09.12.2011

Genug statt mehr

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Genug statt mehr

Die Welternährungskrise zwingt zum Umdenken in der Agrarpolitik von Benedikt Haerlin

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Dreht sich die Erde um die Sonne oder umgekehrt? Paradigma nennt man in der Wissenschaft eine Grundannahme, die vorgibt, was gefragt, bewiesen und überprüft wird. Paradigmen markieren den Fragehorizont, auf den sich die Mehrheit der Wissenschaftler einigt, um Erkenntnisse und Beweise einzuordnen. Ein Paradigma wird nicht schon abgelöst, wenn seine Grundannahmen widerlegt sind. Es muss auch eine Alternative sichtbar sein, die den Stand des Wissens besser integriert.

Im agrarpolitischen und -wissenschaftlichen Diskurs ist gegenwärtig ein solcher Paradigmenwechsel zu beobachten. Zur Disposition steht nicht weniger als das seit Ende des 19. Jahrhunderts alles überragende Ziel, mit stets fallendem Aufwand mehr zu produzieren. Unaufhaltsam wächst die Erkenntnis, dass die „externen“, ökologischen wie sozialen, Kosten steigender Produktion deren Grundlage gefährden.

Was daraus folgt, ist noch umstritten. Doch die Umkehr gilt mittlerweile als unabweisbar: Ökologische Kosten und begrenzte Ressourcen zwingen zur massiven Reduktion von Klimagasemissionen und beim Einsatz von Pestiziden und Mineraldünger, fossilen Energien und knappen Süßwasserreserven; desgleichen zur systematischen Vermeidung von Abfall, Verlusten und Verschwendung und zur Abkehr von gesundheitlich und ökologisch schädlichem Konsum, für den sich der Begriff der „western diet“ eingebürgert hat.

Bei alledem geht es nicht nur um eine bislang unerhörte Kritik am unbegrenzten Wachstum der Tierproduktion, genannt Veredelungswirtschaft, als dem eigentlichen Motor industriellen Agrarwachstums. Es geht vielmehr darum, Produktion und Verbrauch samt seiner privatwirtschaftlichen wie staatlichen Beeinflussung als ein System zu betrachten.

Eine Binsenweisheit? Nicht für die traditionelle Agrar- und Ernährungswissenschaften, denen die Nachfrage (und deren unausgesprochenes Pendant: der Hunger) als naturgegeben galten. Die betrachteten es als die zentrale Aufgabe der Agrartechnik („dem Ingenieur ist nichts zu schwör“), die Anpassung der Umwelt an die Erfordernisse der Produktionstechnologien zu gewährleisten, und zwar mittels „Technologietransfer“ von oben (Wissenschaft/Industriestaaten) nach unten (Landwirte/Entwicklungsländer).

Dass dieses Konzept grandios gescheitert ist, gilt in der Entwicklungspolitik schon jetzt als ausgemacht. Abzuwarten bleibt, wann die Erkenntnis folgt, wie kontraproduktiv diese Kommandowirtschaft auch in den Industriestaaten ist, wo sie privatwirtschaftlich etwas effizienter organisiert und staatlich hoch subventioniert wird. Der geistige Abschied von der fossilen, industriellen Landwirtschaft der letzten 50 Jahre hat jedenfalls begonnen.

Im Auftrag von UNO und Weltbank haben rund 500 Wissenschaftler aus 86 Ländern im Weltagrarbericht 2008 die Konzepte der letzten Jahrzehnte vernichtend kritisiert.1 Der Bericht kommt zu dem Fazit: „Weiter wie bisher ist keine Alternative.“ Mit Methoden der industriellen Landwirtschaft in Europa, Amerika und Ozeanien und der grünen Revolution in Asien mit ihren chemie- und ölabhängigen Monokulturen sei die Zukunft nicht zu bewältigen. Man könne nicht die globale Kalorienproduktion zu immer neuen Rekorden pushen, zugleich aber eine Milliarde Menschen hungern lassen.

Die Industrie und Agrarlobby samt ihrer Landwirtschaftsministerien, aber auch die Initiatoren Weltbank und FAO und viele Wissenschaftler, denen die unbequemen Wahrheiten wie eine Nestbeschmutzung erschienen, reagierten zunächst auf die übliche Weise: ignorieren, abwerten, lächerlich machen.

Drei Jahre später gehören die Botschaften des Weltagrarberichts zum Standard wissenschaftlicher und politischer Analyse. Zum Beispiel bestreiten nur noch Ewiggestrige, dass es, wenn wir von Raubbau auf Nachhaltigkeit umschalten wollen, auf die Kleinbäuerinnen dieser Welt ankommt, die als Subjekte postindustrieller Innovation statt als vorindustrielle Restposten zu gelten haben. Und dass die industriellen Monokulturen und der gegenwärtige Pestizid- und Mineraldüngereinsatz auf einen Kollaps zusteuern, den aufzufangen immer weniger Zeit bleibt, bestreiten nur noch wenige, wenn auch mächtige Gruppen. Selbst das sozialismusverdächtige Konzept der Ernährungssouveränität, wie es der Weltagrarbericht erstmals definiert, beginnt sich durchzusetzen.2

Maßgeblich an diesem Umdenken beteiligt ist ein Mann, mit dem ich mich seit Jahren über eine symbolbeladene Glaubensfrage der Agrarpolitik streite. Für Professor Jules Pretty von der Universität Essex ist die Agrogentechnik Teil der Lösung, für mich bleibt sie Teil des Problems.

Pretty wandert gern durchs schottische Hochland und träumt dabei von einer „Ecolution“. Wobei er sich fragt, ob diese zum „Survival of the Greenest“ oder doch wieder nur zum Überleben der Reichen führt. 2001 schrieb er im Auftrag von Greenpeace und Brot für die Welt eine wegweisende Studie über kleinbäuerliche Formen nachhaltiger, agrarökologischer Ertragssteigerung.3

Die Sorge ums tägliche Brot erreicht die Metropolen

Pretty ist nicht nur ein passionierter Jäger und Sammler von empirischen Beispielen wegweisender Veränderung, sondern auch ein mit allen Wassern gewaschener Stratege. Anders als sein US- Kollege Miguel Altieri – der „Erfinder“ des Konzepts der Agrarökologie – vermeidet Pretty es stets, sich außerhalb des Konsenses der „herrschenden Lehre“ und ihrer Institutionen zu stellen.

Prettys jüngste Kreation ist der Begriff „nachhaltige Intensivierung“, der nicht nur semantisch listig gewählt ist.4

Für das Establishment bedeutet „Intensivierung“ noch immer: mehr Output durch mehr Input. Dass Pretty unter Input nicht mehr Energie, Chemie und Maschinen versteht, sondern natürliche Vielfalt, Wissen, menschliche Arbeit und demokratische Beteiligung, wird bequemerweise ignoriert. Oder als Billigstrategie für Subsistenzbauern interpretiert, die für den Markt irrelevant sind, aber dennoch tunlichst nicht hungern und rebellieren sollten.

2010 finanzierte ausgerechnet die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung Recherchen des World Watch Instituts über „Innovationen, die die Welt ernähren“, die eindrucksvoll belegen, welch gewaltige Fortschritte kleine, agrarökologische Projekte in Afrika bewirken. Nur eine Schwalbe, die noch keinen Frühling macht? Olivier de Schutter, UN-Beauftragter für das Recht auf Nahrung, hält den Beweis für erbracht, dass man binnen fünf Jahren die Erträge von 500 Millionen Kleinbauern dieser Welt nachhaltig verdoppeln könnte.5 Dies zu versprechen trauen sich nicht einmal die kühnsten Gentechnik- und Pestizid-Apostel.

Im Mai 2011 präsentierte die EU-Kommission in Budapest einen Zukunftsbericht ihres Ständigen Ausschusses für Agrarforschung (Scar) zum Thema: „Nachhaltiger Verbrauch und Produktion in einer Welt begrenzter Ressourcen“.6 Darin heißt es: „In Europa ist ein radikaler Wandel bei Verbrauch und Produktion von Lebensmitteln unumgänglich, um […] das europäische Lebensmittelsystem in Zeiten wachsender Instabilität und Unwägbarkeit widerstandsfähiger zu machen.“ Die Sorge ums tägliche Brot von morgen hat die Metropolen erreicht.

Der Scar-Bericht fordert eine radikale Wende in der Landwirtschaftspolitik und der Agrarforschung. Künftiger Schwerpunkt müsse der Mangel, nicht das Wachstum sein: der Mangel an Lebensmitteln und natürlichen Ressourcen, aber auch an Wissen und verfügbarer Zeit, um sich auf möglicherweise abrupte Systemveränderungen einzustellen. Schon die Entwicklung der einzelnen Faktoren sei alarmierend, völlig unberechenbar seien jedoch die nichtlinearen Folgen von sich gegenseitig verstärkenden Rückkoppelungseffekten.

Der Scar-Bericht unterscheidet zwei gegensätzliche Ansätze der Agrarforschung: das produktivistische Paradigma, das nach wie vor auf Produktionssteigerung plus etwas mehr ökologische Effizienz setzt; und das Suffizienz-Paradigma, das sich am Erforderlichen und Verfügbaren orientiert. Gefordert wird die Entwicklung „radikal neuer Agrarsysteme“ nach dem Grundsatz, nicht mehr als nötig und so effizient wie möglich zu produzieren. Letztlich seien Produktion und Verbrauch nicht am monetären Wachstum zu messen, sondern an ihrem Beitrag zu Wohlergehen und Gesundheit der realen Menschen.

Und es gibt weitere Beispiele: Der Wirtschafts- und Sozialbericht der UN fordert die „große grüne Technologie-Transformation“7 und ein „System nachhaltiger Agrarinnovation“ im Sinne der Empfehlungen des Weltagrarberichts. Er hält fest, dass „für die meisten Anbaufrüchte kleine Höfe die optimale Größe bieten“ und auch in Sachen „nachhaltiger Ertragssteigerungen und Bekämpfung ländlicher Armut die besten Resultate versprechen“.

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für globale Umweltfragen (WBGU) empfiehlt einen neuen „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“8 . Die Landwirtschaft müsse den Erfordernissen des Klimawandels angepasst werden, etwa durch Besteuerung der Lebensmittel nach ihrer Ressourcenintensität. Und das Büro des Deutschen Bundestags für Technologiefolgeabschätzung fordert in einem Bericht die Abkehr von der „Mengenperspektive“ und ein ganzheitliches Ernährungskonzept.9

Die Einleitung zu einer programmatischen Schrift der Welternährungsorganisation FAO hat niemand anders als der indische „Vater der Grünen Revolution“, M. S. Swaminathan, verfasst. Darin heißt es: „Das gegenwärtige Paradigma intensiver Pflanzenproduktion wird den Herausforderungen des neuen Jahrtausends nicht gerecht. Um zu wachsen, muss die Landwirtschaft lernen, zu sparen und zu erhalten.“10

Zwar besteht die FAO, im Scar-Bericht noch als Verfechterin des Produktivismus präsentiert, auf Produktionssteigerungen, aber sie fordert nicht mehr pauschal eine Steigerung der globalen landwirtschaftlichen Produktion um 70 Prozent, sondern eine Verdoppelung der Lebensmittelproduktion in den Entwicklungsländern – eine quantitativ wie qualitativ bemerkenswerte Neubestimmung.

Desgleichen fordert die FAO einen massiv reduzierten Einsatz von Mineraldünger und Pestiziden. Das von Pretty übernommene „neue Paradigma“ der „nachhaltigen Intensivierung des Anbaus“ (sustainable crop production intensification, SCPI) setzt vor allem auf Mulchen, Leguminoseneinsatz, Fruchtwechsel und pfluglose Bodenbearbeitung, und auf Agrarökosysteme statt Einzeltechnologien. Die Bodenfruchtbarkeit wird zur zentralen Kategorie der Intensivierung durch ökologische Methoden, etwa auch bei Agroforstsystemen. Und das Loblied auf Hochleistungssorten wird ergänzt durch die Forderung nach Beteiligung der Bauern und Integration ihrer traditionellen Sorten und Wissenssysteme. Das „antigemeinschaftliche“ Patentsystem wird ebenso angezweifelt wie die Fähigkeit der sechs globalen Agrochemie-Giganten, die am dringendsten benötigten Produkte zu liefern und die auch an weniger zahlungskräftige Abnehmer.

„Und sie bewegt sich doch!“, möchte man frohlocken. Wäre da nicht die eklatante Diskrepanz zwischen den neuen Tönen und dem realen Geschehen in Markt und Politik. Ungeachtet der diskutierten Auswege aus der Sackgasse industrieller Landwirtschaft galoppieren die Märkte in exakt die entgegengesetzte Richtung davon: Der Lebensmittelpreisindex liegt heute über den bisherigen Rekordmarken des Jahres 2008, angeheizt durch Biosprit, Agrarspekulation und die neokoloniale Landnahme von Investoren, die den künftigen Mangel als tolles Geschäft sehen. Auch im Hinblick auf die zur Entscheidung anstehende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU scheint die einmalige Chance eines politischen Paradigmenwechsels fast schon vertan. Jedenfalls wenn man die Vorschläge der Kommission und die Reaktionen der Agrarminister und des Europäischen Parlaments betrachtet: keine klaren Umwelt- und Nachhaltigkeitsziele, keine Perspektive für die Kleinbauern Europas, die zu Millionen vor dem Aus stehen, kein Ausstieg aus dem unanständig billigen Import von Agrarrohstoffen aus – ökologischen oder humanitären – Krisenregionen, keine Abschaffung der Exportsubventionen für Veredelungsprodukte.

Dennoch und trotz aller Vereinnahmungsversuche durch industrielle und institutionelle „greenwasher“ ist die hier beschriebene Paradigmendämmerung ein Grund zur Hoffnung. Zu wissen wohin die Reise gehen muss, ist zwar keine hinreichende, aber doch eine unverzichtbare Voraussetzung für engagiertes Handeln.11

Fußnoten: 1 International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD), „Agriculture at a crossroads“, 2009: www.agassessment.org. Der komplette Weltagrarbericht und alle hier erwähnten Studien unter: www.weltagrarbericht.de. 2 „Ernährungssouveränität“ ist demnach „das Recht von Menschen und souveränen Staaten, auf demokratische Weise ihre eigene Agrar- und Ernährungspolitik zu bestimmen“. 3 Die mehrfach fortgeschriebene Bestandsaufnahme von 286 Beispielen aus Asien, Afrika und Lateinamerika, die 12,6 Millionen Kleinbauern erfasst, ist heute ein Standardwerk: Jules Pretty und andere, „Resource-conserving agriculture increases yields in developing countries“: pubs.acs.org/doi/full/10.1021/es051670d. 4 Foresight, „The future of food and farming: Challenges and choices for global sustainability“. Final Project Report, Government Office for Science, London 2011. 5 Olivier de Schutter, „Agroecology and the right to food“, Report presented at the 16th Session of the United Nations Human Rights Council, 2011. 6 Ständiger Ausschuss für Agrarforschung der Europäischen Union (Scar), „Sustainable food consumption and production in a resource-constrained world“, 2011. 7 World Economic and Social Survey 2011, „The Great Green Technological Transformation“. 8 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“, 2011. 9 Büro für Technologiefolgeabschätzung beim deutschen Bundestag (TAB), „Forschung zur Lösung des Welternährungsproblems – Ansatzpunkte, Strategien, Umsetzung“, TAB-Arbeitsbericht, Nr. 142, Berlin 2011. 10 FAO, „Save and grow – A policymaker’s guide to the sustainable intensification of smallholder crop production“ („save“ hat hier die doppelte Bedeutung von „sparen“ und „erhalten“), 2011. 11 Siehe www.meine-landwirtschaft.de. Benedikt Haerlin leitet das Berliner Büro der Zukunftsstiftung Landwirtschaft.

Le Monde diplomatique vom 09.12.2011, von Benedikt Haerlin