Die venezolanische Katastrophe
von Ladan Cher
Von der Warenknappheit in Caracas merkt man im Supermarkt auf den ersten Blick nicht viel. Doch Kunden wie Cecilia Torres, die stundenlang für Milch oder Waschpulver anstehen müssen, lassen sich von den vollen Regalen mit Mundwasser nicht täuschen. Sie nimmt es mit Humor: „Meine Freundinnen und ich witzeln schon, dass wir es irgendwann schaffen, Mundwasser in Milch zu verwandeln.“
Verkaufsflächen, die mit nur einem Artikel vollgestellt werden, sind ein komischer Anblick; dabei zeugen sie nur von der verzweifelten Lage der Händler, die leere Regale vermeiden wollen, weil die Regierung behauptet hat, die Ursache der Knappheit sei eine „Verschwörung der Ladenbesitzer“.
Im Februar wurden 36 Filialen der Supermarktkette Día al Día durch den Staat übernommen und mehrere Geschäftsführer verhaftet.1 Selbst regierungsnahe Beobachter wie der marxistische Ökonom Jorge Giordani, der unter Hugo Chávez Planungsminister war, äußern Zweifel an diesem Kurs: „In Wahrheit werden wir langsam zum Gespött in ganz Lateinamerika. Wenn sich die Lage verschlimmert, wenn die Temperatur auf 40 Grad klettert, soll das Thermometer schuld sein. Wir müssen uns klarmachen, dass wir uns in einer Wirtschaftskrise befinden.“2
Die Mangelwirtschaft ist für die Venezolaner das spürbarste ökonomische Problem, doch es ist nur eines von vielen.3 „Wir stehen am Rande einer Hyperinflation als Folge einer jahrelangen verfehlten Wirtschaftspolitik, wobei jetzt noch der Ölpreisverfall dazukommt“, erklärt Henkel García vom Wirtschaftsinformationsdienst Econométrica in Caracas. „Die Inflation wirkt sich negativ auf Produktion und Importe aus. Um die Warenknappheit zu überwinden, müssen wir daher als Erstes die Währungskrise überwinden.“
Die Inflationsrate in Venezuela ist mit 68,5 Prozent4 eine der höchsten der Welt. Der Wertverlust des venezolanischen Bolívar hat seine Ursachen nicht zuletzt in langwährender Korruption und Misswirtschaft, vor allem an der Schnittstelle zwischen Staat und Erdölindustrie. Diese Probleme gab es schon lange vor der „bolivarischen Revolution“, die Hugo Chávez 1998 ausrief. Seit Jahrzehnten ist die venezolanische Wirtschaft auf Gedeih und Verderb von den Erdölvorkommen abhängig, die zu den größten der Welt gehören. Der Ölboom ging einher mit krasser Ungleichheit und Armut, mit wiederholten Inflationsschüben wie in den 1960er Jahren und einer Bankenkrise in den 1990ern.
Alle Verheißungen einer sozialen Revolution und alle Maßnahmen zur Armutsbekämpfung unter Chávez und seinem Nachfolger Maduro haben kein wirkliches Wirtschaftswachstum hervorgebracht. Seit Chávez 2013 verstorben ist, hat sich die Lage noch verschärft: Die Einnahmen gehen zurück, immer mehr Rechnungen in Fremdwährung bleiben unbezahlt. Der Grund: Fast 95 Prozent der venezolanischen Exporterlöse stammen aus dem Erdöl, das auf dem Weltmarkt heute nur halb so viel kostet wie vor einem Jahr. Zugleich ist das Land ungeheuer importabhängig: 70 Prozent der verbrauchten Waren stammen aus dem Ausland.
García weist darauf hin, dass das nicht immer so war: „Früher haben wir Kaffee exportiert, aber jetzt müssen wir ihn importieren. Kaffee gehört zu den Produkten, für die man stundenlang Schlange stehen muss.“ Selbst überzeugte „Chavistas“ sind beunruhigt. Zum Beispiel Exminister Giordani, der schon vor Monaten auf einer Onlineplattform schrieb, dass alle Errungenschaften der bolivarischen Revolution auf dem Spiel stünden.5
Um die Krise zu überwinden, gilt es zunächst einen aggressiven und komplexen Devisenschwarzmarkt zu bekämpfen, der sich quasi zu einem eigenen Wirtschaftssektor entwickelt hat.6 In einem Land, in dem die aktuellen Preise durch den Schwarzmarkt bestimmt werden, nicht aber die Löhne, suchen die Menschen eben nach anderen Möglichkeiten, um an Geld zu kommen. Eine ziemlich profitable Methode ist, Dollars zu verkaufen. Der offizielle Wechselkurs beträgt 6,30 Bolívar für einen US-Dollar. Auf dem Schwarzmarkt sind es 190 Bolívar.
Ein Monatslohn für eine Packung Kondome
Für die eigene Währung haben die Venezolaner nur noch Spott übrig. „Der Bolívar ist mittlerweile wertloser Müll“, schimpft Andrés Rodríguez, ein Ladenbesitzer aus Maracay. „In anderen Ländern könnte man Wagenladungen davon auf einen zentralen Platz kippen, und die Leute würden sich nichts davon nehmen, nicht mal, um damit Monopoly zu spielen.“ Die Preise der meisten Handelswaren, vor allem der von Knappheit betroffenen, klettern stetig in die Höhe. Im Februar musste man für eine Packung Kondome rund 4 700 Bolívar hinblättern, der Mindestlohn liegt bei 4 900 Bolívar im Monat.
Das verstärkt den Anreiz für illegale Devisengeschäfte, die vom Schwarztausch mit Touristen bis zur Verschiebung riesiger Summen reichen. Die Außenhandelsbehörde Cencoex (die früher Cadivi, Kommission für Devisenverwaltung hieß) spielt dabei eine zentrale Rolle: Nur über sie dürfen Devisen legal getauscht werden, und zwar je nach Zweck zu unterschiedlichen Wechselkursen. Unternehmen etwa, die Grundnahrungsmittel oder Medikamente herstellen, beziehen Dollars zum „künstlichen“ Kurs von 6,30 Bolívar.
Auch für Auslandsreisen bekommen die Bürger Dollars zum offiziellen Kurs, jedoch kontingentiert je nach Land und Reisedauer. So gibt es für eine Woche Kuba 3 000 Dollar, für Miami dagegen nur 700. Das lädt freilich zu Tricksereien ein: Wenn man große Teile des Dollarkontingents im Ausland nicht ausgibt, kann man sie zu Hause schwarz mit Gewinn zurücktauschen.
Der Ladenbesitzer Rodríguez aus Maracay hält das Schwarzmarktproblem für eine unvermeidliche Folge dieser Politik: „Die Regierung gibt dir 3 000 Dollar, um nach Kuba zu fahren! Was willst du denn mit so viel Geld in Kuba anfangen? Ist doch klar, dass die Leute die Gelegenheit nutzen, ein bisschen Geld zu verdienen.“
Noch beliebter war der Missbrauch mit Dollar-Bezugsrechten für Online-Shopping, der nicht mal eine Auslandsreise erforderte – bis die Währungsbehörde dieses Schlupfloch schloss: Die Zuteilung von 3 000 Dollar im Jahr 2006 wurde auf nur mehr 300 Dollar gekürzt. Zuvor hatte es auch Berichte über organisierte Schwarzmarkthändler gegeben, die Dollarkontingente bündelten und im Internet weitervertrieben.7
„Das war leicht verdientes Geld“, erklärt ein Banker in Caracas. „Du brauchtest nur einen Freund, sagen wir in Panama, der dir eine Website einrichtet. Über die konntest du dann Einkäufe fingieren. Die Dollars für die angeblichen Onlinekäufe ließ man sich – abzüglich einer kleinen Kommission – von dem Freund zurückzahlen, um sie dann zu verkaufen.“
Die Regierung hat versucht, das zu unterbinden, indem sie die Beträge und die zuteilungsberechtigten Geschäfte begrenzte. 2014 durften zeitweilig gar keine Dollars mehr an Verwandte in Kolumbien überwiesen werden; neuerdings ist die Summe auf 200 Dollar beschränkt. Im Februar erfolgte eine andere Regelung, die auf eine gewisse Abwertung des Bolívar zielt: Der offizielle Dollar-Wechselkurs von 6,30 Bolívar gilt weiterhin für bestimmte Importgüter, Auslandsreisende aber zahlen der Cencoex nun 12 Bolívar für den Dollar.
Kritiker weisen darauf hin, dass damit das Problem mit den Dollarzuteilungen nicht zu lösen ist: Die Venezolaner werden immer Mittel und Wege finden, die Kontrollen zu umgehen. Jessica Grissanti von der Wirtschaftsforschungsgruppe Ecoanalítica meint: „Die Regierung hat den Leuten doch mit ihren eigenen Programmen die Dollars zur Verfügung gestellt, die dann im Schwarzmarkt versickern.“
Doch die kleinen Betrügereien sind selbst in ihrer Summe noch harmlos. Weit folgenreicher ist der Devisenraub durch Unternehmen und Personen mit privilegiertem Devisenzugang. Ein hoher Regierungsmitarbeiter, der ungenannt bleiben will, erzählt ein Beispiel: Ein Fondsmanager, der für den Staat die Dollareinnahmen aus dem Erdölexport verwaltet, verbucht den Eingang von 100 Dollar. Er wird den Betrag auf Basis des offiziellen Wechselkurses dem Fonds gutschreiben, also 630 Bolívar. Tatsächlich kann er das Geld anschließend auf dem Schwarzmarkt zu seinem eigenen Vorteil umtauschen.
Ein 2013 aufgedeckter Skandal betraf die Zuteilung von Dollarkontingenten an mehrere Unternehmen durch einen bestochenen Mitarbeiter der Währungsbehörde Cadivi. Bei weiteren Ermittlungen kam heraus, dass mindestens ein Drittel aller von der Cadivi ausgezahlten Devisen an Briefkastenfirmen geflossen waren, die einzig und allein dem Zweck dienten, diese Devisen zu horten. Gefälschte Rechnungen waren eine weitere beliebte Methode, Dollars zu erschwindeln. Die damalige Chefin der Zentralbank, Edmée Betancourt, schätzte die dem Staat entstandenen Verluste auf 15 bis 20 Milliarden Dollar pro Jahr.
Dollarzuteilungen für Briefkastenfirmen
Venezuelas Wirtschaft leidet bis heute unter den Folgen dieses Skandals, sagt Grissanti: „Damals gingen Milliarden Dollar verloren, und heute kommen wegen des Ölpreisverfalls immer weniger Devisen ins Land. Leidtragende sind alle Unternehmen, die für ihre Geschäfte wirklich Devisen brauchen.“
Der Inhaber einer Importfirma für Gummiwaren kann ein Lied davon singen: „Es ist derzeit verdammt schwer, Geschäfte zu machen, besonders wenn man sich dabei an die Regeln hält.“ Die zugeteilten Dollar reichten längst nicht mehr aus, um die ausländischen Lieferanten zu bezahlen.
Die derzeitige Politik der staatlich festgesetzten, abgestuften Wechselkurse funktioniert offensichtlich nicht, aber die bislang diskutierten Alternativen – bis hin zur Umstellung der venezolanischen Wirtschaft auf Dollar – klingen auch nicht vielversprechend.
Im Februar wurde ein neues Wechselsystem namens Simadi (Marginales Währungssystem) eingeführt, über das Devisen frei konvertierbar sein sollen. Damit hofft man den Schwarzmarkt auszutrocknen. Zunächst wurde der Dollarkurs bei 170 Bolívar angesetzt. Ökonom Henkel García ist skeptisch: „Solange die Währung überbewertet ist, wird es den Schwarzmarkt geben.“
In der Tat wird der Dollar unter der Hand inzwischen zu mehr als 200 Bolívar gehandelt. Dieser Schritt lässt immerhin die Vermutung zu, dass sich die Regierung den Vorschlägen Garcías annähert. Dieser propagiert als „einzige Lösung die vollständige Abschaffung aller Devisenkontrollen, und zwar sofort“. Solch ein Schritt dürfte zwar kurzfristig die Inflation noch weiter anheizen, weil der Kurs des Bolívar dann erst einmal fiele und Importgüter dadurch noch teurer würden. Doch García glaubt, dass nur so der Wechselkurs langfristig ins Gleichgewicht zu bringen ist.
Genauso wichtig ist die Bekämpfung der endemischen Korruption. Bislang werden Bestechungsfälle statt mit strafrechtlicher Verfolgung allenfalls mit einem öffentlichen Tadel geahndet. Sogar auf den gigantischen Cadivi-Skandal reagierte die Maduro-Regierung praktisch nur mit starken Worten. In Fernsehbotschaften geißelte der Präsident die Devisenbehörde und prägte dabei den Begriff „Cadivismus“ für illegale Devisentransaktionen. Zudem gab er der Behörde einen neuen Anstrich nd einen neuen Namen: Cencoex. Im Fernsehen wurde über Durchsuchungen bei den in den Skandal verwickelten Firmen verbreitet. Doch das war’s dann schon. Eine Strafverfolgung der Hauptakteure, etwa des Cadivi-Chefs Manuel Barroso, fand nicht statt. Zwar wurden zu Beginn der Ermittlungen ein paar Verdächtige festgenommen, die kamen allerdings meist schnell wieder frei.
García gibt allerdings zu bedenken, dass das Problem – bei aller Kritik an der Regierungspolitik – viel tiefer sitzt: „Es hat keinen Sinn, unsere derzeitigen wirtschaftlichen Probleme als spezifisch ‚chavistisch‘ zu begreifen und uns die gute alte Zeit zurückzuwünschen, denn die war keineswegs gut.“
Nach dem Sturz der Militärdiktatur 1958 wurde das Land vierzig Jahre lang auf einem strikt wirtschaftsliberalen Kurs gehalten. Das Ergebnis war „eine Katastrophe“, meint García: „Aber je länger alles bleibt, wie es ist, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen auf Veränderung setzen.“ Was er vor allem beklagt, ist das Fehlen eines vernünftigen Entwicklungsmodells für Venezuela: „Es fehlt ein Modell, das uns aus unserer Abhängigkeit vom Erdöl befreien würde. Das ist die eigentliche Tragödie.“