Griechische Zustände
von Noëlle Burgi
Man weiß einfach nicht, was der nächste Tag bringt“ – so oder ähnlich drückt es fast jeder Mensch aus, mit dem man in Athen, Thessaloniki oder anderswo ins Gespräch kommt. Die Griechen haben Angst vor dem Morgen, spüren das erdrückende Gefühl, dass ihre Existenz jederzeit vernichtet werden kann. Es ist nicht die erste Krise in ihrer wechselvollen Geschichte, und noch immer schreibt sich dieses Volk das besondere Talent zu, gerade in schwierigen Zeiten eisern durchzuhalten. „Wir haben immer wieder harte Zeiten erlebt und überstanden“, meint die Geschäftsführerin eines kleinen Unternehmens. „Aber jetzt hat man uns die Hoffnung genommen.“
Im Zuge der immer neuen Sparprogramme werden durch Gesetze, Verordnungen, Bescheide oder direkte politische Eingriffe alle Normen infrage gestellt, die bislang für die Gesellschaft, die Wirtschaft und die staatliche Verwaltung gültig waren. Alles ist im Fluss, was gestern galt, ist heute nicht mehr wahr, und was morgen kommt, weiß man nicht. Die Bürger sind einer kleinlichen Bürokratie ausgeliefert, die fast kafkaesk nach unverständlichen und ständig wechselnden Regeln agiert.
„Die Leute sind ja bereit, sich an die Gesetze zu halten“, sagt die Angestellte einer Gemeindeverwaltung auf einer Kykladeninsel, aber wir wissen selber nicht, was wir ihnen sagen sollen. Wir kennen ja auch nicht alle neuen Vorschriften.“ Manche öffentliche Bedienstete üben sich inzwischen in einer Art passivem Widerstand. „Man hat ihnen das Gehalt gekürzt, also tun sie jetzt nichts mehr“, erzählt ein pensionierter Schiffsingenieur, der auf die Regierung gar nicht gut zu sprechen ist. „Und wenn du mit irgendeinem Problem zur Polizei gehst, sagen sie nur: Das ist dein Problem, kümmere dich selbst darum.“
Die wachsenden sozialen Spannungen zeigen sich bereits in der Kriminalitätsstatistik: Fälle häuslicher Gewalt nehmen ebenso zu wie Diebstahl- und Tötungsdelikte.1 Das Lohnniveau sinkt ständig – in einigen Branchen um 35 bis 40 Prozent. Gleichzeitig werden laufend neue Abgaben eingeführt, einige sogar rückwirkend ab Anfang 2010. Sinkende Löhne und wachsende Steuerlasten addieren sich zu realen Einkommensverlusten, die oft sogar 50 Prozent überschreiten. Seit Sommer 2011 sind weitere Belastungen hinzugekommen: zum Beispiel eine Solidaritätsabgabe von 1 bis 4 Prozent des Jahreseinkommens oder ein erheblicher Aufschlag auf die Heizöl- und Erdgassteuer.
Dazu wurde die Grenze der Steuerbefreiung abgesenkt, besteuert werden jetzt Jahreseinkommen ab 5 000 Euro, ein Jahr zuvor lag diese Grenze noch bei 12 000 Euro. Für Immobilienbesitz wird eine neue Abgabe erhoben, die (je nach Wohngegend und Alter des Gebäudes) von 3 bis 20 Euro pro Quadratmeter2 gestaffelt ist und mit der Stromrechnung eingezogen wird. Wer nicht zahlt, dem kann der Strom abgeschaltet werden. Seit November wissen viele Beschäftigte (im öffentlichen wie im privaten Sektor), aber auch Ruheständler nicht mehr, ob ihr Geld bis Monatsende reichen wird.
Viele Leute arbeiten bereits ohne Bezahlung; Renten werden verspätet überwiesen. In privaten wie im staatlichen Sektor werden drastische Einsparungsprogramme durchgezogen, die auch Entlassungen einschließen. Im öffentlichen Dienst sollen bis 2015 rund 150 000 Beschäftigte (in der Altersgruppe über 53 Jahre) in eine „Arbeitsreserve“ überführt werden.2 Damit werden ihre Bezüge ein Jahr lang auf 60 Prozent ihres Grundgehalts reduziert, danach droht ihnen die Arbeitslosigkeit.
Manche Pensionäre werden am Ende kaum genug zum Leben haben, erfahren wir im Gespräch mit ehemaligen Bediensteten der staatlichen Eisenbahngesellschaft OSE. Ihr Monatsgehalt lag zwischen 1 800 bis 2 000 Euro, ein für griechische Verhältnisse anständiges Einkommen. Jetzt sind sie im Rahmen eines „freiwilligen Mobilitätsprogramms“2 in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes eingesetzt und auf ein Grundgehalt von 1 100 bis 1 300 Euro heruntergestuft. In der „Arbeitsreserve“ werden sie nur noch 600 Euro beziehen. Eine andere bezahlte Tätigkeit ist ihnen offiziell untersagt, sonst verlieren sie ihren Job ganz.
Mehr Krankheiten, mehr Selbstmorde
„Ich bezahle die Rechnungen nicht mehr, kaufe weniger ein“, sagt eine Frau aus Thessaloniki. Viele Geschäfte schließen. Die Arbeitslosigkeit lag Ende September 2011 offiziell bei 17,6 Prozent (42,5 Prozent bei der Altersgruppe bis 25 Jahre), das bedeutet einen Anstieg um 11 Prozentpunkte seit 2008. Die katastrophale Lage macht sich vor allem im Gesundheitswesen bemerkbar. In staatlichen Krankenhäusern und Gesundheitszentren wurden die Budgets um durchschnittlich 40 Prozent gekürzt, zugleich nimmt die Zahl der Patienten in den Notaufnahmen zu; und immer mehr Menschen haben gar keinen Zugang mehr zu medizinischer Versorgung. Viele unserer Gesprächspartner beklagten, dass gewisse Medikamente nicht mehr bezahlt werden. „Mein Vater hat Parkinson“, erzählt eine Journalistin. „Seine Medikamente kosten 500 Euro im Monat; jetzt erfuhr er in der Apotheke, dass die Krankenkasse das künftig nicht mehr übernimmt.“
Körperliche wie auch psychische Erkrankungen nehmen in erschreckendem Maße zu. Neuere Untersuchungen sehen die Ursache in den Belastungen des Alltagslebens: Arbeitslosigkeit und private Verschuldung führen zu schweren Depressionen, Verhaltensstörungen und Angstzuständen. Das erklärt auch den drastischen Anstieg der Suizidrate. Die nahm nach inoffiziellen Angaben von 2009 bis 2010 um 25 Prozent zu;4 für die erste Jahreshälfte 2011 meldet das Gesundheitsministerium eine Zunahme um 40 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Ein Aufsatz im britischen Fachblatt The Lancet5 erwähnt die beunruhigende Zunahme der Prostitution, nach anderen Quellen nehmen auch HIV-Infektionen und Geschlechtskrankheiten zu.6 Die Zahl der Obdachlosen hat einen Rekordstand erreicht. Obdachlose waren früher vor allem Alkoholiker, Drogenabhängige und psychisch Kranke, heute findet man immer mehr Leute aus der Mittelschicht, Jugendliche und Menschen, die an der Armutsgrenze leben.7
Welche Auswege gibt es aus dieser „barbarischen“ Krise, wie sie ein Sozialarbeiter in einem Gespräch bezeichnet? Die griechische Gesellschaft ist so ausgelaugt, dass auch die familiale Solidarität nicht mehr funktioniert, die früher immer die Schwächen des Sozialstaats kompensieren konnte. Deshalb wollen viele Griechen auswandern; wer kann, der geht. Und wer bleibt, hat schlechte Chancen. Letzte Zuflucht ist für viele die orthodoxe Kirche, die Suppenküchen und Notquartiere organisiert. In Thessaloniki empfängt Vater Stefanos Tolios jeden Tag dutzende von verzweifelten Menschen, die nach Arbeit fragen. Aber er kann wenig Hoffnung machen.
In Städten wie Volos, Patras, Heraklion, Athen, Korfu und Thessaloniki haben die Bürger eine Art Parallelökonomie eingeführt, ein System lokaler Tauschwirtschaft. Aber solche Initiativen können die großen Probleme nicht lösen. Die Lage hat sich so verschärft, dass manche Familien die Großeltern aus den Altenheimen nach Hause holen, um die Heimkosten von 300 bis 400 Euro pro Monat zu sparen.
Mit einem solchen sozialen Erdbeben würden auch andere Länder kaum fertig werden. Aber Griechenland kann die Folgen einer Sparpolitik, die dem Land von den nationalen und internationalen Führungszirkeln mit „wissenschaftlicher Grausamkeit“8 aufgenötigt wird, besonders schlecht verkraften. Das Land hatte weder die Zeit noch das Geld, um ein effektives System der sozialen Sicherung zu installieren, als die traditionellen Auffangnetze nicht mehr hielten. Zudem wurden die aufgebauten Strukturen von Anfang an durch Korruption und Vetternwirtschaft zersetzt, der historischen Erbkrankheit eines traditionell schwachen Staates.
„Inzwischen geht das alles in die Brüche“, meint Sotiris Laïnas, der an der Aristoteles-Universität Thessaloniki lehrt und ein Netzwerk von Therapieeinrichtungen leitet. Um die Sparauflagen der „Troika“ aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) zu erfüllen, strich Finanzminister Venizelos (noch unter der inzwischen abgetretenen Regierung Papandreou) seinem Gesundheitsminister 210 Haushaltsposten, wovon zahlreiche größere und kleinere Einrichtungen und Streetwork-Projekte betroffen sind, und zwar ohne jede Evaluation.
Damit ist die Arbeit von äußerst nützlichen Initiativen und Projekten gefährdet, die häufig beinahe unverzichtbar sind (wie die Panhellenische Alzheimer-Vereinigung). Auf diese Weise werden die Forderungen internationaler Agenturen, die seit mehr als 30 Jahren den Abbau des Sozialstaats betreiben, von Politikern umgesetzt, die seit langem in dem ineffizienten und korrupten Klientelsystem mitspielen.
Angesichts dessen ist es dreist, wenn die politische Klasse die Verantwortung für die Krise bei der Bevölkerung abladen will, indem sie „den Griechen“ das Fehlen einer protestantischen Arbeitsmoral vorhält. Außerdem schießt man sich auf bestimmte soziale Gruppen ein, die die öffentliche Empörung auf sich ziehen können. In Griechenland sind das Gruppen wie Ärzte und Geschäftsleute, die pauschal der Steuerhinterziehung verdächtigt werden. Die Methode ist nicht neu.
Die meisten Griechen verkennen keineswegs, dass für ihre Probleme vor allem „das System und die politische Führung“ verantwortlich sind, aber sie wissen nicht, was sie dagegen machen sollen. Auch das hat mit der Korruption und Vetternwirtschaft zu tun, die in Griechenland tief verwurzelt sind. Aufgrund dieser historischen Vorbelastung ist nie ein moderner Staat mit einer relativ autonomen, von privaten Interessen unabhängigen Bürokratie entstanden. Und eben auch kein „Citoyen“ mit staatsbürgerlichem Bewusstsein.
Auf internationaler Ebene blieb Griechenland stets ein peripheres, abhängiges Land. Schon bei der 1830 erlangten Unabhängigkeit haben ausländische Mächte dem jungen Staat seine Institutionen aufgenötigt.9 Griechenland war und blieb ein Spielball internationaler Interessen, und seine Integration in die kapitalistische Weltwirtschaft bestätigte und verstärkte nur seine ökonomische Abhängigkeit. Der Staat war ein Kunstprodukt, dessen Institutionen einer Gesellschaft übergestülpt wurden, die noch weitgehend traditionell und segmentiert war, also dominiert von lokalen Loyalitäten, der Zugehörigkeit zu Großfamilien und Dorfgemeinschaften und gemeinschaftlichen Werten.
Ein Staat, aber keine politische Gemeinschaft
Der griechische Staat ist bis heute ein autoritäres und stark zentralistisches Gebilde geblieben, das echte Gewaltenteilung oder Formen lokaler Autonomie und inhaltlich erfüllter Demokratie nie zugelassen hat. In diesem System können Korruption und Vetternwirtschaft immer weiter gedeihen, weil sie die Macht der Eliten festigen und ihren Interessen dienen.10
Die Griechen haben sich mit dieser Situation resignierend abgefunden. Dabei sind sie ein vielleicht stolzes, aber keineswegs naives Volk. Und Selbstkritik ist ihnen nicht fremd. Aber sie sind hilflos und ohne Orientierung. Auf welchen Gesellschaftsentwurf kann sich ein Volk einigen, das nach dem Urteil von Cornelius Castoriadis bislang „von Grund auf unfähig war, sich zu einer politischen Gemeinschaft zu konstituieren“?11
Aber auch eine Rückkehr „in die Zeit vor der Krise, als man bequem mit der Lüge lebte“, wie es Sotiris Laïnas ironisch formuliert, scheint ausgeschlossen. Dafür war der Schock zu heftig, der sich auch in immer lauteren Rufen nach Autorität und Ordnung ausdrückt. Vielleicht erklärt das die aktuellen Umfragezahlen, wonach eine Mehrheit der Griechen das Gefühl hat, dass die neue Regierung der „Technokraten“ unter dem früheren EZB-Vizechef Lukas Papadimos für das Land vielleicht besser ist als das Regime der diskreditierten politischen Klasse.
Was diese Zahlen ausdrücken, ist nicht etwa die Zustimmung zu den Sparprogrammen, sondern nur die vage Hoffnung auf einen Neuanfang. Eine solche „von außen kommende Macht“12 wird als Garant einer kompetenten und ehrlichen Regierung gesehen, die wirklich nur die Interessen des Landes im Auge hat.
Dass diese Erwartungen sich erfüllen, darf man füglich bezweifeln. Nachdem die Griechen nun glauben, ihre alte Führung los zu sein, wissen sie nicht mehr so recht, gegen wen sie sich empören sollen. „Wo ist jetzt der Feind?“, fragt Sotiris Laïnas. „Die Regierung versteckt sich hinter dem Eurostabilitätsfonds. Der Feind mag abstrakt sein, aber die Katastrophe bleibt real. Man stiehlt uns das Leben, man nimmt uns die Zukunft.“