2 000 Menschen leben hier, Frauen, Männer, Kinder, fast alle aus Syrien.
Auch Magead Ali ist Syrer. Bevor er vor den IS-Terroristen fliehen musste, lebte er in der Nähe von Qamischli, im Kurdengebiet an der Grenze zum Irak. Er war Anwalt, hatte ein ruhiges, ausgefülltes Leben, sagt er und schenkt einem dazu einen Blick und ein sanftes Lächeln, das aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Über die Türkei hat er mit seiner Familie versucht, nach Europa zu kommen; und ist nun hier, am nächstgelegenen Eingang zur EU, in Bulgarien.
Magead Ali hat für diesen Grenzübertritt viel Geld bezahlt. 6 000 Euro für sich, seine Frau und die fünf Kinder. Es war nicht einfach. Innerhalb eines halben Jahres haben sie es zehnmal versucht und dreimal geschafft, über diese Grenze zu gelangen, die so unscheinbar wirkt und doch unüberwindbar wie eine Mauer ist. In Bulgarien sind sie gelaufen, stundenlang, aber dann hat sie die Polizei doch erwischt. Die nahm ihnen alles ab – „Handys, iPad, Kleidung, einfach alles“ – und schickte sie zurück in die Türkei. Magead Ali erzählt das ohne Zorn, seine Stimme bleibt immer ruhig, sein freundliches Lächeln verzieht sich nicht mal dann zur Grimasse, wenn er die dunkelsten Momente in Erinnerung ruft.
Ich bin eine Ware geworden, die jeder erwerben kann, der Geld hat. Aber seit wann, seit wann bin ich einer, den man verkaufen kann?
Beim letzten Mal saß er mit Frau und Kindern in einem Lastwagen, alle sieben versteckt auf der Pritsche. Wenn du einmal zahlst, hast du Anspruch auf so viele Versuche, wie du willst. Die Vermittler, die smugglers, verkaufen dir einen Service und kassieren nur, wenn du es schaffst – zufrieden oder Geld zurück. Und so versuchten es Magead Ali und seine Familie immer wieder, wie aus Trägheit, ohne noch wirklich daran zu glauben, weil sie sonst nichts zu tun hatten. Und auf einmal waren sie, völlig unerwartet, tatsächlich drin. Zwar wurden sie an einem Checkpoint entdeckt, aber diesmal siegte das Mitleid, man ließ sie durch, brachte sie ins Aufnahmelager Harmanli, wo sie Antrag auf Asyl stellten.
Ich war ein Haus, in dem viele Zuflucht fanden.Der Iraker, der Palästinenser, der Libanese.Und nun strecke ich meine verwundete Hand aus.Aber niemand versorgt meine Wunden.
Der Weg nach Europa ist eine Lotterie, die Glücksnummer der Beamte, der heute vielleicht gerade gute Laune und einen Sohn im Alter deines Sohnes hat und diesmal entscheidet, dich nicht zurückzuschicken. Aber im Prinzip ist die Grenze dicht. Bulgarien verteidigt den Zugang nach Europa, man will sich schließlich den Zutritt zum exklusiven Schengen-Club verdienen.
Magead Ali ist Dichter und Sprachrohr für ein kollektives Leid. Seine Geschichte ist die von allen, die hier in Harmanli gestrandet sind. Vor allem ist es die der Syrer, deren Land nicht mehr existiert und die sich noch schwertun, sich als ein Volk von Flüchtlingen zu begreifen. Das aber würde niemandem leichtfallen: Denn die Syrer, die an die Tore Europas klopfen, sind nicht die Ärmsten der Armen. Sie sind Ingenieure, Anwälte, Handwerker, Professoren. Sie sind die vom Krieg verjagte Mittelklasse, die Häuser, Schmuck und Autos verkauft hat, um sich das Ticket in ein neues Leben kaufen zu können. Es sind gebildete Menschen, denen nichts anderes übrig bleibt, als illegal in ein Europa zu kommen, das sie unbedingt draußen halten will.
Ihre Gesichter sind noch nicht abgestumpft, ihre Bäuche nicht vom Hunger aufgetrieben. Wenn sie dich in den Zimmern der Kaserne empfangen, die ihr Zuhause geworden ist, lassen sie dich auf einem Teppich Platz nehmen und laden dich zum Mittagessen ein. Sie erzählen von ihrem früheren Leben: von Spielplätzen und Cafés, wo man bis spät in die Nacht Shisha rauchte und sich keine Sorgen über die Zukunft zu machen brauchte. Sie singen gemeinsam, sie tanzen und klatschen in die Hände, sie verfolgen die Nachrichten übers Internet. Sie leiden mit Kobani, sie empören sich über den Anschlag von Paris. Sie sind mit der Welt verbunden und verstehen nicht, warum die Welt sich nicht mit ihnen verbindet.
Sie schreiben Gedichte über ihre Leiden, sie machen Zeichnungen, in denen Europa ein dicker Mann ist, der nicht über seinen fetten Bauch hinwegsehen kann, auf Syrien in Flammen, die Syrer auf der Flucht; oder Europa ist ein Stacheldrahtzaun, in dem sich ein Mann verfängt, während ein anderer Mann von der anderen Seite aus gleichgültig zusieht; oder, wieder anders, ein Bild, wo das syrische Volk unter einem Regenschirm Schutz sucht, doch der ist voller Löcher. Die Bilder posten sie auf Facebook.
Sie chatten mit den Verwandten in Syrien und mit denen, die es ins „reiche Europa“ geschafft haben. Sie fragen sich: „Warum will uns Europa nicht?“ „Warum gibt man uns kein Visum und zwingt uns, als Illegale zu reisen?“ Sie schauen sich um, in dieser bulgarischen Kaserne, die ihr Zuhause geworden ist, und bitten um Entschuldigung für die bröckelnden Mauern, die verdreckten Toiletten, für das Essen, das nicht so ist, wie sie es gern angeboten hätten, „das nächste Mal wird es besser, wir hatten keine Zeit etwas vorzubereiten“.
Deswegen findest du mich hier, auf der Suche nach einer sicheren Zuflucht, in der ich aufgehoben sein kann mit meinen Kleinen. Ich bin auf der Suche nach einem warmen Nest und finde es nicht.In Europa werde ich Aufnahme finden wie an der Brust einer Hure, wo ich all meine Schmerzen und Leiden vergessen kann.
Beim Übersetzen der Verse von Magead Ali entschuldigt sich Mohammed bei uns Europäern, als hätte der Dichter unsere Mutter beleidigt. Er ist verlegen, und wir müssen lächeln. Dann denken wir aber: Vielleicht weißt du erst dann wirklich, wie sehr du an deine Heimat gebunden bist, wenn du sie verlierst und nicht mehr zurückkannst. Mohammeds Welt gibt es nicht mehr, er will sich ein neues Leben bei uns aufbauen – doch unsere Welt will ihn nicht haben.
Mohammed ist 34. Er ist Englischlehrer, unterrichtete in Aleppo und jetzt als Freiwilliger im Camp. Auch er wurde drei- oder viermal zurückgeschickt, bevor er in Bulgarien bleiben konnte. Auch er erzählt davon ohne Zorn, als wäre es eine Tatsache, die man hinnehmen muss, ein Katz-und-Maus-Spiel. Vielleicht, sagt er und zieht nachdenklich die Augenbrauen hoch, geht es Europa bei den Syrern auch um so etwas wie natürliche Selektion, eine Art Auswahl der Besten. „Nur die Aufgewecktesten, die Smartesten kommen rein, die anderen bleiben draußen.“ Aber die Selektion scheint sich vor allem am Geld zu entscheiden – die Reichen, die die Schlepper bezahlen können, schaffen es, die anderen vermodern unter den Trümmern ihrer Heimatdörfer oder in den Flüchtlingscamps auf der anderen Seite der Grenze.
Mohammed hat 2 500 Euro gezahlt. In Wahrheit waren es sogar 9 000 Euro – für das Gesamtpaket, den ganzen Weg über die Türkei bis nach Deutschland. Aber nachdem er in Bulgarien aufgriffen wurde, haben die Vermittler das „Ticket“ storniert und den Rest zurückgegeben. Mohammed, der den jungen Leuten im Camp als Freiwilliger Englischunterricht erteilt, will seine Karriere in einem europäischen Land fortsetzen. Er sagt es wirklich genau so: „Meine Karriere“. Man begreift, dass diese Kriegsflüchtlinge nicht in den Tag hinein leben, dass sie konkrete Ziele verfolgen. Sie hatten sie, bevor der Krieg, den sie nicht kommen sahen, sie überraschte, und sie haben sie immer noch, auch nach vier Jahren.
Aber wie soll es nun weitergehen, mit diesen Projekten? In Bulgarien fühlen sie sich verraten, in der Falle. Doch nach EU-Recht (Dublin II) müssen sie hier den Antrag auf Asyl stellen und bleiben. Auch wenn sie in anderen Ländern Freunde und Verwandte haben. Also machen sich viele illegal auf den Weg, um via Serbien, Ungarn und Österreich ins reiche Europa zu gelangen. Für die meisten von ihnen ist das Deutschland. Aber die, die man aufgreift und die das Glück haben, nicht in die Türkei zurückgeschickt zu werden, kommen wieder hierher, in die Exkaserne von Harmanli, die heute das größte Aufnahmelager Bulgariens ist. Sie haben keine andere Wahl, als die Entscheidung der bulgarischen Behörden abzuwarten. Sie setzen sich, sie lassen sich identifizieren, und sie hoffen.
Aber sie geben nicht auf. Trotz aller Härte und Unerbittlichkeit versuchen viele, die Regeln zu ignorieren. Sie bleiben die sechs Monate, die erforderlich sind, um den Status als Flüchtling zu bekommen. Und dann machen sie sich wieder auf den Weg. Sie wissen, dass ihre Fingerabdrücke in Bulgarien sind; sie wissen, dass die Dublin-Verordnung sie dazu verurteilt, nach Bulgarien zurückzugehen, wenn sie aufgegriffen werden. Aber sie fahren trotzdem los. Denn, sagt Mohammed, wenn du alles zurückgelassen hast, „dann hält dich kein Grenzschützer mehr auf und kein Gesetz, das in irgendeiner Behörde in Brüssel geschrieben worden ist“.
Meine Fingerabdrücke sind jetzt bekannt in der Türkei und anderswo. Sie haben mich nach Aksaray gebracht von einer verräterischen Hand zur anderenund haben meinen Preis kassiert.Wie konnte ich nur zu einer Ware von geringem Wert werden?
Marko Petrow ist der Direktor von Harmanli. Ein Hüne von Mann, zwei Meter groß, riesiger kahler Schädel, in dem zwei sehr blaue Augen blitzen. Er muss lächeln, wenn er sich seine neue Position vergegenwärtigt. Petrow war Oberst in der bulgarischen Armee. Zu Zeiten des Warschauer Pakts standen 11 000 Soldaten unter seinem Befehl. Heute kümmert er sich um Kost und Logis für 2 000 Flüchtlinge, die in den ehemaligen Räumen seiner Soldaten schlafen. „So ändern sich die Zeiten“, sagt er kopfschüttelnd, und dabei meint man zu verstehen, dass ihm sein heutiges Leben besser gefällt, ein Art Ehrenamt kurz vor der Pension. Dass ein Oberst zum Leiter eines Aufnahmelagers für Asylsuchende wird, macht stutzig: Hat Bulgarien keine qualifizierteren Leute? Oder meint man an der Front eines Kriegs zu stehen? Wohl nicht zufällig hat der bulgarische Innenminister Weselin Wutschkow vorgeschlagen, die Grenze durch reguläre Truppen sichern zu lassen.
Im Oktober 2013 wurde aus der Kaserne Harmanli ein Auffanglager; dessen Zustand war anfangs erbärmlich. Die Flüchtlinge mussten in Zelten schlafen, ohne Heizung, ohne sanitäre Anlagen und regelmäßige Mahlzeiten.1 Mit der Zeit verbesserten sich die Dinge. Seit Beendigung der Renovierungsarbeiten schlafen die Bewohner in warmen, wenn auch überbelegten Zimmern und in Containern, die man im Garten aufgestellt hat.
Der Direktor leiert Zahlen herunter: „Im Moment haben wir 1 976 Bewohner, es sind 347 Familien und 40 Minderjährige ohne Begleitung. 87 Prozent kommen aus Syrien. Die Asylbewerber bleiben im Durchschnitt sechs Monate, die Zeit, die es braucht, um ihren Antrag zu prüfen. Wenn sie asylberechtigt sind, haben sie einen Monat Zeit, eine Aufenthaltserlaubnis für Bulgarien zu beantragen und einen Integrationskurs zu beginnen.“ Allerdings weiß der Oberst: „Niemand will hier bleiben. Wir sind nur ein Durchgangsland. Alle ziehen weiter.“
Hinter seinem Schreibtisch hängen das Bild des Staatspräsidenten und zwei Flaggen, die bulgarische und die der Europäischen Union. Marko Petrow ist kein Bürokrat, er ist im Kern Soldat geblieben, er spricht eine klare Sprache: „Wir müssen nach dem Dublin-Abkommen mit 7 500 Rückführungen in den nächsten Wochen rechnen. Wenn die wirklich alle kommen, weiß ich nicht, wie das gehen soll. Wir können einen solchen Zustrom nicht bewältigen.“
Dublin ist das Wort, das von Mund zu Mund geht. In den Höfen der Kaserne, in den Zimmern, wo die Familien wohnen, auf den Spruchbändern, die die Flüchtlinge an die Wände gepinnt haben: Nieder mit Dublin! Sogar die Kinder sagen es. Sie haben nichts gegen eine europäische Hauptstadt, die die meisten gar nicht kennen, sondern sie protestieren gegen einen Mechanismus, der ihnen wie eine Falle vorkommt. „Wir sind in Europa, doch es ist nicht Europa“, sagt Mohammed. „Warum lässt man uns nicht unsere Reise fortsetzen?“
Meine Geschichte bewegt die Menschen,doch die Welt hört nicht zu. Und der Verräter hat freie Hand in den Straßen meines Landes.
Die Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei ist ein vier Meter breites, mehr oder weniger ausgetrocknetes Flussbett, über das eine wacklige Holzbrücke führt. Die weite, öde Ebene ringsum ist hier und da mit Schneeresten gesprenkelt. In der Ferne sieht man die alten türkischen Wachtürme. Auf der bulgarischen Seite stehen die Infrarotkameras, die das Tor nach Europa bewachen – und jeden aufhalten, der den Versuch macht, illegal einzureisen.
„Sobald die Sensoren eine verdächtige Bewegung registrieren, senden sie ein Signal an die Kameras, die die Sektoren abdecken. Wenn es sich um Illegale handelt, wird von der Kontrollzentrale eine Patrouille losgeschickt, um den Übertritt zu verhindern.“ So beschreibt Dinko Iwanow, Einsatzleiter der Grenztruppen in diesem Sektor, nicht ohne Emphase die Mittel, die sein Land einsetzt, „um die Grenze zu verteidigen“.
1 500 Mann, mit Hunden, fest installierten Überwachungskameras, Nachtsichtgeräten, Wärmebildkameras, Bewegungsmeldern – alles, um die sogenannte grüne Grenze zu kontrollieren, diese gedachte Linie, die man nicht sehen kann, die aber so dicht wie eine Mauer ist. Und trotzdem, trotz all der Geräte und Ausrüstungen, kommen die meisten Flüchtlinge hier herüber. Neben der wackligen Brücke finden sich ihre Spuren: kaputte Handschuhe, Schuhe, ein Schal, Konservendosen, ungeöffnete Bonbontütchen, ein türkischer 10-Lira-Schein. Wer diese Überreste sieht, stellt sich unweigerlich die Menschen und ihre Schicksale vor, Männer, Frauen und Kinder, die versuchen, heimlich über die Grenze zu kommen, dann die Grenztruppen, die Hunde, die Flucht und schließlich die Abweisung.
Dinko Iwanow ist ein ehrgeiziger Mensch: Er hat sich selbst via Internet Englisch beigebracht; deshalb ist er zum örtlichen Frontex-Koordinator befördert worden. Die europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen führt hier eine Beobachtungs- und Ausbildungsmission durch, als Ableger einer Mission an der griechisch-türkischen Grenze. Hier am Dreiländereck stehen Flüchtlinge, die über die Türkei kommen, vor der Wahl: Denn jenseits des Evros, den die Bulgaren Mariza und die Türken Meric nennen, liegt Griechenland.
Seit Griechenland einen vier Meter hohen und zehn Kilometer langen Sperrzaun hat bauen lassen, haben sich die Bewegungen an diesem Grenzabschnitt Richtung Bulgarien verlagert. Iwanow verweist auf die zeitlichen Zusammenhänge: Griechenland hat den Zaun im Dezember 2012 fertiggestellt, 2013 stiegen die Grenzübertritte nach Bulgarien deutlich an. In diesem „annus horribilis“ kamen 11 000 Migranten über die Grenze.
Als Reaktion darauf entwickelte Sofia den „Eindämmungsplan“. Man stellte zusätzliche Einsatzkräfte und Mittel bereit und baute nun seinerseits einen Sperrzaun, 27 Kilometer lang, im weiter nördlichen, gebirgigen und schwer zu überwachenden Grenzabschnitt. Außerdem hat man sich mit Ankara verständigt: Die bulgarischen Grenzer sagen den türkischen Kollegen Bescheid, wenn sie einen „illegalen“ Grenzübertritt beobachten und Personen festhalten.
Die Türken nehmen alle Flüchtlinge, die abgewiesen wurden, wieder auf. Die Resultate ließen nicht auf sich warten: 2014 sank die Zahl der erfolgreichen Grenzübertritte um 6 000. Hinter dieser Zahl verbirgt sich eine andere: Im Lauf des Jahres gab es 39 000 Versuche, die Grenze zu passieren. Iwanow spezifiziert die Zahlen: 2 083 Personen ist es gelungen, über die grüne Grenze zu kommen, 15 362 wurden aufgehalten. Über den „Border Checkpoint“, den alle hier nur BCP nennen, am offiziellen Grenzübergang also zwischen der Türkei und Bulgarien, sind 4 056 Asylbewerber gekommen, 17 335 wurden abgewiesen.
Hinter den kalten, mechanisch vorgetragenen Zahlen stehen die Gesichter von Magead Ali, seiner Frau und ihrer fünf Kinder: eine Familie, die man mit zehn multiplizieren muss, wenn sie in die Statistik der Fluchtversuche passen soll – denn so oft haben sie ja versucht, die grüne Grenze zu überqueren. Oder das Gesicht von Mohammed, dem Lehrer, der drei- oder viermal abgewiesen wurde, er weiß es selbst nicht mehr genau. Oder von Idriss, dem Künstler, der die Grenze als Stacheldrahtzaun zeichnet. Er selbst ist versteckt an Bord eines Güterzugs nach Bulgarien gekommen, schon beim zweiten Versuch, „ich gehöre zu denen, die sehr viel Glück hatten.“
„Wenn sie einmal in Bulgarien sind, sind wir verpflichtet, sie aufzunehmen“, sagt Iwanow wie in einem offiziellen Statement. Aber seine offizielle Darstellung passt nicht zu der von Magead Ali, der schon seit Stunden in Bulgarien war und dann doch mit Frau und Kindern zurückgeschickt wurde, „ohne Telefon, ohne iPad, ohne Gepäck“. Und sie widerspricht auch den Erzählungen der anderen Flüchtlinge in Harmanli, die alle mindestens eine Abschiebung hinter sich haben, auch denen, die man im türkischen Edirne hört, und nicht zuletzt den Berichten von Human Rights Watch.2 Es gibt inzwischen so viele und so detaillierte Berichte über diese „Push back“-Aktionen, dass die Europäische Kommission im April 2014 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Bulgarien eingeleitet hat.
Obwohl das „Push back“ gegen internationales Recht verstößt, scheint es gang und gäbe zu sein: Die potenziellen Asylbewerber werden zur Grenze zurückgebracht, ohne identifiziert zu werden, ohne die Frage, ob sie Asyl beantragen wollen. Und oft genug wird ihnen auch noch ihre ganze Habe gestohlen, wie es dem Dichter und seiner Familie widerfuhr. In anderen Fällen bringt man sie zum BCP und übergibt sie den Türken.
Bulgarien ist nicht das einzige Land, das sich so verhält. Ähnliches wird von der griechisch-türkischen Grenze berichtet3 und von den Übergängen an den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko.4 Europa hat beschlossen, dass Einwanderer fernzuhalten sind, auch wenn es sich um Menschen auf der Flucht handelt – Asylbewerber werden draußen gehalten, mit Kameras, Stacheldrahtzäunen, Sensoren, Gummigeschossen. Es geht zu wie im Krieg. Und wie jeder Krieg fordert auch dieser seine Opfer: Von 2000 bis 2013 sind mindestens 27 000 Migranten bei dem Versuch, in die EU zu gelangen, ums Leben gekommen.5
Sie haben uns so viele Versprechungen gemacht mit großen Worten,oh mein Gott, an wenn kann ich mich jetzt wenden? Ich habe meine Stimme verloren. Ich höre nur noch das Echo meiner Stimme.
In der Einsatzzentrale der Grenztruppen in Swilengrad betrachtet Iwanow die Landkarte seines Sektors. 42 Kilometer lang ist seine Grenze, der Abschnitt erstreckt sich aber auch noch 30 Kilometer ins Land hinein. Iwanow weiß genau, wo die Bewegungsmelder stehen, die Kameras, die mobilen Einsatzkräfte. Er deutet auf die sensibelsten Punkte, ein paar türkische Dörfer, die unmittelbar an der Grenze liegen. Mit ihm im Raum sitzen fünf Beamte, die auf Monitoren die Lage an der Grenze beobachten. Es handelt sich um ein Mischsystem aus normalen und Wärmebildkameras, die die Grenze rund um die Uhr überwachen.
Iwanow hasst die Schlepper – „weil sie sich an den Flüchtlingen bereichern, sie betrügen und ihnen das Paradies auf Erden versprechen“. Das Schicksal der Menschen ist ihm nicht gleichgültig: „Leider sind es sehr oft Frauen und Kinder, wie soll einen das kalt lassen?“ Aber er räumt ein, dass er als Polizist auf die Dinge blickt und „nicht als Wohltäter“.
Iwanow beherrscht sein Metier. Schon zu Zeiten des Kalten Kriegs war er an der Grenze stationiert. Eine andere Zeit: Jenseits des Eisernen Vorhangs waren keine Flüchtlinge, sondern dort stand das Nato-Mitglied Türkei. „Überall war Militär, aber es gab nicht viel Personenverkehr. Wir haben höchstens türkischstämmige Bulgaren aufgehalten, die über die Grenze fliehen wollten.“
Jetzt ist hier das Tor zum „reichen Europa“. Wenn Bulgarien die Anforderungen erfüllt, wird es bald dem Schengen-Club beitreten dürfen. Und Iwanows Aufgabe ist es und wird es auch in Zukunft sein, dieses Tor zu bewachen, das immer unerbittlicher das Drinnen und das Draußen, das Wir und das Ihr markiert. Magead Ali, der Poet der Flüchtlinge, und Mohammed, der Lehrer – sie sollen nicht dazugehören, genauso wenig wie Idriss, der Künstler, der die Grenze als endlosen Stacheldrahtzaun zeichnet und die Syrer als Menschen, die unter einem zerlöcherten Regenschirm Schutz suchen.