Bei den Frankfurtern
Ein Besuch bei der Europäischen Zentralbank am Ende der Ära Trichet von Antoine Dumini und François Ruffin
Seine letzte Pressekonferenz gab Jean-Claude Trichet im ersten Stock der Europäischen Zentralbank (EZB). Er intonierte – auf Englisch – das alte Lied von den „Strukturreformen“. Das kann er offenbar auswendig, schon bei seinem ersten Auftritt als EZB-Präsident im November 2003 hatte er „Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt“ eingeklagt. Diese immer wiederkehrende Forderung war aber nicht wirklich Trichets eigene Erfindung, denn schon sein Vorgänger Wim Duisenberg hatte sie gebetsmühlenartig wiederholt.
An diesem 8. September 2011 aber wurde Trichet, trotz der zuweilen kryptischen Sprache, etwas konkreter: „Wir sollten vor allem zu einer Abschaffung der automatischen Lohnindexierungsklauseln und zu einer Stärkung von Vereinbarungen auf Unternehmensebene kommen, damit die Löhne und Arbeitsbedingungen auf unternehmensspezifische Bedürfnisse abgestimmt werden können. Diese Maßnahmen sollten mit Strukturreformen einhergehen, insbesondere im Dienstleistungsbereich – einschließlich der Liberalisierung reglementierter Berufe – und, soweit sinnvoll, mit der Privatisierung von Dienstleistungen, die heute vom öffentlichen Sektor wahrgenommen werden; auf diese Weise könnte man Produktivitätszuwächse anstoßen und die Wettbewerbsfähigkeit stützen.“
„Man kommt sich vor wie im Politbüro kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion“, flüsterte der grüne Europa-Abgeordnete Pascal Canfin auf seinem Zuhörerplatz, „immer dieselbe Litanei, derselbe Jargon, abgehoben von der Realität.“ Für den stellvertretenden Vorsitzenden des Sonderausschusses zur Finanz-, Wirtschafts- und Sozialkrise im EU-Parlament ist dies „ein ideologisches Programm ohne jeden Bezug zu den Ursachen der Krise“. Canfin kann nicht erkennen, wie eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, die Zerschlagung des öffentlichen Dienstes oder die Umgehung des Arbeitsrechts durch betriebliche Vereinbarungen eine Antwort auf die Deregulierung der Finanzmärkte darstellen sollen: „Die EZB-Spitze zieht das Programm des Internationalen Währungsfonds durch, mit den ganzen Strukturanpassungsplänen, die fast alle gescheitert sind. Aber egal, es wird einfach weitergemacht.“
Die alte Leier also, in Frankfurt nichts Neues? Doch – aber nicht in den Worten, sondern faktisch. Die EZB verfügt nämlich jetzt über die Mittel, um ihre guten Ideen in die Tat umzusetzen, und zwar nicht nur in der Geldpolitik. Ihre Experten richten sich zusammen mit den anderen Abgesandten der „Troika“ – denen des IWF und der EU-Kommission – in Athen, Lissabon und Dublin als Schattenregierungen ein. Sie beaufsichtigen die Minister und verkünden ihre „fünfzehn Gebote“: Du sollst Kurzarbeit einführen, du sollst den Bauern die Renten kürzen, du sollst die Staatsausgaben verringern und so weiter und so fort.
Bis hin zu jenem Brief, den Trichet zusammen mit seinem Nachfolger Mario Draghi dem italienischen Regierungschef Berlusconi Anfang August übersandt hat. Darin verlangten sie nicht nur, „die Kündigungsverfahren flexibler zu gestalten“, sondern auch „innerbetrieblichen Vereinbarungen den Vorzug gegenüber nationalen Branchentarifverträgen zu geben“ und „die kommunalen Betriebe (Personennahverkehr, Müllabfuhr, Stromversorgung) zu privatisieren“. Dabei offenbarten die beiden Zentralbänker ihr Demokratieverständnis mit der Empfehlung, „auf dem Verordnungsweg vorzugehen, mit sofortiger Wirkung, nicht durch einen Gesetzentwurf, dem erst noch das Parlament zustimmen muss“.
„Die EZB entmündigt faktisch Italien“, hieß es dazu in Le Figaro. Und der frühere EU-Kommissar Mario Monti, inzwischen italienischer Ministerpräsident, sprach sogar von einer „ausländischen Podestá“, also einer Fremdverwaltung.1
Dabei handelt es sich nicht mehr um „Ratschläge“ oder „nachdrückliche“ Empfehlungen und erst recht nicht um bloße „Botschaften“, wie es die EZB-Chefs als berufsmäßige Schönredner vorgeben. Aber man kann auch nicht von „Weisungen“ oder „Diktaten“ sprechen. Genau genommen handelt es sich um Bedingungen.
„Die EZB hatte bisher keinen wirklichen Einfluss“, erläutert der Politologe Clément Fontan. „Die Bank konnte ihre Meinung sagen, die Politiker hörten vielleicht mit halbem Ohr hin und sagten sich: So ist sie halt, die EZB. Das sind Konservative. Hören wir ihnen zu, dann sind sie schon zufrieden.“ Als dann die Krise kam und Länder der Eurozone von den Finanzmärkten attackiert wurden, weigerte sich die EZB zunächst, ihnen zu helfen: „Sie bestand auf dem Dogma ihrer Unabhängigkeit und Neutralität. Erst als die Marktpanik voll ausgebrochen war, gab sie auf Druck der Regierungen und der Banken schließlich nach.“
Die Bank sah sich also gezwungen, Staatsanleihen der Krisenländer zu kaufen. Aber sie stellte ihnen Bedingungen: Die betroffenen Länder mussten sich nun zu den „Strukturreformen“ verpflichten, die ihnen die EZB seit ewigen Zeiten gepredigt hatte. Fontan vergleich die Situation heute mit dem Verhältnis zwischen Argentinien und dem IWF am Ende der 1990er Jahre: „Der Schuldner wird massiv unter Druck gesetzt, damit er die Reformen durchführt, die der Gläubiger für ‚richtig und notwendig‘ hält. Letztlich war die Krise für die EZB eine willkommene Gelegenheit.“
Eine „Gelegenheit“ – das Wort gebrauchen die Beobachter der Zentralbank immer wieder. Sie alle halten Jean-Claude Trichet für einen „großen Politiker“. Selbst seine Gegner sehen in ihm „den einzigen wirklichen europäischen Führer“. Und Trichet hat die „Gelegenheit“ beim Schopf gepackt, hat den historischen Moment genutzt, um seine persönliche Macht und die der Institution EZB auszuweiten.
Der Gerechtigkeitssinn des europäischen Schatzmeisters
Wir erwarten den europäischen Schatzmeister im obersten Stock des Eurotowers. Von hier hat man einen Panoramablick über das Zentrum der Bankenstadt Frankfurt. Nicht zufällig ist die EZB gleich neben dem Commerzbank-Tower, dem Hochhaus der Dresdner Bank und den Zwillingstürmen der Deutschen Bank angesiedelt. Am selben Morgen haben am runden Tisch im 36. Stock die Präsidenten der 17 Euro-Zentralbanken konferiert und den Beschluss gefasst, „die Leitzinsen unverändert zu belassen“.
Der EZB-Präsident lässt sich in einem Sessel nieder, steht aber gleich wieder auf und klingelt mit einem auf dem Tisch stehenden Glöckchen. Wir beginnen mit dem Hinweis auf die Pressekonferenz, die er gerade gegeben hat. Dabei hat Trichet Tarifabschlüsse auf Unternehmensebene gefordert, Privatisierungen im öffentlichen Dienst, die Flexibilisierung der Löhne. „Das ist ja ein richtiges Regierungsprogramm! Kandidieren Sie bei den Präsidentschaftswahlen?“
„Nein, natürlich nicht“, sagt Trichet lächelnd. „Das sind einfach die Methoden, die meine Kollegen und ich für wichtig halten, um in Europa zu schnellerem Wachstum zu kommen und mehr Arbeitsplätze zu schaffen.“
„Wenn man von Strukturreformen spricht“, geben wir zu bedenken, „erinnert das an die Strukturanpassungspläne, die der IWF in den Achtzigerjahren verordnet hat: Liberalisierung, Deregulierung und so weiter. Das Programm hat weder in Lateinamerika noch in Afrika funktioniert. Warum sollte es heute in Griechenland, in Spanien, in Italien oder in Frankreich klappen?“
Statt den Vergleich zurückzuweisen, wartet der Präsident mit einem zumindest überraschenden Argument auf: Die IWF-Programme hätten sehr wohl funktioniert. „Was sind denn die Länder, die sich in der Krise bemerkenswert gut behauptet haben? Das sind die Schwellenländer, die Länder Lateinamerikas, die jetzt dank ihrer Strukturreformen viel stärkere Widerstandskräfte besitzen. Wir beobachten außerdem erstaunliche Entwicklungen in Afrika. Es gibt Reformen, die eine Freisetzung der Produktivkräfte ermöglichen.“
„Aber warum fordern sie keine Erhöhung der Unternehmenssteuer“, fragen wir Trichet. „Sie lag in Frankreich in den 1980er Jahren bei 50 Prozent. Heute sind es offiziell 33,3 Prozent, aber für die Großunternehmen in Wirklichkeit nur 7 Prozent.“ Trichet gehen derart naive Fragen ein bisschen auf die Nerven. „Man muss immer das höhere Interesse sehen. Denn was passiert, wenn die wirtschaftliche Aktivität in Frankreich höher besteuert wird? Die Investoren gehen ins Ausland, und in Frankreich sind die Arbeitsplätze weg. Soziale Gerechtigkeit ist wichtig. Aber man schafft in Frankreich keine Arbeitsplätze, indem man die Unternehmen höher besteuert, höher als in den Schwellenländern.“ Und dass „das höhere Interesse“ zufällig das der höheren Klassen ist, dafür kann Trichet nun wirklich nichts.
Also folgte Trichet nur dem gesunden Menschenverstand, als er sich im Februar dieses Jahres echauffierte: „Es wäre die größte Dummheit, in Europa die Löhne anzuheben.“ Der gleichzeitige Anstieg der Gewinne aus Dividenden um 13 Prozent – oder mehr als 40 Milliarden Euro – konnte seinen heiligen Zorn dagegen nicht entfachen. Und 2006 war es gewiss nur sein Gerechtigkeitssinn, der ihn zur Rechtfertigung jenes „Ersteinstellungsvertrags“ (CPE) motivierte, den die Regierung Villepin gegen massive Proteste der französischen Jugend durchsetzen wollte.2 Oder der ihn zum europäischen Vorkämpfer für „Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt“ werden ließ, während er in der Diskussion über die Bankerboni den höheren „variablen Gehaltsanteil“ damit rechtfertigte, das diese Leute eben „in einem schrecklich volatilen Metier“ arbeiten (die Trader als neuestes Prekariat!). Derselbe Gerechtigkeitssinn brachte ihn auch dazu, die Heraufsetzung des Rentenalters in Frankreich, Irland oder Portugal für richtig, eine Finanztransaktionssteuer indes für „nicht wünschenswert“ zu befinden.
Solche Gegenüberstellungen lässt der EZB-Grande nicht gelten. Diese „rein politischen Begriffsraster“ gefallen ihm gar nicht. „Ich bin kein Politiker“, beteuert er und beruft sich auf die „politische Neutralität“ der EZB, die im Dienst von „siebzehn Regierungen und 332 Millionen Bürgern aller politischen Richtungen“ stehe. Und im Übrigen wünscht er keine Fragen mehr „zu politischen Themen“.
Wäre Trichet ein Berater im Élysée-Palast geblieben (wie unter Präsident Giscard d’Estaing 1978–1981) oder Kabinettsdirektor im Ministerium für Wirtschaft und Privatisierungen (wie 1986 unter Édouard Balladur), würde man ihn wohl der Rechten zuordnen. Die EZB aber, die sich ihrer „Unabhängigkeit“ rühmt und ihre Urteile als „wissenschaftlich“ verkauft, konnte sich der öffentlichen Kritik bislang zumeist entziehen. Vor den internationalen Demonstrationen gegen das Finanzsystem vom 15. Oktober, als sich tausende Anhänger der Bewegung „Occupy Frankfurt“ vor dem Eurotower einfanden, hatte es dort noch kaum eine Protestkundgebung gegeben.
„Die EZB tut alles, um sich unsichtbar zu machen“, meint der Soziologe Frédéric Lebaron. „Sie sieht sich als eine Art Sachverständigenrat, der über den Parteien und den einzelnen Staaten angesiedelt ist.“3 Aber auch ihre geografische Distanz und die offenkundige (und bewusst gepflegte) Komplexität der Themen, mit denen sie sich befasst, sorgen dafür, dass sie den kritischen Blicken der Bürger entgeht.
Neben den währungspolitischen Zielen – wie ein starker Euro oder die Bekämpfung der Inflation – liegen mittlerweile auch zentrale Entscheidungen der Haushalts-, Finanz- und Sozialpolitik im Kompetenzbereich von Fachleuten, die vor allem in Frankfurt sitzen. Und die setzen ihre Entscheidungen durch, indem sie uns versichern: Wir haben keine andere Wahl.
Gleichwohl bekam es Jean-Claude Trichet am Ende seiner Amtszeit mit einer „Opposition“ zu tun. Die kam allerdings nicht von Arbeitnehmerseite, sondern aus dem Dunstkreis der Banker und Broker. Etwa von Wirtschaftsjournalisten, die normalerweise niemanden mit Fragen zur Arbeitslosenrate in Portugal belästigen oder zum Zustand der griechischen Krankenkassen, die den Zuckerkranken nicht mehr das Insulin bezahlen können. Am 8. September 2011 aber vergrätzte der Korrespondent der Frankfurter Börsen-Zeitung den scheidenden Zentralbankchef mit der Frage, ob er nicht die Gefahr sehe, dass die EZB durch den Ankauf fauler Staatsanleihen vom „Hüter der Stabilität“ zur „Bad Bank“ werden könnte?
Tags darauf verkündete Jürgen Stark, Chefökonom der EZB und Sprachrohr der neoliberalen Orthodoxen, seinen Rücktritt. Bereits im Februar hatte der deutsche Bundesbankpräsident Axel Weber seinen Unmut über die für seinen Geschmack zu lockere Kreditpolitik bekundet, indem er seinen Posten und damit seinen Sitz im EZB-Rat aufgab. Damit verzichtete er zugleich auf die Nachfolge von Trichet. Was dem europäischen Zentralbankchef von dieser Seite vorgeworfen wurde, war also – so komisch das klingt – seine nicht hinreichend orthodoxe Haltung.
Die Handelsräume der EZB liegen im ersten Stock des Eurotowers. Man führt uns in ein schlichtes Großraumbüro mit hunderten PCs, vor denen Männer im Anzug und Frauen im Business-kostüm sitzen. Auf einem Bildschirm laufen die Kolonnen der Börsenkurse. „Wir organisieren hier die Kreditvergabe für die Geschäftsbanken“, erklärt Paul Mercier, der Principal Advisor für Marktoperationen. Im Klartext: Hier wird das Geld im Euroraum ausgegeben. „Jeden Dienstag gibt es hier eine große Kreditauktion. Wie viel wir auf den Markt bringen, darüber entscheidet der Board“ (also der Rat der Zentralbankgouverneure; siehe Kasten).
54 Milliarden gehen direkt an die Gläubiger
Mercier beeilt sich zu sagen: „In der jetzigen Situation haben wir jedoch beschlossen, dass die Banken selbst entscheiden können, wie viel sie aufnehmen wollen. Das sind etwas spezielle Maßnahmen, die wir wegen der Finanzkrise ergreifen mussten. Ivan Fréchard, ein Experte der Devisenmarkt-Kontaktgruppe, bestätigt diese Auskunft: „Ganz einfach: Wir geben den Banken jede Liquidität, die sie von uns fordern.“ Er nennt es die Politik des „full allotment“.
Statt „volle Zuteilung“ könnte man auch sagen: „bis sie den Hals voll haben“. Während man nämlich den Staaten die Kredite nur zu bestimmten – und zwar strengsten – Konditionen gewährt, gilt für die Banken das Selbstbedienungsprinzip. Der Deutschen Bank oder der französischen BNP-Paribas haben Trichet – oder jetzt Draghi – nicht damit gedroht, dass ihnen die EZB nur dann unter die Arme greift, wenn sie sich aus den Steueroasen zurückziehen, die Spekulation mit Staatsobligationen einstellen und sich auf die Finanzierung der Realwirtschaft konzentrieren. Kein Anzugträger von der EZB ist bei der Commerzbank oder der Crédit Agricole aufgetaucht und hat die Bilanzen so genau unter die Lupe genommen wie im Athener Gesundheitsministerium und anschließend genauso arrogante Ermahnungen erteilt.
„Um das System zu retten, hat die EZB den Liquiditätshahn aufgedreht“, erklärt uns Pascal Canfin, der für die Grünen im Europäischen Parlament sitzt. „Das Problem ist aber, dass die Leitung Löcher hat: Der Geldstrom kommt nicht in der Realwirtschaft an. Dazwischen sitzen nämlich die Geschäftsbanken, und denen sind auch heute noch spekulative Finanzgeschäfte wichtiger als Investitionen. Die EZB hat eigentlich dafür zu sorgen, dass der Strom in die richtige Richtung fließt – und das haben sie seit zwei Jahren nicht mehr getan.“
Auch Miguel Portas aus Portugal, der für die Vereinigten Europäischen Linken im EU-Parlament sitzt, klagt über die falschen Prioritäten der EZB-Politik: „Man hat Portugal einen Rettungsplan verordnet. Aber von den 78 Milliarden Euro an EZB-Krediten gehen 54 Milliarden direkt an die Gläubiger. Man hat uns erklärt, die Banken, bei denen die Staatsschulden liegen, hätten Vorrang. Und um das zu finanzieren, werden bei uns die Löhne gedrückt – bei einem Mindestlohn von 485 Euro – und die Renten gekürzt – bei einer durchschnittlichen Rente von rund 300 Euro. Die Wasser-, Gas- und Strompreise wurden um 17, 18 und 20 Prozent erhöht, die Mehrwertsteuer auf inzwischen 23 Prozent. Und bei alledem wird das Großkapital völlig verschont – im Namen der Notwendigkeit, Investoren anzulocken.“
Auch in Irland hat die EZB ihr wahres Gesicht gezeigt. Paul Murphy, ein Fraktionskollege von Miguel Portas, zitiert den Slogan der irischen Labour-Partei bei den Wahlen im Frühjahr: „It will be labour’s way, or Frankfurt’s way.“ Der Kurs der Labour-Partei sah vor, dass die Banken, die privaten Gläubiger, mit herangezogen werden – und nicht nur die Bürger. „Aber die Europäische Zentralbank bestand darauf, dass kein Gläubiger benachteiligt werden dürfe. Und kurz nach den Wahlen haben die angeblichen Sozialdemokraten in Irland kapituliert, wie die Sozialdemokratie in ganz Europa. Sie ist vor den Märkten, der EZB und der Troika eingeknickt.“
Die EZB wird nicht müde, ihre „Unabhängigkeit“ zu betonen, und verweist mit Vorliebe auf Artikel 107 des Maastrichter Vertrags, der besagt, dass „weder die EZB noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft, der Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderer Stellen entgegennehmen darf“. Zumindest gegenüber der Politik ist die Unabhängigkeit also total.
Vom neuen EZB-Chef Mario Draghi dürften die Mächtigen der Finanzwelt im Übrigen genauso wenig zu fürchten haben wie von dessen Vorgänger Trichet. Draghi war von 2001 bis 2005 bei Goldman Sachs als Vizepräsident der Europa-Abteilung tätig. Umgekehrt machte es Otmar Issing, EZB-Chefvolkswirt von 1998 bis 2006 und geistiger Vater des Euro. Er ging von Frankfurt nach New York und wurde International Advisor bei Goldman Sachs. Auch Axel Weber, der als Bundesbankpräsident für Deutschland im EZB-Rat saß, hat sich für den Privatbanksektor entschieden. Nachdem er im April 2011 sein EZB-Amt vorzeitig aufgegeben hat, soll er im Mai 2012 bei der Schweizer Großbank UBS zum Präsidenten des Verwaltungsrats berufen werden. Die UBS wird der Begünstigung von Steuerbetrug verdächtigt.
Keiner der Gralshüter des Euro hat sich nach seiner EZB-Karriere zum Eintritt in eine französische, deutsche oder italienische Gewerkschaft entschlossen. In dieser Richtung bleibt ihre „Unabhängigkeit“ gewahrt.
Was tut die EZB?
Die Europäische Zentralbank (EZB) wurde im Juni 1998 gegründet. Als „vorrangiges Ziel“ bestimmt Artikel 282(2) des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU), „die Preisstabilität zu gewährleisten“. Ihre weiteren Aufgaben sind dem untergeordnet – anders als bei der Federal Reserve, die als US-Zentralbank zugleich auf eine beschäftigungspolitische Rolle verpflichtet ist. „Unbeschadet dieses Ziels“ soll die EZB „die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft unter Beachtung des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb unterstützen“ (Art. 119 (2)). Die Preisstabilität ist erreicht, wenn der Verbraucherpreisindex – die Inflationsrate – langfristig nicht über 2 Prozent liegt.
Zu den Aufgaben der EZB gehört auch die Geldschöpfung. Sie prägt das Bargeld, das in den 17 Euroländern im Umlauf ist; und sie genehmigt den Kreditrahmen, aus dem sich die Banken der Eurozone bedienen.
Der EZB-Rat, oder Board in der Bankersprache, ist ihr wichtigstes Entscheidungsgremium. Er besteht aus den 17 Zentralbankgouverneuren der Euroländer und aus den 6 Mitgliedern des EZB-Direktoriums, die von den Staats- und Regierungschefs einvernehmlich ernannt werden. Der Rat trifft sich zweimal im Monat und legt vor allem den Leitzins fest, zu dem die EZB den Geschäftsbanken Kredite gewährt. Die Protokolle dieser Sitzungen werden nicht veröffentlicht.
Notgedrungen hat die EZB das Ziel der „Preisstabilität“ um das Ziel der „Finanzstabilität“ erweitert. Seit Frühjahr 2010 kauft sie griechische und irische Staatsanleihen, seit Ende 2010 auch portugiesische, seit Anfang 2011 spanische und seit Sommer 2011 italienische. Diese im Rahmen des „Security Market Program“ getätigten Ankäufe erreichten im Oktober 2011 ein Gesamtvolumen von 165 Milliarden Euro (gegenüber 74 Milliarden Anfang August). Damit versetzte sie die deutsche Regierung in Rage. In Berlin wird befürchtet, die EZB könnte zu einer Bad Bank werden: einem Endlager für faule Kredite.