09.12.2011

Von der Sowjetunion zur GUS

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Von der Sowjetunion zur GUS

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Am 8. Dezember 1991 trafen sich drei Präsidenten wie Verschwörer in einer einsamen Jagdhütte tief in den weißrussischen Wäldern. Ohne Mandat von ihren eigenen oder den anderen Sowjetrepubliken unterzeichneten der Russe Boris Jelzin, der Ukrainer Leonid Krawtschuk und der Weißrusse Stanislaw Schuschkewitsch die sogenannten Minsker Verträge, mit denen die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) zum 31. Dezember 1991 aufgelöst und durch die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ersetzt werden sollte.

Der Beschluss kam für die Sowjetrepubliken, die nun der neuen GUS beitreten sollten, völlig unerwartet. Zwar war das Thema Souveränität schon monatelang im Gespräch gewesen, doch eine vollständige Unabhängigkeit war, abgesehen von den baltischen Republiken, nicht in Betracht gezogen worden. Besonders stark war der Schock in Zentralasien und im Kaukasus (ausgenommen Georgien). Der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew fand es unmöglich, dass eine solche Entscheidung ohne Beteiligung der zweitgrößten Sowjetrepublik gefällt worden war. Seine Empörung erinnerte die drei Präsidenten daran, dass die Sowjetunion über die slawische Sprachgrenze hinausging.

Daher wurde am 21. Dezember 1991 in Alma Ata, der damaligen Hauptstadt Kasachstans, ein zweiter Anlauf unternommen. Die Alma-Ata-Deklaration zur Gründung der GUS wurde nur von 11 der ehemals 15 Sowjetrepubliken unterzeichnet. Die nationalistische Regierung Georgiens unter Präsident Swiad Gamsachurdia hatte sich geweigert, der von Moskau dominierten GUS beizutreten. Und die drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen nutzten die Gunst der Stunde, um sich den mittel- und osteuropäischen Ländern anzuschließen, die das kommunistische Erbe hinter sich lassen und in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und in die Nato aufgenommen werden wollten.

Am 25. Dezember 1991 wurde auf dem Kreml die rote Fahne durch die russische Trikolore ersetzt, Michail Gorbatschow trat als Präsident der UdSSR zurück, und die 15 Sowjetrepubliken wurden in die Unabhängigkeit entlassen. Danach wurde es für viele schwierig. Schließlich hatte die marxistisch-leninistische Ideologie den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Alltag über Jahrzehnte beherrscht – und vielen Sowjetbürgern bei aller Ernüchterung doch auch Halt gegeben.

Es ist daher wenig erstaunlich, dass sich die neuen Staaten auf die Suche nach einem Ersatz machten, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken und die Institutionen zu legitimieren. Patriotismus und Religion gewannen nach Jahrzehnten der Unterdrückung im Sowjetsystem wieder an Bedeutung. Manche Regierungen fingen sogar an, die Vergangenheit umzuschreiben, um überhaupt eine Art Nationalgefühl für ein staatliches Gebilde zu wecken, dem es an historischen Bezugspunkten fehlte. Alte Mythen wurden wieder ausgegraben, wie der vom stolzen und freien Kosaken als Urahn aller Ukrainer oder das Erbe von Dschingis Khan in mehreren Ländern Zentralasiens.

Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen waren enorm: Die neuen Staaten mussten erst einmal Demokratien mit freien Wahlen werden, obwohl es zunächst neben der kommunistischen Partei keine weiteren Parteien gab. Da war es schon ein Erfolg, wenn sich klare Grenzen zwischen der regierenden Partei, der gut organisierten kommunistischen und einer nichtkommunistischen Opposition herauskristallisierten. Außer 2001 in Moldawien hatten allerdings die Kommunisten nirgendwo ein Chance, durch Wahlen erneut an die Macht zu kommen. Und die verschiedenen Gruppierungen der nichtkommunistischen Opposition formierten sich ständig neu, vor allem wegen persönlicher Streitigkeiten; ideologische Grabenkämpfe spielten eine eher untergeordnete Rolle.

Ein weiteres Problem war die Umstellung von der zentralen Planwirtschaft auf die freie Marktwirtschaft. Die Hilfe aus dem Westen war an die Übernahme des ultraliberalen Modells und an die totale Öffnung für ausländisches Kapital gekoppelt. Die Investoren konnten sowohl von dem entstandenen politischen Vakuum profitieren als auch davon, dass die Ökonomen in den ehemaligen Sowjetrepubliken alle nur marxistisch geschult waren. So kamen nach der Wende viele einseitige Verträge zustande, die die einzelnen Länder erst Jahre später wieder loswurden. Die russische Duma änderte beispielsweise erst 2003 das Gesetz über die Aufteilung von Produktion und Gewinnen zwischen Staat und Investor (Production Sharing Agreement, PSA). Und Kasachstan gelang es erst 2010, die Investoren auf den Erdölfeldern von Kaschagan in die Schranken zu weisen.

Außerdem gab es vielfältige soziale Probleme. Mit dem Ende der UdSSR wurden zahlreiche familiäre, kulturelle und wissenschaftliche Verbindungen zwischen den einzelnen Republiken gekappt. Der Zerfall der industriellen Infrastruktur und die Öffnung der Importmärkte für Waren aus dem Westen vernichteten tausende Arbeitsplätze. In der postsowjetischen Welt breiteten sich zunehmend Zukunftsängste, extreme soziale Gegensätze und ein ausgeprägter Materialismus aus. Alkoholismus, Kinderarmut und hohe Scheidungsraten zerstörten die traditionellen Familienstrukturen.1

Da die neuen Regierungen trotz nationaler Unterschiede mit denselben Problemen konfrontiert waren, reagierten sie darauf sehr ähnlich. Und so beruht bis heute in allen GUS-Ländern die Macht auf einer starken Präsidentschaft und einem Parlament, das Entscheidungen nur abnickt. Die Presse unterstützt mehr oder weniger freiwillig die offiziellen Positionen. Der Staat stützt die lokale Wirtschaft. Und private Unternehmen müssen einen Beitrag zum Erhalt der öffentlichen Einrichtungen und regionalen Infrastruktur leisten. Dieses Übergangssystem, das die ehemaligen Sowjetrepubliken zunächst mit einer finanziellen Grundlage ausstatten sollte, damit sie sich in der internationalen Konkurrenz behaupten können, besteht bis heute. N. B.

Fußnote: 1 Außerdem hat Russland eine extrem hohe Sterblichkeitsrate. Die Lebenserwartung von Männern liegt bei knapp 63 Jahren; siehe Philippe Descamps, „Sonderfall Russland. Der demografische Niedergang hat nicht nur mit niedrigen Geburtenzahlen zu tun“, Le Monde diplomatique, Juni 2011.

Le Monde diplomatique vom 09.12.2011, von N. B.