Gelähmtes Russland
Ein Staat mit beschränkter Demokratie von Nina Baschkatow
Zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion kämpft Russland immer noch mit Problemen, die aus dem Zerfall der Großmacht entstanden sind. „Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus stand das Land vor einer Herausforderung, wie sie kein Staat der Welt je erlebt hatte. Es musste nicht nur sein Selbstbild als Zentrum eines alternativen Gesellschaftsentwurfs mit großen Einflusssphären und einem riesigen Territorium aufgeben, sondern auch die Grundlagen des Staates und der Gesellschaft radikal verändern“1 , erklärt die Politikwissenschaftlerin Lilia Schewzowa. Diese enorme Herausforderung erklärt, warum Russland den Weg, den es nach 1992 einzuschlagen schien, nicht weiter verfolgt hat und sich stattdessen ein schwer einzuschätzender nationaler Kurs durchsetzte.2
Während die anderen Republiken der ehemaligen UdSSR aus der Abkehr von den vergangenen Sowjetzeiten ein neues Selbstbild gewinnen konnten, stellte sich für Russland die Identitätsfrage vollkommen anders. Denn erstens hat das Land die internationalen Rechte und Pflichten der Sowjetunion geerbt: den Sitz im UN-Sicherheitsrat und in den anderen internationalen Organisationen, Auslandsschulden, Eigentum im Ausland und die Nuklearmacht. Auf all das sind die Russen stolz, und es rechtfertigt in ihren Augen die Stellung als Großmacht. Und zweitens ist für die Bevölkerung die multinationale, föderale Dimension des Landes, die zu den Merkmalen eines Imperiums gehört, immer noch lebendig.
Der Bruch von 1991 bescherte den Russen also ein zwiespältiges Erbe. Einerseits freuten sie sich, endlich alle Mittel und Energien in die eigene Entwicklung stecken zu können, anstatt die Bedürfnisse eines Zaren- oder Sowjetreichs befriedigen zu müssen. Andererseits fürchteten sie, dass das geografisch ins 18. Jahrhundert zurückkatapultierte Russland an Bedeutung verlieren und verarmen könnte oder dass die westlichen Berater, die in ihrem zivilisatorischen Eifer scharenweise angereist kamen, das Land bald zum hoffnungslosen Fall erklären würden.
Präsident Boris Jelzin (1991–1999) hatte zwar die Wichtigkeit des Themas erkannt, ging aber die Frage der Identität rein utilitaristisch an. Nach dem Verschwinden der kommunistischen Ideologie wollte er vor allem einen nationalen Konsens und Zusammenhalt schaffen. Zu diesem Zweck rief er gleich 1992 eine Sonderkommission ins Leben, die eine moderne Version der „russischen Idee“3 kreieren sollte. Abgesehen von einer ziemlich wirren Debatte kam dabei genauso wenig heraus wie bei späteren Kommissionen mit dem gleichen Auftrag.
Russlands Präsidenten, ob Jelzin, Putin oder Medwedjew, versuchten stets, ein Gemeinschaftsgefühl zu bewahren, das sich aus der Zugehörigkeit zu einem multinationalen und föderalen Staat und einer gemeinsamen Kultur, Sprache und Religion nährt – im Anschluss an ein jahrhundertealtes Konzept, das die russische Identität über die Trias Orthodoxie, Zarentum und Völkergemeinschaft definiert. Der Rekurs auf die Vergangenheit hat jedoch nichts mit rückwärtsgewandter Nostalgie zu tun. Es ist ein Konservatismus, der die nationale Einheit aufrechterhalten will und dabei den Weg zu einer postimperialen Demokratie frei macht. Das sagte auf seine Art auch Oleg Morosow, Vizepräsident der Duma, im April 2006: „Wir sind die Erben der Geschichte aller russischen Regierungen […] Anders als die Rechten und die Linken sind wir die Erben sowohl des zaristischen wie des sozialistischen Russland […] Um der jahrhundertealten Tradition treu zu bleiben und dem Lande zu dienen, bekennen wir uns zum Konservatismus.“4
Russland ist ein föderal organisiertes multinationales Gebilde, dessen Völker ihrerseits auf der Suche nach eigenen Wurzeln sind.5 Davon abgesehen leben 8 Millionen Arbeitsmigranten in Russland (in Moskau ist jeder Zehnte eingewandert). Sie sind weder christlich-orthodox noch betrachten sie die russische Sprache und Kultur als identitätsstiftend.
Mit der „russischen Idee“ können nicht nur die international vernetzten Städter nicht mehr viel anfangen, auch auf dem Land geht es den Leuten nicht anders. Abends sitzen sie vor dem Fernseher, schauen Talkshows und bekommen Lebens- und Konsumstile vorgeführt, die mit der traditionellen russischen Kultur nichts gemein haben. Wie der Politikwissenschaftler Andrei Melville feststellt, ist diese Identitätssuche in den Augen vieler Russen sogar eher hinderlich. Solange die „russische Idee“ auf dem Konzept von Macht und Anderssein beharrt, werde es kaum möglich sein, zeitgemäße internationale Beziehungen anzubahnen.
Die unglaubwürdige Opposition
Trotz der Modernisierungsschübe der vergangenen beiden Jahrzehnte ist die russische Gesellschaft immer noch eher konservativ. Die Regierung weiß sehr wohl, dass die beste Zuflucht in stabilen Verhältnissen liegt. Und da die Mehrheit in Russland jegliche Veränderung eher als Bedrohung denn als Chance wahrnimmt, fand sie sich, jedenfalls bisher, mit einem Regime ab, das diese Stabilität zu verkörpern schien.
Die kommunistische Opposition steht ihrerseits für die Kontinuität einer vermeintlich heilen Welt, an die man zwar in nostalgischen Momenten gern denkt, in die man aber nicht wirklich zurück will. Die nichtkommunistische Opposition bleibt indes ein Fremdkörper. Sie schickt zwar ihre Anhänger auf die Straße, existiert aber merkwürdig losgelöst von der übrigen Gesellschaft und trägt auf ihre Weise genauso wie die Regierung zum politischen Stillstand bei. In der Opposition tummelt sich seit den 1980er und 1990er Jahren dasselbe Personal: der Gründer der Russischen Kommunistischen Partei von 1990, Gennadi Sjuganow, der Populist Wladimir Schirinowski, der auf der nationalistischen Welle surft und 1990 die Liberaldemokratische Partei Russlands gegründet hat, oder Grigori Jawlinski, Gründer von Jabloko, der demokratischen „Apfel“-Partei, und von 1993 bis 2008 ihr Vorsitzender.
Andere Oppositionsführer sind diverse „Ex“, von denen einige heute die Entscheidungen kritisieren, die sie einst selbst getroffen haben: Michail Kasjanow, Exministerpräsident; Boris Nemzow, Exvizeministerpräsident; Wladimir Ryschkow, Exabgeordneter, Wladimir Milow, Exenergieminister; Garry Kasparow, Exschachweltmeister; Eduard Limonow, Exschriftsteller. Mit Kriterien wie „links“ oder „rechts“ kommt man hier nicht weit.
Ohne die massive Unterstützung aus dem Westen könnte die nichtkommunistische Opposition, so unorganisiert sie auch ist, sicher mehr Sympathien in der Bevölkerung gewinnen. Doch die ausländische Hilfe stützt das Bild von einer kleinen Kaste, die zu ihrem eigenen Vorteil Reformen fordert, die ihr russlandfeindliche fremde Kräfte eingeflüstert haben und das Land in Konferenzen und Interviews in ein negatives Licht rückt.
Schlimmer noch: Mit dieser bedingungslosen Unterstützung können liberale Oppositionelle sich selbst und ihren westlichen Gesprächspartnern einreden, dass sie nur deshalb scheitern, weil sie von der Staatsmacht verfolgt und den staatlich kontrollierten Medien totgeschwiegen werden. Tatsächlich könnten sie die neue Mittelschicht sehr wohl über oppositionelle Medien6 erreichen. Deren Verbreitung mag begrenzt sein, aber sie erreichen trotzdem ein politisiertes Publikum, das eine echte Gegenmacht in der Duma unterstützen würde.
Das Festival der Opposition, das am 1. und 2. Oktober 2011 in einem Vorort von Moskau stattfand, ist leider ein gutes Beispiel für diese Borniertheit. Statt über politische Programme und Visionen zu reden, diskutierten die Teilnehmer über das Wahlverfahren als solches. Das sei „wichtiger als die Ergebnisse“. So drehte sich die Debatte etwa um die Frage, ob man überhaupt wählen gehen soll, und wenn ja, ob man dann sein Kreuz bei einem x-beliebigen Kandidaten, einem Kommunisten oder einem von der LDPR machen sollte. Hauptsache, hieß es, man stärke „die Opposition zu Einiges Russland“. Manche schlugen vor, gleich einen ungültigen Wahlzettel in die Urne zu werfen.
Die Oppositionsführer Kasparow, Nemzow und Limonow diskutierten leidenschaftlich darüber, wie sie reagieren sollten, wenn Putin eine Einladung schicken würde: Annehmen oder ablehnen? Oder doch in den Kreml gehen, aber sich dann weigern, mit ihm zu sprechen? Oder das Gespräch suchen, aber dann nur in Anwesenheit eines bestimmten Ministers und so weiter und so fort. Als das Publikum endlich Gelegenheit bekam, Fragen zu stellen, flogen Beschimpfungen durch den Saal, wobei die Angegriffenen meist als Provokateure und Spitzel des Kreml bezeichnet wurden. Wladimir Ryschkow („Anderes Russland“) verteidigte den Boykott als einziges Mittel, um „sich nicht an einer Farce zu beteiligen“7 , während sich Michail Kasjanow (Russischer Volksdemokratischer Bund) beim Europaparlament vor den Wahlen dafür eingesetzt hatte, sie vom Westen nicht anerkennen zu lassen.8
Präsident Medwedjew und Regierungschef Putin nutzen das Thema Identität, um ihre Ablehnung gegenüber den Modellen zu rechtfertigen, die der Westen als „Sieger des Kalten Krieges“ in den 1990er Jahren durchsetzen wollte. Das gegenwärtige System setzt – modernisiert und ohne Einsatz von Waffen – die russische Tradition fort, die Macht auf einen kleinen, um den jeweiligen Anführer verschworenen Kreis von Auserwählten zu konzentrieren. Diese sollen das Wort des Anführers verbreiten und ihm zum Wahlsieg verhelfen. Dafür profitieren sie von einem gewissen Prestige und vom Zugang zu den Ressourcen und Budgets der Föderation, Regionen, Gemeinden und staatlichen Organisationen.
Putin wirkt gereizt, Medwedjew entspannt
Man kann also von einem System sprechen, das Elemente einer Demokratie enthält, ohne wirklich eine zu sein. Die Opposition wird nicht verboten, sondern ist Teil der Machtstruktur. So lässt der Kreml regelmäßig verlauten, dass eine moderne Gesellschaft nicht von einer einzigen Partei geführt werden dürfe. Seit den 1990er Jahren sorgen die Präsidenten dafür, dass in der Duma auch Oppositionsparteien vertreten sind; sie scheuen dabei nicht das Risiko, sie selbst auf die Beine zu stellen oder gar zu finanzieren. Während Jelzin die Kommunistische Partei noch daran hindern wollte, über die Wahlurnen wieder an die Macht zu gelangen, träumen Putin und Medwedjew von einem Zweiparteiensystem wie in den USA und Großbritannien. Eine der beiden Parteien wäre natürlich Einiges Russland.
Letzten Sommer versuchte der Kreml die Partei „Rechte Sache“ wieder aufleben zu lassen und machte Michail Prochorow zu ihrem Vorsitzenden. Der Milliardär hatte den doppelten Vorzug, die Partei finanzieren zu können und eine liberale Wählerschaft anzulocken. Doch die Basis lehnte ihn ab. Auf dem Parteikongress im September kam es sogar zu einer Schlägerei zwischen Pochorows bestellten Anhängern und der Kremlfraktion, die dem Oligarchen vorwarf, seine Vertrauten auf den Wahllisten durchsetzen zu wollen.
Der Kreml wolle eine „konstruktive Opposition“ fördern, die Meinungsvielfalt garantiert, ohne den sozialen Frieden zu gefährden. So erklärte es kürzlich Medwedjew auch den studentischen Parteimitgliedern an der Universität von Barnaul: „Es gibt zwei Arten, sein Missfallen zu äußern. Entweder man bleibt draußen und schimpft. Oder man sagt sich: Das gefällt mir nicht, deshalb will ich die Dinge von innen verändern.“9
Trotz aller offensichtlichen Manipulationen waren dann doch viele schockiert, als Putin auf dem Parteitag ankündigte, er werde bei den Präsidentschaftswahlen im März 2012 kandidieren. Das Gerücht kursierte in Moskau zwar schon seit Jahren, aber das Geheimnis wurde so gut gehütet, dass sogar die engsten Mitarbeiter, Minister und die Parteiführung von Putin überrascht wurden. Für den Kreml bedeutet das eine allgemeine Lähmung, die bis zum Mai 2012 anhalten wird, wenn der neue Präsident seinen Amtseid abgelegt haben wird. Die Stimmung im Kreml ist entsprechend schlecht. Anfang November verglich ein Insider die Atmosphäre mit der, die „im Mai 1945 vermutlich im Hitlerbunker herrschte“.
Angeblich sei Putin wegen der Umfragewerte gar nichts anderes übrig geblieben. Schließlich habe er die besseren Chancen, die Wahlen im März 2012 mit einem guten Ergebnis zu gewinnen. In dieser nicht sehr demokratischen Demokratie wird nämlich die öffentliche Meinung vor, zwischen und nach jeder Regierungsentscheidung sondiert. Das Tandem, das Russland seit 2008 regiert, hat zwar begriffen, dass sich die Bevölkerung mehr Stabilität und internationalen Einfluss wünscht. Doch die Situation hat sich seit 2000, als Putin nach dem Chaos der 1990er Jahre wie vom Himmel geschickt schien, deutlich verändert. Außerdem sind Korruption und hohe Lebenshaltungskosten die Folgen einer Politik, die Putin mitverantwortet.
Heute fürchten viele Russen, die Stabilität werde in einen Stillstand münden, auch wenn einige Optimisten immer noch hoffen, dass Putin wieder Reformen durchführen wird und dass auch Medwedjew als künftiger Ministerpräsident von Putins starker Performance im Amt profitieren und eine reformfreudigere Regierungsmannschaft bilden wird.
Auch die Duma ist nicht im Jahr 1999 stehen geblieben. Nach 2007 waren immerhin schon vier Parteien im Parlament vertreten: 315 Abgeordnete für Einiges Russland (94 mehr als 2003), 57 für die Kommunistische Partei (plus 6), 40 für die LDPR 40 (plus 3) und 38 Abgeordnete für Gerechtes Russland (sie bestand 2003 noch nicht).
Die relativ schlechten Resultate von Einiges Russland bei den Regionalwahlen im vergangenen März hatten den Kreml alarmiert und sicher eine Rolle bei Putins Kandidatur gespielt. Da die für die Niederlage verantwortlichen Gouverneure sich nicht so schnell ersetzen lassen, musste man diesmal einen echten Wahlkampf führen, um die unentschlossenen Wähler an die Urnen zu locken. Man wollte sich auf keinen Fall mit einer knappen Mehrheit begnügen. So etwas mag für die Parteien in den alten Demokratien befriedigend sein, nicht aber für Einiges Russland, das nicht von den Stimmen der anderen abhängig sein will.
Lange vor Beginn des Wahlkampfs hatte der Kreml populäre Partei- und Regierungsmitglieder in alle Ecken des Landes und vor allem in die unsicheren Regionen geschickt. Dennoch verlor Einiges Russland bei den Wahlen am 4. Dezember mit 49, 8 Prozent der Stimmen seine Zweidrittelmehrheit (2007 lag das Wahlergebnis bei 64,3 Prozent), unter anderem zu Gunsten der Kommunisten, die um mehr als acht Prozent zulegten. Putin ist zwar immer noch populär genug, um Wahlen zu gewinnen, aber er hat sein Image als Garant der Stabilität und sogar den Respekt bei einem Teil der Bevölkerung verloren. Das zeigt unter anderem die große Begeisterung für die recht derben Putin-kritischen Karikaturen. Heute ist es fast schon selbstverständlich, Einiges Russland mit dem Blogger Alexei Nawalny als „Partei der Betrüger und Diebe“ zu bezeichnen.
Am 27. November wurde Putin unter dem rauschenden Beifall der Delegierten auf dem Parteitag von Einiges Russland mit 100 Prozent Zustimmung zum Präsidentschaftskandidaten gekürt. Die pompöse Inszenierung kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bekanntgabe der Kandidatur ein Kommunikations-GAU war. Und dann verkündeten Medwedjew und Putin im Nachhinein auch noch, sie verstünden die allgemeine Verwunderung gar nicht, da Putins Kandidatur doch bereits seit vier Jahren beschlossene Sache sei. Die Bürger fühlten sich betrogen, viele sind nur mangels Alternative bereit, den Expräsidenten erneut zu wählen. Nach den Wahlen wird ein einfaches „Weiter so“ nicht mehr reichen. Unabhängig von den Ergebnissen wird es höchste Zeit für die Regierung, ihren Führungsstil zu ändern und andere Kräfte neben sich zu dulden.
Der künftige Präsident wirkt inzwischen etwas müde und gereizt. Das war vor elf Jahren noch anders. Medwedjew hingegen wirkt entspannt, gleichsam befreit, seit er auf die Präsidentschaftskandidatur verzichtet hat. Außerdem kommt ein Teil des politischen Personals ins Rentenalter, vor allem die „Männer mit den Schulterklappen“ (Silowiki), die Veteranen in Armee und Geheimdiensten, die Putin 2000 im Schlepptau hatte.
Nicht nur an der Spitze des Staates, auch beim Wahlvolk macht sich der Generationswechsel bemerkbar. So wissen die meisten Jugendlichen heute gar nicht mehr, was ein Kolchos, ein Zentralkomitee oder ein Komsomollager war. Die Diskussion darüber, ob man den Westen kopieren oder ablehnen soll, interessiert sie nicht, sie empfinden weder Nostalgie noch Hass. Im Unterschied zu ihren Eltern damals steht ihnen heute dank Internet, Medien und Reisefreiheit die Welt offen. Sie wollen, wie sie sagen, in einem „normalen“ Land leben.