12.03.2015

Politik der Angst

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Politik der Angst

In Israel tritt Netanjahu mit gefährlichen Parolen gegen eine unentschlossene Opposition an von Marius Schattner

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Als der israelische Ministerpräsident Netanjahu Anfang Dezember 2014 zwei seiner Minister entließ und sich für vorgezogene Neuwahlen aussprach, ging er aufs Ganze. Seine Koalition war zwar ziemlich heterogen, aber ihre Mehrheit hätte ausgereicht, um ihn bis zum Ende der Legislaturperiode 2017 an der Macht zu halten. Sollte er nun aus den Parlamentswahlen am 17. März als Sieger hervorgehen, wird sich der Chef der Likud-Partei an der Spitze einer Koalition mit Ultranationalisten und Ultraorthodoxen wiederfinden. Denn seine Minister aus dem zentristischen Lager, die angesichts der Kritik aus dem Ausland durchaus nützlich für ihn waren, hat er verprellt.

Im Fall eines Siegs wird Netanjahu also an der Spitze einer international geächteten Regierung stehen, und damit auch – ob er will oder nicht – zur Geisel der Betonfraktion der israelischen Rechten werden. Auch an der Heimatfront dürfte er dann mit einer Vielzahl erheblicher Probleme konfrontiert sein. Im Falle einer Wahlniederlage wird er die Führung des Landes an eine Koalition aus der Israelischen Arbeitspartei (Awoda) und den Parteien der rechten Mitte abgeben müssen. Noch vor wenigen Wochen war dieses zweite Szenario äußerst unwahrscheinlich. Inzwischen scheint es zumindest möglich, auch wenn die Rechte weiterhin als Favorit gilt.

Es gibt noch eine dritte Möglichkeit: Ein Unentschieden, das die beiden Blöcke dazu zwingt ihre Meinungsverschiedenheiten zu begraben und eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden – die freilich zur Unbeweglichkeit verdammt wäre. Dieses Szenario wäre zwar eine persönliche Niederlage für Netanjahu, aber zu einem Kurswechsel der israelischen Politik würde es dennoch nicht führen.

Viele Fragen kreisen um die künftige Marschroute des scheidenden Ministerpräsidenten. „Netanjahu wollte den Ereignissen zuvorkommen, weil er den Zerfall seiner Koalition, die von internen Spannungen zermürbt war, voraussah“, sagt Yaron Ezrahi, Politikprofessor an der Hebräischen Universität in Jerusalem. „Sein Ziel ist auch ein stärkeres Mandat, um seinen sinkenden Popularitätswerten im Land und der zunehmenden Ablehnung im Westen zu begegnen.“ Vom Ende der Ära Netanjahu zu sprechen wäre verfrüht, denn der Likud-Chef hält noch immer einige Trümpfe in der Hand. Mit 65 Jahren hat dieser mit allen Wassern gewaschene Politiker und exzellente Redner mehr als einmal bewiesen, dass er wieder aufstehen kann. Manche nennen ihn deswegen sogar „den Zauberer“.

Was die Innenpolitik angeht, kann er sich auf die Beliebtheit der Rechten verlassen, insbesondere bei der jüngeren Generation, die völlig daran gewöhnt ist, dass Israel das Westjordanland und Ostjerusalem seit 1967 besetzt hält und kolonisiert. Netanjahu setzt vor allem auf die Angst. Die wird geschürt durch die jüngsten Anschläge in Tel Aviv und Jerusalem, die wachsenden Spannungen an der Nordgrenze und das Scheitern des Osloer Friedensprozesses – den die Arbeitspartei 1993 angestoßen hatte und den Netanjahu selbst nach Kräften sabotiert hat.

Außenpolitisch kann sich Netanjahu vor allem auf die Unterstützung der Republikaner in den USA verlassen. Er genießt die rückhaltlose Unterstützung eines ihrer größten Geldgeber, des Multimilliardärs Sheldon Adelson. Der Kasino-Magnat aus Boston greift seinem Schützling in Tel Aviv zum Beispiel damit unter die Arme, dass er das kostenlose Pro-Netanjahu-Blatt Israel Hayom finanziert. Es ist die auflagenstärkste Tageszeitung in Israel und eine große Konkurrenz für andere Printmedien. Doch die Allianz mit den US-amerikanischen Rechten hat ihren Preis. Als Netanjahu die Einladung von John Boehner, dem republikanischen Sprecher des US-Repräsentantenhauses, annahm, um am 3. März eine Rede vor beiden Kammern des Kongresses zu halten, wurde er dafür heftig kritisiert. Boehner hatte ohne Absprache mit dem Weißen Haus gehandelt und die Zusage des israelischen Ministerpräsidenten kam zudem so prompt, dass man sich fragen konnte, ob nicht Tel Aviv selbst hinter der Initiative steckte.

Wie erwartet sprach sich Netanjahu bei diesem Auftritt gegen eine Lockerung der Sanktionen gegen den Iran aus und verurteilte das angestrebte Abkommen zwischen Teheran und Washington über das iranische Nuklearprogramm (siehe Artikel auf Seite 1 f.), das er als existenzielle Bedrohung für Israel darstellte. Indem er den US-Kongress gegen das Weiße Haus ausspielte und sich in solch exponierter Weise in die US-Innenpolitik einmischte, zog Netanjahu den Ärger der gesamten Demokratischen Partei auf sich. Die Beziehung zu US-Präsident Barack Obama selbst ist schon seit Längerem vergiftet. Zu einem Zeitpunkt, an dem Israel zunehmendem internationalen Druck ausgesetzt ist und die Unterstützung seines Verbündeten in Washington mehr denn je benötigt, ist Netanjahus Vorgehen überaus riskant.

Zudem lieferte er mit seiner Rede in den USA eine Steilvorlage für die israelische Opposition. Die warf dem Likud-Chef vor, er nutze die Bühne des US-Kongresses, um zwei Wochen vor dem Urnengang in Israel Wahlkampf zu betreiben, und opfere dabei die Interessen seines Landes. Diese Kritik wurde auch in den israelischen Medien aufgegriffen. So schrieb beispielsweise die Tageszeitung Jediot Aharonot: „Einst konnte man denken, Netanjahu sei so sehr vom Iran besessen, dass er darüber den Kopf verliert. Das stimmt nicht mehr. Inzwischen ist seine Obsession einzig und allein der Wahlsieg am 17. März – und zwar um jeden Preis.“1

Nimmt der israelische Regierungschef vielleicht sogar eine militärische Eskalation in Kauf, wenn sie ihm Wählerstimmen einbringt? Diese Hypothese kam auf, als am 18. Januar ein israelischen Kampfhubschrauber in Syrien einen Konvoi der Hisbollah beschoss; zehn Tage später folgte, wie zu erwarten war, ein Vergeltungsschlag der Hisbollah. Reservegeneral Joaw Galant, ehemaliger Kommandeur der Südregion Israels und Kandidat der Kulanu, einer neuen Partei der rechten Mitte, sorgte für einen Skandal, als er sagte, die Entscheidung „für den Zeitpunkt“ eines Militärschlags falle „manchmal nicht ohne Bezug zur Frage der Wahlen“. Als Beispiel führte er die „gezielte Tötung“ des Hamas-Militärchefs Ahmad Dschabari an, der zwei Monate vor den Parlamentswahlen vom Januar 2013 bei einem israelischen Raketenangriff in Gaza starb.2

Eine Verschärfung der Spannungen zwischen Israel und seinen Feinden hat – zumindest kurzfristig – immer der israelischen Rechten geholfen. Langfristig aber kann dadurch eine neue Spirale der Gewalt entstehen, die womöglich noch blutiger wäre als der Gazakrieg vom Sommer 2014. Aber wer denkt schon langfristig? Netanjahu geht es nach seinem mittelmäßigen Ergebnis bei den letzten Parlamentswahlen von 2013 für den Moment vor allem darum, sich mehr Ellenbogenfreiheit zu verschaffen.

Wird ihm das gelingen? Als er im Dezember die Regierungskoalition auseinanderbrechen ließ, sonnte er sich in einem Umfragehoch. Doch in der Zwischenzeit hat sich die Lage geändert. Die „Zionistische Union“, ein Zusammenschluss der Awoda und der Hatnua-Partei von Tzipi Livni, ist in einigen Umfragen sogar am Likud vorbeigezogen.

„Dieser Wahlkampf ist einer der merkwürdigsten in der Geschichte Israels“, meint der ehemalige Awoda-Abgeordnete Daniel Ben-Simon. „Nach fünf Jahren völligen Stillstands im Friedensprozess sind die Herausforderungen enorm. Trotzdem wird im Wahlkampf keine der Schlüsselfragen wirklich thematisiert, von keinem politischen Lager. Weder die Frage des Friedens mit den Palästinensern noch die Zukunft der besetzten Gebiete und Jerusalems werden angesprochen, ebenso wenig wie der Konflikt im Innern zwischen Laizisten und Religiösen oder die anderen Brüche innerhalb der israelischen Gesellschaft.“ Einen Grund für die fehlende Debatte über die wirklich wichtigen Fragen sieht Ben-Simon darin, dass so kurzfristig über Neuwahlen entschieden wurde.

Seit Beginn des Wahlkampfs ist der Ton des Likud-Chefs noch schärfer geworden. Vor allen Dingen versucht er jeden Hinweis darauf zu vermeiden, dass er 2009 sein – wenn auch widerwilliges – Einverständnis zur Schaffung eines entmilitarisierten palästinensischen Staats im Westjordanland gegeben hat. Zuallererst seien, so Netanjahu, die Palästinenser gefordert, Israel als „Staat des jüdischen Volkes“ anzuerkennen. Die Zionistische Union wird als „antizionistisch“ verunglimpft, was einer Stigmatisierung des politischen Gegners als „innerer Feind“ Israels gleichkommt. Netanjahu poltert auch gegen die Medien und die herrschende Elite – ganz so, als gehörte ausgerechnet die israelische Rechte, die seit über zwanzig Jahren an der Macht ist, nicht zu dieser Elite.

Die Partei „Jüdisches Heim“ (HaBajit haJehudi) – gleichzeitig Rivalin und Verbündete des Likud – beackert die gleichen Themen, jedoch mit weit größerer Aggressivität. Der Slogan ihres Vorsitzenden Naftali Bennett sagt alles: „Wir entschuldigen uns nicht mehr!“ Auch nicht für die 2 140 Toten in Gaza – meist Zivilisten – während der Operation „Protective Edge“ im Sommer 2014. Eine Abgeordnete der Partei, Ajelet Schaked, meint, Israel habe sich lediglich verteidigt: „Die Gesetze des Krieges machen es unmöglich, Zivilisten zu verschonen.“3

Man will sich auch nicht mehr entschuldigen für die anhaltende Besetzung des Westjordanlands und die Ausweitung des Siedlungsbaus, für die Verweigerung von Bürgerrechten für rund 2,7 Millionen Palästinenser und eine Apartheidpolitik, die nach und nach die gesamte Gesellschaft erfasst. Auch bei der internationalen Gemeinschaft will man sich nicht mehr entschuldigen. Deren Kritik an der israelischen Politik wird als schlecht getarnter Antisemitismus verurteilt.

Eine andere rechtsextreme Partei, Israel Beitenu, die nach diversen Korruptionsskandalen in den Umfragen deutlich abgerutscht ist, nimmt erneut die arabische Minderheit ins Visier, die etwa 17 Prozent der Bevölkerung in Israel ausmacht.4 Parteichef Avigdor Lieberman forderte bereits früher einen „Treueschwur“ arabischer Israelis auf den jüdischen Staat, wenn sie im Land bleiben wollten. Gleichwohl schwankt Lieberman zwischen extremistischen Positionen, auf denen er seine politische Karriere aufgebaut hat, und einem neuen Pragmatismus. Zurzeit warnt er vor einem „diplomatischen Tsunami“ und macht sich Sorgen wegen der Verschlechterung der Beziehungen zur US-Regierung.

„Niemand bezweifelt, dass sich die Rechte radikalisiert, auch wenn sie nicht unbedingt stärker wird“, sagt Professor Ezrahi. „Weiten Teilen der Öffentlichkeit bereitet das Sorgen, auch im rechten Spektrum. Das zeigen auch die Aussagen des neuen Staatspräsidenten Reuven Rivlin, der früher Abgeordneter des Likud war und sich jetzt öffentlich an die Seite der arabischen Minderheit gestellt hat.“ Für Ezrahi geht es nicht nur darum, den Teil der Bevölkerung zu schützen, dem die radikale Rechte „ihre staatsbürgerlichen Rechte absprechen will, ganz im Einklang mit ihrer ethnozentrischen Weltsicht“. Es gehe auch darum die „demokratischen Grundlagen des Staats, so wie sie in der Unabhängigkeitscharta von 1948 festgeschrieben sind“, zu verteidigen.

Bei dieser Auseinandersetzung hält die Links-Mitte-Allianz, die von dem neuen Chef der Awoda, Jitzchak Herzog, angeführt wird, wichtige Trümpfe in der Hand: Die Unzufriedenheit der Mittelschicht und der sozial Schwachen angesichts der hohen Lebenshaltungskosten und des schwindelerregenden Anstiegs der Mieten; der soziale Graben, der sich trotz einer relativ geringen Arbeitslosigkeit von 5,7 Prozent5 weiter vertieft; und die horrenden und stetig weiter steigenden Kosten der Besetzung. Herzog könnte zudem von den Ängsten profitieren, die durch die internationale Boykottkampagne BDS (Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen)6 ausgelöst und in israelischen Unternehmerkreisen offen thematisiert werden.

Sollte die arabische Bevölkerung massiv für die neue Einheitsliste der drei arabischen Parteien7 stimmen, könnte das die Bildung einer Regierungskoalition der Rechten und Rechtsextremen erschweren. Denn selbst wenn die arabische Einheitsliste sich nicht an der Mitte-links-Koalition unter Herzog und Livni beteiligt, würde sie doch für eine solche Regierung stimmen. Im Parlament besaßen die drei arabischen Parteien zuletzt insgesamt 11 Sitze. Jüngste Umfragen prophezeien ihnen 13 Sitze, was bei einem Anstieg der Wahlbeteiligung der arabischen Bevölkerung auch noch übertroffen werden könnte. In diesem Fall könnte die Einheitsliste zur drittstärksten Kraft in der Knesset aufsteigen, noch vor dem „Jüdischen Heim“ und der Jesch-Atid-Partei des ehemaligen Finanzministers (und Fernsehstars) Jair Lapid.

Ist also ein Ende der Hegemonie der Rechten in Israel abzusehen? Der Politologe Zeev Sternhell bezweifelt das: „Ich habe wirklich Angst vor der neuen Generation des Likud und den anderen Extremisten der Rechten. Diese Leute sind ganz sicher imstande, die Demokratie zu Grabe zu tragen. Aber wenn ich für einen Wahlsieg der Linken und der Mitte bin – bin ich dennoch realistisch. Zunächst müsste die Linke wirklich links sein und die Mitte nicht rechts. Wenn ich sehe, wie sehr sich die Mitte-links-Allianz zurückhält, muss ich vermuten, dass sie bereit ist, einer Regierung der nationalen Einheit mit der Rechten beizutreten, wenn man ihr ein ausreichend verlockendes Angebot macht.“

Fußnoten: 1 Jediot Aharonot, 22. Januar 2015. 2 The Times of Israel, 19. Januar 2015: www.timesofisrael.com/livni-herzog-defend-timing-of-syria-strike. 3 Siehe „Exposing militant leftist propaganda“, The Jerusalem Post, 16. Juli 2014. 4 Die etwa 300 000 Einwohner Ostjerusalems, die weder Pass noch Wahlrecht besitzen, werden nicht mitgezählt. 5 Nach OECD-Angaben belegt Israel in puncto Einkommensungleichheit nach Chile, Mexiko, der Türkei und den USA den fünften Platz. 6 Siehe Julien Salingue, „Auf der schwarzen Liste. Israel kann die Boykott- und Sanktionskampagne nicht mehr ignorieren“, Le Monde diplomatique, Juni 2014. 7 Die „Einheitsliste“ ist ein Zusammenschluss der drei arabisch geprägten Parteien (Balad, Hadash und Ta’al), um die neue Knesset-Sperrklausel zu überwinden, die im März 2014 von 2 auf 3,25 Prozent angehoben wurde. Aus dem Französischen von Jakob Farah Marius Schattner ist Journalist in Jerusalem.

Le Monde diplomatique vom 12.03.2015, von Marius Schattner