Lauter schwarze Nullen
Deutschlands fatale Rolle in der europäischen Schuldenkrise von Heiner Ganßmann
Wenn das Reichwerden oder Reichbleiben da-von abhinge, dass man versteht, was Geld ist und wie es in unseren Zeiten funktioniert, müssten die meisten Deutschen längst verarmt sein. In der Kommunikation über Wirtschaftsfragen im Allgemeinen und über Geld im Besonderen äußert sich hierzulande fast nur Unverstand. Besonders deutlich wird das, wenn Positionen zur Staatsverschuldung, zur Eurokrise und zur Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) bezogen werden. Die Flutung der Euro-Finanzwelt mit billigen Krediten, die Tatsache also, dass die EZB – beginnend bei den oberen Klassen – Geld unter die Leute bringen will, sieht man in Deutschland nicht als Verteidigung des Euros, sondern als Angriff auf dessen Stabilität. Man wittert Inflation, selbst wenn gleichzeitig die Preise sinken.
Eine gängige Erklärung für diese verzerrte Wahrnehmung lautet „German Angst“. Wegen der Hyperinflation der frühen 1920er Jahre hätten die Deutschen eine tief sitzende, über Generationen vererbte Angst vor der Inflation. Deshalb hegten sie Misstrauen gegen alles, was die zahlungsfähige Nachfrage durch Schuldenmachen stärkt.
Aber da heutzutage kaum noch Leute leben, die über die Hyperinflation berichten können, dürfte der Schatten der Vergangenheit keine ausreichende Erklärung für die Popularität der „schwarzen Null“ hergeben.
Einleuchtender ist eine aktuellere Erklärung: Die deutsche Wirtschaft ist dank ihrer Exportstärke relativ glimpflich aus der großen Finanzkrise herausgekommen, und ohne eine schwere Fiskalkrise wie in anderen Ländern. Daraus entsteht die Haltung: Uns geht es gut, und würden die anderen alles genauso machen wie wir, ginge es ihnen auch gut.
Diese Haltung ist, mit dem gegenwärtigen wirtschaftlichen Erfolg im Rücken, verständlich. Aber sie verhindert die Frage, ob der deutsche Weg aus der Krise verallgemeinerbar ist, ob er also auch dann ein Ausweg wäre, wenn sich alle Länder die Deutschen zum Vorbild nähmen. Die Antwort ist mit großer Sicherheit: Nein. Doch dazu später.
Wem es gut geht, der hat nicht viel Anlass, nachzudenken. Das deutsche Steuervolk hat sich ohne großes Murren die Kosten einer sehr, sehr teuren Bankensanierung aufladen lassen. Von den sich als Global Players aufspielenden Banken blieben etliche – darunter per EU-Ukas privatisierte Landesbanken – auf der Strecke; andere wurden wieder auf den Boden der nationalen Ökonomie zurückgeholt, allen voran die Deutsche Bank.
Auch das Arbeitsvolk hat ohne Murren den Gürtel noch ein bisschen enger geschnallt und damit für weitere Lohnstückkostenvorteile gegenüber EU-Ländern und sonstigen Konkurrenten gesorgt. Das Konsumentenvolk hat angesichts der Eurokrise, lächerlicher Zinserträge und medial angeheizter Inflationsängste das Problem, was man mit dem bisschen zurückgelegten Geld anstellen solle, durch mehr Konsum gelöst. Damit hat es sogar die Nachfrage einigermaßen stabilisiert, obwohl Finanzminister Schäuble auf der Jagd nach der schwarzen Null strikte Nachfragedämpfung betrieben hat.
Quer durch die Medien himmeln die „Wirtschaftsexperten“ nicht nur die überaus leistungsfähigen Exportunternehmen an, sie sind sich auch darin einig, dass ein dauernder Exportüberschuss ein Erfolgsausweis sei. Wer das bezweifelt, will den Deutschen die Butter vom durch harte Arbeit verdienten Brot nehmen. Kurz, die restlichen EU- und Eurozonenländer, und zumal die von Arbeitslosigkeit und Leistungsbilanzdefiziten geplagten, sollen sich ein Beispiel an Deutschland nehmen, sprich: ihre „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ durch „strukturelle Reformen“ stärken. Es gehört sich einfach nicht, dass sie von den Deutschen mehr Investitionen und höhere Löhne fordern, statt sich selbst anzustrengen und ebenfalls mehr zu exportieren.
Zwar trompetet kaum ein Politiker noch ungedämpft, dass am deutschen Wesen die Welt genesen solle, aber die entsprechenden Reformempfehlungen, inklusive Schuldenbremse, haben unausgesprochen genau diesen Sinn: Deutschland macht alles richtig.
Vorweg der „Kanzler der Bosse“, der seine Hausaufgaben erfüllte, indem er die Sozialleistungen kräftig kürzte und einen Niedriglohnsektor einführte. Im neoliberalen Neusprech nennt man das „strukturelle Reformen“ zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts.
Tatsächlich geht es eher darum, durch Angst und Schrecken vor Arbeitsplatzverlust und Verarmung einen wirtschaftlichen Entwicklungsweg durchzusetzen, der sich durch eine stetig sinkende Lohnquote und dürftige Wachstumsraten auszeichnet.
Das sollen die Franzosen und Italiener jetzt endlich nachholen, und erst recht die sonstigen Problemländer der Eurozone. Das deutsche Prekariat muss jedenfalls nicht allein bleiben.1 Es kann sich inzwischen, ganz im effektiven Sinne der europäischen Integration, damit trösten, dass es den Griechen, Portugiesen, Spaniern, Iren und vielen anderen noch schlechter geht.
Eine heroische Gleichgültigkeit gegenüber Erfahrungstatsachen ist ein Grundmerkmal des deutschen Wirtschaftsdenkens. Die historische Erfahrung zeigt, dass mit Deflation noch keine moderne kapitalistische Ökonomie eine schwere Krise überwunden hat. Deshalb ist es kein Wunder, dass fast der ganze Rest der Welt die Situation in der Eurozone anders als die deutsche Öffentlichkeit sieht.
In Deutschland gilt EZB-Präsident Mario Draghi als Geisterfahrer gegen den allgemeinen Strom. Der Sachverhalt ist jedoch genau umgekehrt: Außer den Niederländern, den Finnen, den Luxemburgern (und einigen Balten, die mit der Funktionsweise des Kapitalismus noch nicht so vertraut sind) gehen alle davon aus, dass die Geisterfahrer in der globalen Wirtschaftspolitik die Deutschen sind. Deren Versuch, den überschuldeten Euroländern mit Austeritätspolitik im Tausch für neue Kredite aus der Krise zu helfen, gilt nicht nur als untauglich, sondern geradezu als Methode, die Eurolandkrise zu verschärfen – bis hin zu einer erneuten globalen Depression.
Gegen die allgemeine Erfahrung hilft es wenig, die dürftigen Anzeichen wirtschaftlicher Erholung in den Eurokrisenländern zu Rettungsballons aufzublasen. Whenever you are down enough, the only way is up. Statt sich auf eine sachliche Auseinandersetzung über Sinn oder Unsinn von Austeritätspolitik einzulassen, maulen die Deutschen, die überschuldeten Euro-Partnerländer würden sich nur um die nötigen schmerzhaften Reformen drücken und obendrein verlangen, dass „wir“ für ihre wachsenden Schulden mithaften.
Das Leben auf Pump soll also noch belohnt werden! Das Argument ist zwar populär und bringt gute Haltungsnoten für Kanzlerin und Finanzminister, aber es ist so falsch wie riskant.
Die Logik dieser deutschen Sichtweise liefe nämlich darauf hinaus, dass es am besten wäre, „wir“ kehrten zur guten, alten, harten D-Mark zurück. Aber an diesem Punkt kommt das Politik- und Verbände-Räderwerk der offiziellen Verlautbarungen ins Stottern. So toll wollen wir es als gute Europäer dann doch nicht treiben! AfD, Gauweiler, Henkel, Sinn und Konsorten gehen zu weit. Fährt Deutschland bei allem medial verstärkten Gejammer über den Euro und die unsoliden Schuldnerländer womöglich doch nicht so schlecht mit der Währungsunion? Und wer wären die Hauptverlierer, wenn sie platzt?
Dass die deutsche Wirtschaft ein Hauptnutznießer der gemeinsamen Währung Euro war und ist, belegt ein Blick auf die deutsche Leistungsbilanz und ihre Entwicklung seit Einführung des Euros. Die zeigt, mit kurzer Unterbrechung in den Nachkrisenjahren 2008 und 2009, einen kontinuierlichen Anstieg der Handels- und damit auch der Leistungsbilanzüberschüsse.
Die Währungsunion ist eine wesentliche Bedingung für diese Exportüberschüsse. Sie beseitigte den unmittelbaren Aufwertungsdruck, dem die D-Mark stets ausgesetzt war, wenn die Exportüberschüsse anwuchsen. Weil heute auch Länder mit negativen Leistungsbilanzsaldos den Euro nutzen, erzeugt die – meist ebenfalls positive, aber relativ kleine – Gesamtaußenbilanz der Eurozone nicht den gleichen Aufwertungsdruck wie zu D-Mark-Zeiten.
Die Folge: Deutsche Unternehmen können dank des (relativ zur früheren D-Mark) schwachen Euro munter weiterexportieren, obwohl die deutschen Überschüsse laufend ansteigen. Dies zeigt zum einen, dass die deutschen Unternehmen vom Euro profitieren, zum anderen, dass der „deutsche Weg“ zum wirtschaftlichen Erfolg in der Tat nicht verallgemeinerungsfähig ist. Und zwar schlicht deshalb, weil nicht alle Länder gleichzeitig Export- und Leistungsbilanzüberschüsse erzielen können.
Überschuss bedeutet: Man exportiert mehr, als man importiert, oder man nimmt mehr Geld ein, als man ausgibt. Nach dem ABC des Wirtschaftslebens, das in der deutschen Diskussion zu diesem Thema fast nie ausbuchstabiert wird, muss es spiegelbildlich auch den umgekehrten Sachverhalt geben: Wenn einer mehr verkauft, als er kauft, muss ein anderer mehr kaufen, als er verkauft, oder mehr Geld ausgeben, als er einnimmt. Das nennt man Schuldenmachen.
Schulden sind die Kehrseite von Export- oder Leistungsbilanzüberschüssen. Wer einen Überschuss erzielt, wird zum Gläubiger. In der Höhe der Überschüsse entstehen Forderungen deutscher Unternehmen, inklusive Finanzinstituten, an ausländische Schuldner. Aber dann kommt die spannende Frage: Wann und wie werden diese Schulden bedient? Lohnt sich unterm Strich der Verkauf von Waren auf Kredit? Wenn nicht, können sich die Exportüberschüsse als Scheinerfolge entpuppen.
Die in Aussicht gestellte Belohnung für deutsche Tüchtigkeit und Lohnzurückhaltung kann also einfach wegschrumpfen. Tatsächlich sieht die deutsche Bilanz der letzten Jahre in dieser Hinsicht keineswegs glänzend aus. Wenn man die Leistungsbilanzüberschüsse aufaddiert und mit der aktuellen Summe der finanziellen Forderungen an das Ausland vergleicht, zeigt sich: Ein erheblicher Teil des durch die Überschüsse gewonnenen Geldes wur-de schlecht „angelegt“. Unterschiedliche Schätzungen kommen auf Verluste zwischen 10 und 22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (siehe Kasten). Genauso gut hätten die deutschen Erwerbstätigen ein Zehntel bis ein knappes Viertel ihrer Arbeitszeit verschnarchen können.
Wie ist das zu erklären? Viele deutsche Unternehmen, die Exportüberschüsse erzielen, investieren diese lieber im Ausland, als sie zu „repatriieren“. Sie akkumulieren also Forderungen gegenüber fremden Ländern und zum Teil – jenseits der Eurozone – in fremden Währungen. Die Überschüsse aus den deutschen Exporten verwandelten sich somit in Wertpapiere und Vermögensobjekte im Ausland – und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die deutsche Binnennachfrage infolge des Zurückbleibens der Lohnsteigerungen hinter den Produktivitätszuwächsen schwach blieb.
Dass die entstandenen Forderungen an ausländische Schuldner nur zum Teil bedient wurden, läuft auf eine „Entwertung“ des exportierten Kapitals hinaus. Das kann man natürlich auf die von den USA verursachte Finanzkrise schieben, aber so schlicht lässt sich nur argumentieren, wenn man die Frage übergeht, ob die Krise nicht auch durch die gewaltigen globalen Ungleichgewichte in den Handels- und Finanzbeziehungen verursacht wurde.
Dabei waren und sind die USA das Hauptschuldnerland, aber China, die Opec-Länder und Deutschland spielen die komplementäre Rolle der Gläubiger. Nach dem gleichen Muster funktioniert, in verkleinertem Maßstab, die Eurozone: Die Schuldner sind hier die Länder der „Peripherie“, die Gläubiger die Überschussländer, allen voran Deutschland. Auf globaler wie auf EU-Ebene macht man es sich zu einfach, wenn man das Zusammenbrechen solcher Kreditbeziehungen allein den Schuldnern anlastet. Ohne Gläubiger gibt es keine Schuldner.
Vor der Finanzkrise gab es in den USA diese wunderbaren Derivate zu kaufen, die hohe Renditen versprachen. Und aus der Peripherie der Eurozone gab es reichlich Nachfrage nach Krediten, die nicht zuletzt genutzt wurden, um deutsche Waren zu kaufen. Dummerweise kam dann die Krise. Mit der Folge, dass ein gewaltiger Anteil der deutschen Forderungen nicht nur in den USA, sondern im Zuge der Eurokrise auch in Europa entwertet wurde.
Diese Krise kam allerdings nicht wie der Blitz aus heiterem Himmel. Und ihr Ausmaß reflektiert weitgehend diese – immer noch andauernden – Ungleichgewichte im internationalen Waren- und Finanzverkehr.
Aus Perspektive der USA sieht die deutsche Rolle in der Finanzkrise so aus: „Deutschland liefert BMW- und Mercedes-Benz-Autos und bekommt dafür Papierdollar-Schuldscheine.“3 Oder auch: „Im Augenblick der Versuchung wurde Deutschland zu einer Art Spiegelbild Islands und Irlands und Griechenlands – und der USA. Andere Länder benutzten fremdes Geld als Treibstoff für diverse Formen von Verrücktheit. Die Deutschen benutzten mit Hilfe ihrer Banker ihr eigenes Geld, um Ausländern verrücktes Verhalten zu ermöglichen.“4
Die Lehre: Exportüberschüsse werden per Kredit an die Käufer finanziert. Welchen Gegenwert man letztlich bekommt, ob und wie diese Kredite jemals bedient werden, steht in den Sternen. Wer Kredite vergibt ohne hinreichend auf die Zahlungsfähigkeit des Kreditnehmers zu achten, wirkt auf genauso unverantwortliche Weise am Aufpumpen einer Blase mit wie der Kreditnehmer. Wie zu jedem Schuldner ein Gläubiger gehört, so gehören zu unsoliden Schuldnern auch unsolide Gläubiger.
Im Fall der Eurokrise ist allerdings die Rolle der Gläubiger kein Thema. Aus gutem Grund. Die Banken, allen voran die französischen und deutschen, haben den Boom und die Immobilienblasen durch Kredite in die Peripherie-Länder finanziert. An diesen Krediten haben sie gut verdient. Sie bekamen ihre Zinsen und Provisionen. Erst das Platzen der Blase offenbarte schlagartig das Risiko: Schuldner können bankrottgehen, dann müssen die Forderungen an sie abgeschrieben werden.
Den Banken aus dem Kern der Eurozone gelang es jedoch, sich rechtzeitig aus ihren riskanten Engagements zu lösen – aber nur mit Hilfe der Staaten. Die Schuldnerländer wurden durch noch mehr, aber diesmal öffentliche Kredite „gerettet“. Damit konnten sie die dringendsten Forderungen ihrer Gläubigerbanken bedienen, bevor diese durch die anstehenden Verluste in ihrer Existenz bedroht wurden.
Wirklich gerettet wurden also die Banken. Ihnen wurde die Gläubigerrolle durch die Eurostaaten abgenommen. Damit aber nicht gleich offenbar wird, dass wieder einmal die Steuerzahler auslöffeln müssen, was die Banken angerichtet haben, bemühen sich die Finanzpolitiker, den Leuten weiszumachen, die Schuldnerländer seien an allem schuld. Die müsse man deshalb durch politische Gängelung auf den Pfad der fiskalischen Tugend zurückzwingen und so in die Lage versetzen, das an sie verliehene Geld irgendwann zurückzuzahlen.
Nach der Finanz- und erneut nach der Eurokrise konnten die Banken also ihre faulen Kredite in der einen oder anderen Form an die öffentlichen Hände weiterreichen. Dafür wurden den Problemländern noch mehr Schulden und Austeritätsprogramme verordnet.
Kommen wir von den Exportüberschüssen zurück zur schwarzen Null. Exportüberschüsse werden von ihren Befürwortern, unter Absehung der aufgelaufenen Vermögensverluste, gern als vorsorgliche Anhäufung von Forderungen an das Ausland interpretiert. Die kann man dann in schlechten Zeiten einlösen – ein probates Rezept für sogenannte alternde Gesellschaften. Wenn es so einfach wäre, hätten wir es hier mit dem sprichwörtlichen fürsorglichen Hausvater zu tun, der Zeit seines Lebens auf die schwarze Null achtet. Die Krisen, und sie können sich jederzeit wiederholen, zeigen jedoch: Wenn die Schuldner zahlungsunfähig sind, verlieren auch die Gläubiger, selbst wenn sie sich eben noch stark fühlen. Irgendwann wird Bilanz gezogen, und dann gilt: Wer exportiert hat, ohne einen Gegenwert zu bekommen, hätte vielleicht besser gleich Luftgitarre spielen sollen.
Die schwarze Null ist in Deutschland so populär, weil sie als Ausweis soliden Wirtschaftens gilt. Der bedachtsame Hausvater macht keine Schulden, und der Übervater Staat sollte es ebenso halten. Dabei wird übersehen, dass die Erfolgsgeschichte des Kapitalismus zu einem großen Teil darauf beruht, dass Kredite es ermöglichen, ohne vorherige Anhäufung von Eigenmitteln sowohl Unternehmen zu gründen oder auszuweiten als auch zu konsumieren.
Schumpeters dynamische Unternehmer, die aus der Geschichte des Kapitalismus eine sich immer wiederholende Geschichte der „kreativen Zerstörung“ machen, kämen ohne Kredite nie zum Zug. Ein paralleles, plausibles Modell – das sogar zum Hausvater passt – ist der Erwerb eines Eigenheims durch eine junge Familie. Wenn die Familie warten müsste, bis sie aus ihrem laufenden Einkommen genug Mittel gespart hat, um das Eigenheim ohne Kredit zu bezahlen, wären die Kinder aus dem Haus und das Haus zu nichts nutze.
Wenn es also auch „gute“ Schulden gibt, wozu dann die Schuldenbremse und der Fiskalpakt? Statt vernünftiger Entscheidungen über die Aufnahme von Krediten, etwa um dem Gemeinwohl dienende Investitionen zu ermöglichen? Können die politischen Entscheidungsträger, samt den Spitzen der Bundesbank, nicht zwischen guten und schlechten Schulden unterscheiden?
Das ist kaum zu glauben, weil die Unterscheidung ziemlich einfach ist. Bedenklich ist die Aufnahme von Krediten dann, wenn die Zinsbelastungen höher sind als die – erwarteten5 – Einkommenszuwächse. Und das gilt für Staaten ebenso wie für Privatpersonen.
Gegenwärtig liegen die Zinssätze bei null, die erwartete Wachstumsrate des BIPs ist zwar schwach, aber positiv, und es herrscht kein Mangel an staatlichen Aufgaben, die öffentliche Investitionen erfordern, vor allem in Infrastruktur, Innovationen und Bildung. Unter diesen Umständen ist die Verweigerung von defizitfinanzierten Investitionen und das Streben nach der schwarzen Null nichts als fiskalischer Sadismus. Der umso merkwürdiger ist angesichts der Kredite, die Leistungsbilanzüberschüsse ermöglichen, und angesichts der Politik gegenüber den „Problemländern“, die auf „Rettung“ mittels immer neuer Kredite setzt.
Wundert man sich da noch, dass Mario Draghi und der EZB kaum etwas anderes übrig bleibt als das problematische „Quantitative Easing“? Die Zentralbank will die Kreditflüsse wieder in Gang bringen, indem sie Staatsanleihen und ähnlich bewertete Papiere in großer Menge kauft und damit viel zusätzliches Geld in Umlauf bringt. Dagegen trägt der deutsche Staat zu der in Europa notwendigen Nachfragebelebung noch nicht mal durch öffentliche Investitionen bei und beharrt vielmehr auf der Bedienung nicht bezahlbarer Schulden. Deshalb wird das „Quantitative Easing“ gegen die Gefahr der Deflation und Stagnation in der Eurozone kaum ausreichen. Aber die EZB tut wenigstens was. Und das ist allemal besser als die Politik der schwarzen Null.
Leistungsbilanz und Spekulation
Die Leistungsbilanz fasst die Ergebnisse der Außenbeziehungen einer nationalen Wirtschaft zusammen. Sie setzt sich zusammen aus der Handelsbilanz, der Dienstleistungsbilanz, der Bilanz der Erwerbs- und Vermögenseinkommen und der Übertragungsbilanz.
Den Hauptbeitrag zu den Überschüssen der deutschen Leistungsbilanz liefert der Warenexport, dem deutlich geringere Importe gegenüberstehen. Geringfügiger ist der positive Saldo aus Erwerbs- und Vermögenseinkommen, der daher rührt, dass Warenexportüberschüsse in Kapitalexport münden.
Die Dienstleistungsbilanz ist seit Jahren tendenziell ausgeglichen, ansonsten bilden die laufenden Übertragungen ins Ausland (wie Überweisungen ausländischer Arbeitnehmer) ein Gegengewicht zu den Überschüssen.
Die Leistungsbilanzsalden waren in den 1990er Jahren bis zum dritten Quartal 2001 negativ. Danach waren sie durchgängig positiv, mit wachsender Tendenz. Wären diese Überschüsse zumindest werterhaltend im Ausland investiert worden, müsste die sogenannte Nettoauslandsposition, also der Saldo aus deutschen Forderungen an das Ausland und ausländischen Forderung an Deutschland, der Höhe der Leistungsbilanzüberschüsse entsprechen.
Tatsächlich betrugen (nach den Statistiken der Bundesbank) von 2002 bis 2013 die kumulierten Leistungsbilanzüberschüsse 1 581 Milliarden Euro, während die Nettoauslandsposition 2013 bei 1 204 Milliarden Euro lag. Das Nettoauslandsvermögen war 2013 also um 377 Milliarden Euro kleiner als die kumulierten Leistungsbilanzüberschüsse von 2002 bis 2013. Demnach gingen von den Exportüberschüssen mehr als 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 2013 verloren.
Nach einer Schätzung, die vom EU-nahen Centre for Policy Research (CEPR) veröffentlicht wurde (VOX CEPR’s Policy Portal vom 26. April 2013) verloren Deutsche zwischen 2007 und 2011 bei ihren Forderungen an das Ausland mehr als 460 Milliarden Euro, davon waren über ein Drittel Verluste aus Derivaten. Nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW-Wochenbericht vom 24. Juni 2013) büßten deutsche „Anleger“ im Zeitraum von 2006 bis 2012 sogar 600 Milliarden Euro ein. Das entspricht 22 Prozent des deutschen BIPs.
Das deutsche Nettoauslandsvermögen befand sich 2011 also wieder auf dem Niveau von 2005. Kurz und ungut: Ein großer Teil der vor allem durch Lohnzurückhaltung im Inland erzielten Leistungsbilanzüberschüsse wurde spekulativ verheizt.
Offiziell werden diese Verluste nicht registriert. Eine Verlautbarung der Deutschen Bundesbank merkt zu der „Nettoauslandsposition“ von Ende 2013 in Höhe von 1 204 Milliarden Euro lediglich an, diese habe sich gegenüber dem Vorjahr um 251 Milliarden erhöht.