Guatemala in den Händen der Drogenkartelle
von Toni Keppeler
Guatemala-Stadt ist ein Ort der glänzenden Fassaden. Vor allem in der Zona 10, dem Geschäfts- und Ausgehviertel der besser gestellten Guatemalteken, wächst derzeit ein Hochhaus nach dem anderen in den Himmel. Einer der höchsten Neubauten trägt den vielversprechenden Namen „Dubai Business Center“. Man fühlt sich hier wie in einer pulsierenden Metropole im Aufbruch und nicht wie in der Hauptstadt eines Staats, in dem gut die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren an chronischer Unterernährung leidet.
In Dubai war das schwarze Gold Grundlage des glitzernden Reichtums, in Guatemala ist es das weiße: Kokain. Natürlich gibt es dafür keine Beweise, weil niemand nach Beweisen sucht. Aber es ist offensichtlich, und jeder, den man danach fragt, weiß es. Es fehlt die legale ökonomische Basis für so einen Boom. Das Land hat keine nennenswerte Industrie, es exportiert im Wesentlichen nur landwirtschaftliche Produkte. Das große Agrobusiness aber braucht Plantagen, bestellt vor allem mit Ölpalmen, Zuckerrohr und Südfrüchten. Hochhäuser braucht es so gut wie nicht. Aber irgendwo muss illegales Geld ja gewaschen werden.
Drogenhandel ist eines der bestimmenden Themen in guatemaltekischen Medien. Im eben zurückliegenden Wahlkampf warfen beide Präsidentschaftskandidaten in der Stichwahl einander vor, ihre jeweilige Kampagne sei von den Drogenkartellen finanziert. Beweise hat keiner vorgelegt, aber die Zahlen sprechen für sich: Der Wahlkampf war, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, einer der teuersten der westlichen Hemisphäre.1 Allein der Wahlsieger, der rechte General im Ruhestand Otto Pérez Molina, verpulverte über 11 Millionen US-Dollar, rund das Doppelte dessen, was laut Wahlgesetz eigentlich erlaubt ist. Sein ebenfalls rechter Kontrahent Manuel Baldizón, ein neureicher Unternehmer aus der Provinz, erreichte mit seinen Wahlkampfkosten immerhin das legale Limit.2
Baldizón ist ein typischer Vertreter der Boomgeneration. Der 41-Jährige stammt aus Petén, der größten Provinz im Nordosten des Landes an der Grenze zu Mexiko, wo es noch ausgedehnte Regenwaldgebiete gibt und der Staat traditionell nicht präsent ist. Heute herrschen dort die Drogenkartelle. Schwer bewaffnet patrouillieren sie in ihren Geländewagen durch die Dörfer der Grenzregion und liefern sich untereinander Gefechte. Ende Mai – der Wahlkampf hatte längst begonnen – massakrierte das mexikanische Kartell der Zetas in dem Dorf Los Cocos bei einem Rachefeldzug 27 Landarbeiter und zersägte deren Leichen. In dieser gesetzlosen Gegend hat Baldizón aus dem Nichts innerhalb weniger Jahre sein Hotel- und Immobilienimperium aufgebaut. Er saß zunächst für die ideologielose Regierungspartei „Nationale Einheit der Hoffnung“ im Parlament, machte sich dann selbstständig und gründete seinen eigenen Wahlverein „Erneuerte demokratischen Freiheit“ (Lider).
Weder Baldizón noch der Stichwahlsieger Pérez Molina3 haben offengelegt, wer ihnen die Millionen für den Wahlkampf spendierte. Pérez Molina hat angekündigt, er werde die im Dschungelkrieg trainierte Eliteeinheit Kaibiles in die Schlacht gegen die Zetas im Petén werfen. Dass der General eine Truppe einsetzen will, der eine schier endlose Reihe von Verbrechen im Bürgerkrieg (1960 bis 1996) vorgeworfen wird, ist keine Überraschung – auch die vom zukünftigen Präsidenten kommandierte Einheit war für Massaker an der Zivilbevölkerung verantwortlich.
Doch dass ausgerechnet die Kaibiles in den Kampf geschickt werden, ist absurd: Teile dieser Spezialtruppe wurden vor einem knappen Jahrzehnt vom mexikanischen Golfkartell abgeworben und bauten gemeinsam mit desertierten mexikanischen Elitesoldaten die inzwischen selbstständig agierende Killertruppe der Zetas auf. Vom Kriegsverbrechen zum organisierten Verbrechen ist es nur ein kleiner Schritt.
Die Guatemalteken sind an solche Absurditäten gewöhnt. Sie haben ihren Staat nur in einer kurzen Zeit als Sozialstaat erlebt4 – ansonsten als brutalen Repressionsapparat oder als durch und durch korrupte Fassade. Vier ehemalige Polizeichefs sitzen heute wegen der Zusammenarbeit mit Todesschwadronen und Drogenkartellen in Haft. Expräsident Alfonso Portillo wird demnächst wegen Geldwäsche in die USA ausgeliefert, obwohl er von einem offensichtlich manipulierten heimischen Gericht freigesprochen wurde.5 Das Land wird von anderen Leuten beherrscht als den gewählten Repräsentanten.
Alles gehört acht Familien
Die traditionellen Herrscher nennt man im guatemaltekischen Volksmund die G 8: Eine Gruppe von acht Familien, deren Reichtum sich seit Generationen auf riesige Ländereien stützt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sie ihre Macht mit den US-amerikanischen Agrarkonzernen geteilt und gemeinsam mit diesen dafür gesorgt, dass ihr Herrschaftsanspruch erhalten blieb – erst durch den vom US-Geheimdienst CIA gesteuerten Militärputsch 1954 gegen die Reformregierung unter Präsident Jacobo Árbenz, dann im Bürgerkrieg durch eine außer Kontrolle geratene Armee.6 Der 1996 mit einer nahezu aufgeriebenen Guerilla unterzeichnete Friedensvertrag änderte nichts an den Machtverhältnissen.
Entscheidender für die Entwicklung in Guatemala waren Umbrüche im lateinamerikanischen Drogengeschäft. In Kolumbien, wo Koka angebaut und Kokain produziert wird, war es der Armee mithilfe von Milliarden Dollar aus den USA gelungen, die großen Kartelle zu zerschlagen. Das stärkte die mexikanischen Mafiagruppen, die vorher nicht viel mehr als Zwischenhändler waren. Sie übernahmen nun die gesamte internationale Logistik. Und weil Guatemala – vor allem die unübersichtliche Provinz Petén – ein wichtiges Zwischenlager der weißen Ware auf ihrem Weg in die USA ist, wuchsen im Schatten der Mexikaner kleine lokale Kartelle heran.
Im Vergleich zur Grausamkeit des heutigen mexikanischen Drogenkriegs sind die guatemaltekischen Drogenbosse eher still und zurückhaltend. Ruhe ist gut für ihr Geschäft und die schufen sie. Es sind die Kartelle, die in den vom Staat vernachlässigten Regionen Straßen bauen, Sportplätze und Schulen. Sie schaffen Arbeitsplätze und zahlen gute Löhne – auf dem Bau, für Gärtner, Drogenverlader, Leibwächter. Ganze Dörfer sind von ihnen abhängig. Wer ein Geschäft eröffnen will, holt die Genehmigung nicht beim Bürgermeister ein, sondern beim lokalen Drogenboss.
Die Paten sind bestens vernetzt. Sie kaufen sich Provinzgouverneure, Bürgermeister und Parlamentsabgeordnete. Bei Wahlen lassen sie nicht korrumpierbare Kandidaten einfach erschießen. Sie bewegen sich in den besten Kreisen und sind so unauffällig, dass sie nicht einmal auf dem Radar der US-Drogenfahnder erscheinen. In Guatemala aber kennt man sie.
Die Familie Mendoza zum Beispiel, vier Brüder, die einen großen Teil der für Drogentransporte wichtigen Provinz Izabal beherrschen. Sie liegt ganz im Osten Guatemalas, an der karibischen Küste, mit Grenzen zu Honduras im Süden und Belize im Norden. Der scheidende Präsident Álvaro Colom spricht ganz offen über die Beziehungen dieser Familie zu Drogengeschäften. Der zukünftige Präsident Pérez Molina ließ Meldungen dementieren, nach denen die von ihm gegründete „Patriotische Partei“ in Izabal mit den Mendozas – also mit der Drogenmafia – zusammenarbeite. Nach einer von Wikileaks veröffentlichten Mitteilung der US-Botschaft in Guatemala-Stadt an die Zentrale in Washington aus dem Jahr 2005 gehört die Familie „zu den fünf größten Drogenorganisationen in Guatemala“.7 Die Mitteilung blieb ohne Folgen.
Den Mendozas gehören mindestens 23 Farmen mit insgesamt rund 30 000 Hektar im Petén, dazu Hotels, Tankstellen, Bus- und Taxiunternehmen sowie der guatemaltekische Spitzenfußballklub Heredia Jaguares. Milton Mendoza ist Mitglied im Präsidium des nationalen Fußballverbands. Er und seine Brüder verlassen das Haus nur in einem gepanzerten Autokonvoi mit schwer bewaffneten Leibwächtern. Verbindungen zu Drogengeschäften streiten sie ab und verweisen darauf, dass juristisch nichts, aber rein gar nichts gegen sie vorliegt. Und damit haben sie recht.
Rund ein Jahrzehnt lebten die G-8-Familien und die neuen Drogenbarone verhältnismäßig friedlich nebeneinander her. Politiker, Justiz und Sicherheitskräfte wurden geschmiert und im Notfall reichten meist Drohgebärden. So wurde im November 2010 die Polizeistation des Städtchens Salamá an der Hauptstraße von Guatemala-Stadt nach Norden umzingelt. Die Angreifer trugen schusssichere Westen, waren mit Sturmgewehren und Granatwerfern bewaffnet und winkten mit dicken Dollarbündeln. Sie wollten nur eine gedeihliche Zusammenarbeit mit den Polizisten sicherstellen. Und die sind waffentechnisch ohnehin unterlegen: Die guatemaltekische Polizei verfügt über zu wenige Autos, zu wenig Benzin und ist oft nur mit Pistolen bewaffnet.
Das Parlament hat Polizei und Justiz entmachtet
Der Auftritt in Salamá war noch alter guatemaltekischer Stil. Seit Ende 2006 aber häufen sich die Schießereien und Massaker. Der Drogenkrieg in Mexiko hat das labile Gleichgewicht zwischen lokalen Kartellen und herrschenden Familien im Nachbarland Guatemala durcheinandergebracht. Hier finden die Kartelle ein im Vergleich zu den umkämpften Regionen Mexikos ruhiges Hinterland. Nachweislich sind die Zetas präsent, die nicht nur mit Drogen handeln, sondern auch mit Erpressung, Entführungen, Menschenhandel und Prostitution Millionen verdienen und dabei äußerst blutrünstig vorgehen. Auch dem Sinaloa- und dem Golf-Kartell aus Mexiko werden ernsthafte Interessen an den guatemaltekischen Drogenkorridoren nachgesagt.
Dort hat der Staat ohnehin nichts mehr zu sagen. Die Kontrolle über die Küstenregionen an Pazifik und Karibik und über das Grenzgebiet zu Mexiko hat er längst verloren. Die Polizei ist machtlos, die Gerichte sind korrupt, und das ist von der Politik auch so gewollt. Es gibt im guatemaltekischen Justizsystem keine Karrierebeamten. Richter werden immer nur auf fünf Jahre ernannt, die obersten vom Parlament. Wer ein Urteil fällt, das dort nicht gewünscht wird, weiß, dass seine Zeit bald abgelaufen ist. Das System wurde bewusst so geschaffen und ist sogar in der Verfassung verankert, um Straffreiheit zu gewährleisten für alle, die politisch, wirtschaftlich und militärisch etwas zu sagen haben oder hatten.
Auch die Ineffizienz der Polizei hat System: Die Polizisten durchlaufen lediglich einen wenige Monate dauernden Schnellkurs und sind danach für alles zuständig, von der Regelung des Verkehrs bis zur Aufklärung eines Mordes. So etwas wie eine speziell ausgebildete Kriminalpolizei gibt es nicht. Zudem sind Polizisten so schlecht bezahlt, dass es keine sehr dicken Dollarbündel braucht, um sie zu korrumpieren. Das Problem ist altbekannt. Seit 2007 gibt es deshalb die „Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala“ (Cicig), eine UNO-Delegation von Staatsanwälten, die der Regierung dabei helfen soll, sogenannte Parallelstrukturen zu enttarnen, die den Staat unterwandern und für kriminelle Zwecke nutzen. Cicig fordert unter anderem eine Polizei- und Justizreform. Das Problem dabei ist, dass dazu das Parlament gebraucht wird – dessen Mitglieder aber selbst vom System der Straffreiheit profitieren. Kein einziger Cicig-Vorschlag für die Reform eines Gesetzes oder einer Institution wurde bislang verabschiedet.8
Der einzige Teilerfolg der UNO-Staatsanwälte auf diesem Gebiet ist die Einrichtung einer präsidialen Kommission, die eine Strategie erarbeiten soll, wie Guatemala zu einer effizienten, professionellen und nicht korrupten Polizei kommen kann. Vorsitzende ist die prominente Menschenrechtlerin Helen Mack, deren Schwester Myrna 1990 von Militärs ermordet wurde, nachdem sie als Anthropologin über geheime Massengräber und Massaker an Mayas geforscht hatte. Auch die Truppe von Pérez Molina hat im Bürgerkrieg solche Gräber hinterlassen. Der zukünftige Präsident hat bereits angekündigt, er werde Helen Mack durch einen Mann seines Vertrauens ersetzen.