Krise oder Krieg – neue Fronten am Golf
von Alain Gresh
Der Löwe mag es nicht, wenn Eindringlinge in sein Haus kommen. Der Löwe mag es nicht, wenn in der Nacht seine Kinder entführt werden. Der Löwe wird das nicht zulassen. Sie dürfen sich zum Haus des Löwen keinen Zutritt verschaffen.“ Der Mann, der diese Sätze sagte, unterbrochen vom Applaus aus dem Saal, hat jedoch wenig Ähnlichkeit mit einem großen Raubtier. Es ist der afghanische Präsident Hamid Karsai.
Und wer sind die Eindringlinge? Natürlich die Soldaten der Internationalen Sicherheitstruppe (Isaf), die in die Häuser eindringen und Verhaftungen vornehmen. Dabei wurde Karsai selbst 2001 von den USA eingesetzt und verdankt ihnen, dass er bis heute an der Macht ist. Zuletzt durfte er 2009 mit Duldung der „internationalen Gemeinschaft“ die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen fälschen.1 Die nationalistischen Töne schlägt er an, um sich für die Zeit nach 2014 zu wappnen, wenn das US-Militär und seine Hilfstruppen weitgehend abgezogen sein werden. Allerdings werden ihn seine kraftvollen Metaphern wohl kaum vor einem Schicksal bewahren, wie es viele Kollaborateure ereilt.
Gleichzeitig führen die USA im Irak eine der schwierigsten Rückzugsoperationen ihrer Militärgeschichte durch: Bis zum Jahresende sollen Truppen und Ausrüstung fast vollständig abgezogen sein. Nur ein paar hundert Berater sollen im Irak bleiben. Bis zuletzt hatte Washington mit allen Mitteln versucht, die Zustimmung der irakischen Führung für eine langfristige Stationierung einiger zehntausend US-Soldaten zu erhalten. Aber der Widerstand in der Bevölkerung war so stark, dass selbst die der Nato nahestehenden politischen Kräfte dieses Ansinnen zurückwiesen.
Die USA hinterlassen einen Irak ohne den Diktator Saddam Hussein. Als Modellfall für die Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens dürfte das Land aber kaum taugen: Der Irak ist ein gespaltenes und zerstörtes Land ohne funktionierende staatliche Institutionen. Die Zahlen der Witwen und Waisen, der „Verschwundenen“ und der Kriegsversehrten gehen in die Zehntausende. Die konfessionellen Spannungen haben zugenommen, und al-Qaida ist im Untergrund nach wie vor aktiv – anders als 2003 beim Einmarsch der US-Armee, da gab es die Terrororganisation im Irak noch gar nicht. Für all diese Verbrechen wird sich kein US-Regierungsvertreter je vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten müssen.
Alte Rivalen
Hinzu kommt, dass die aktuelle Regierung in Bagdad, trotz ihrer engen Bindung an die USA, mit dem mächtigen Nachbarn Iran mehr als freundliche Beziehungen pflegt. Wie in Afghanistan zeigt sich auch im Irak, dass die Menschen nicht länger von ausländischen Kräften gelenkt werden wollen – die Kolonialzeit ist endgültig vorbei. Das doppelte Scheitern in Afghanistan und im Irak macht den vergleichsweise schwachen Einfluss der USA im Nahen Osten deutlich, eine Entwicklung, die verstärkt wird durch die arabischen Revolten, den Sturz von Ben Ali in Tunesien und vor allem von Mubarak in Ägypten, dessen Regime ein Stützpfeiler der US-Strategie in der in der Region war.
Durch diese Umbrüche ist ein unübersichtliches und unbeständiges Umfeld entstanden, in dem lokale Kräfte an Einfluss gewinnen. Bislang teilte sich der arabische Nahe Osten in zwei Lager: auf der einen Seite die prowestlichen Kräfte, angeführt von Ägypten und Saudi-Arabien, auf der anderen Seite das Lager des „Widerstands“, bestehend aus dem Iran, Syrien und ihren Verbündeten, der Hamas in Palästina und der Hisbollah im Libanon. Dieses „Widerstands“-Lager hat vorerst die Oberhand gewonnen: Massendemonstrationen haben in Ägypten und Tunesien prowestliche Regime gestürzt und andere erschüttert, wie im Jemen und in Bahrain. Auch in Jordanien und Marokko drängt die Bevölkerung auf einen Wandel, und in Beirut regiert inzwischen ganz legal eine von der Hisbollah dominierte Regierung, assistiert von der christlichen Freien Patriotischen Bewegung des Generals Michel Aoun.
Angesichts dieser neuen „Schwäche“ Washingtons, das seine alten Freunde fallen ließ, und der Verwirrung über eine mögliche Ausweitung der arabischen Revolten, wuchs in Saudi-Arabien das Unbehagen. Die Führung in Riad beschloss ihre lang gepflegte Passivität aufzugeben und in die Offensive zu gehen. In einem ersten Schritt versuchte sie Anfang 2011 durch einen Geldregen von 214 Milliarden Dollar – das entspricht etwa der Staatsverschuldung Portugals – innerhalb weniger Wochen den Unmut in der eigenen Bevölkerung zu besänftigen. Der regte sich nicht nur unter der schiitischen Minderheit, sondern auch bei der saudischen Jugend, die auf Blogs und in den sozialen Netzwerken ihre Unzufriedenheit deutlich macht.2 Auch die Ankündigung des Innenministers, 60 000 neue Stellen zu schaffen, klang wie ein Angebot an alle Widerspenstigen. Im zweiten Schritt schlug Riad die – geografisch absurde – Aufnahme Marokkos und Jordaniens in den Golfkooperationsrat (GCC) vor.3
So hofft Saudi-Arabien, das die beiden Monarchien wie auch die neue Führung in Kairo finanziell unterstützt, diese Länder im eigenen Lager zu halten. Mitte März übernahm Riad dann auch noch die Führung bei der militärischen Intervention des GCC in Bahrain, wo es galt, einen demokratischen Aufstand niederzuschlagen, der sich die ketzerische Forderung nach einer konstitutionellen Monarchie auf die Fahnen geschrieben hatte. Den Vorwand für die Militäraktion, die gegen den Willen der USA stattfand und mit der die Saudis eine Verschärfung der schiitisch-sunnitischen Spannungen in der gesamten Region in Kauf nahmen, lieferte „die Bedrohung durch den Iran“ – ein Thema, das die Herrscher am Golf noch mehr beschäftigt als die israelische Führung.
Die Rivalität zwischen dem Iran und Saudi-Arabien gab es bereits vor der islamischen Revolution im Iran 1979, als beide Länder noch Verbündete der USA waren. Dass Ajatollah Chomeini dann zum Sturz des saudischen Herrscherhauses aufrief und Saudi-Arabien den Irak bei seinem Angriffskrieg gegen den Iran (1980–1988) unterstützte, verschlechterte die Beziehungen der beiden Länder weiter. Erst in den 1990er Jahren kam es zu einer Wiederannäherung. Doch der US-Einmarsch im Irak 2003 schuf neue Probleme: Eine schiitisch dominierte und folglich Teheran nahestehende Regierung in Bagdad, der Aufstieg des Iran zur Regionalmacht und die Proteste in Bahrain haben den Konflikt zwischen den beiden Mächten am Golf wiederaufleben lassen.
Der jüngste Schauplatz dieser Rivalität ist Syrien. Als die Arabische Liga im November beschloss, die Mitgliedschaft Syriens zu suspendieren, gab es viel Applaus aus Washington und den europäischen Hauptstädten. Endlich schien sich die Organisation zum Handeln entschlossen zu haben und für die Menschenrechte einzutreten. Zu den Unterzeichnern der Entschließung gegen Syrien gehörten auch Saudi-Arabien, Bahrain und der Sudan.
Dass Riads neuer Kronprinz Naif Bin Abdulasis, seit 1975 Saudi-Arabiens mächtiger Innenminister, die Aktivitäten der Religionspolizei wieder forciert hat, scheint die westlichen Claqueure nicht weiter zu stören. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Herrscherdynastie in Bahrain Oppositionelle verhaftet und foltert oder dass der Internationale Strafgerichtshof gegen den sudanesische Präsidenten Omar al-Bashir wegen Völkermord ermittelt. Den westlichen Beobachtern war es egal: Endlich verbündete sich die Arabische Liga mit dem „Arabischen Frühling“.
„Der Liga geht es gar nicht um die schwierige Lage der arabischen Aufstandsbewegungen“, erklärt der libanesische Intellektuelle As’ad AbuKhalil, „sie hält sich bloß an die Vorgaben der USA. Außerdem spielt der wachsende politische Ehrgeiz des Emirats Katar eine Rolle, das sich als ebenso loyal gegenüber den imperialistischen Interessen der USA erweisen will wie Jordanien oder Saudi-Arabien. Katar möchte zeigen, wie nützlich es für die USA (und für Israel) sein kann. Die Arabische Liga hat uns vorgeführt, dass sie nur dann eine Rolle spielen darf, wenn sie sich strikt an die Weisungen aus Washington hält.“ „Unter solchen Bedingungen“, meint AbuKhalil abschließend, „wäre es besser, die Liga hielte sich ganz raus.“4
Das Regime in Syrien hat mächtige Freunde
Es geht tatsächlich nicht nur um die Zukunft der Demokratie im Nahen Osten, sondern auch um die Unabhängigkeit der Region. Der einflussreiche ägyptische Publizist Mohammed Hassanein Heikal, der schon unter Nasser als Präsidentenberater tätig war und dessen Meinung man nicht unbedingt teilen muss, spricht beispielsweise von einem neuen Sykes-Picot-Abkommen,5 mit dem sich westliche Mächte die Region aufteilen wollen.6 Ganz zu schweigen von Israels fortgesetzten Versuchen, sich der Palästinenser zu entledigen, was nie eine ernsthafte Gegenreaktion der Arabischen Liga hervorgerufen hat. Das mag erklären, wenn auch nicht rechtfertigen, dass die Hisbollah das syrische Regime weiter unterstützt: Für Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah ist der Fortbestand des Assad-Regimes eine „unabdingbare Voraussetzung für das Überleben der palästinensischen Sache“.7
Die Machthaber in Damaskus haben beschlossen, gegen die „ausländische Verschwörung“ mit brutaler Gewalt vorzugehen. Sie haben die Armee und die Milizen mobilisiert und setzen auch alle anderen Gewaltmittel ein – Folter, gezielte Tötungen und Massenverhaftungen. Unter den Alawiten und anderen Minderheiten – Christen, Drusen et cetera –, aber auch unter den Sunniten, genießt das Regime noch einigen Rückhalt, wie die Großkundgebungen für Baschar al-Assad bezeugen, die allerdings weder bei al-Dschasira noch von den westlichen Fernsehsendern gezeigt werden. Die Gefahr eines Bürgerkriegs zwischen den Religionsgruppen, auf die das Regime gern verweist, um seine Unverzichtbarkeit zu betonen, ist real – und das bereitet den Nachbarländern Sorge, vor allem der Türkei, die eine 800 Kilometer lange gemeinsame Grenze mit Syrien hat.
Zunächst versuchte Ankara, das Assad-Regime zu Reformen zu bewegen. Erst als das nicht gelang, wechselte Premier Recep Tayyip Erdogan ins Lager der Assad-Gegner. Allerdings bewegt sich das Nato-Mitglied Türkei auf einem schmalen Grat zwischen seiner deutlichen Kritik an Israel, seiner gewachsenen Popularität im Nahen Osten, mit der es noch den Iran übertrumpft, und der Angst, Syrien könnte erneut die kurdische Karte spielen, indem es – wie bereits in den 1990er Jahren – die kurdische Arbeiterpartei PKK unterstützt.8 Ankara bietet den Kämpfern der „Freien Syrischen Armee“ Rückzugsräume auf türkischem Territorium und soll sogar bereit sein, auf syrischem Gebiet Schutzzonen für die Bevölkerung einzurichten, falls sich der Konflikt ausweitet. Wie andere Länder in der Region fürchtet die Türkei in Syrien vor allem einen konfessionellen Bürgerkrieg, der auf den Libanon oder den Irak übergreifen und damit die gesamte Region in Brand setzen könnte. Diese Gefahr ist sehr viel ernster als die „nukleare Bedrohung“ durch den Iran.
Denn trotz der medialen Hysterie liefert auch der im November vorgelegte Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) keineswegs den Beweis für die seit Jahrzehnten vorgetragene Behauptung, der Iran entwickle Atomwaffen.9 Aber er bot den Anlass für weitere Diskussionen, die vor allem von westlichen Geheimdiensten und dem israelischen Mossad angeregt wurden, welche sich seit Jahren weigern, der IAEO die Quellen ihrer „Informationen“ zu nennen.
Hamid Serri, Lehrbeauftragter für internationale Beziehungen an der International University of Florida, muss beim Umgang mit dem Iran oft an Debatten über den Irak denken. Er erinnert daran, dass es am 17. März 2003, drei Tage vor Kriegsbeginn, in einem Bericht der von Hans Blix geführten Unmovic-Kommission hieß, der Irak stehe immer noch in Verdacht, Massenvernichtungswaffen zu besitzen. Wie konnte es zu einer so folgenreichen Fehleinschätzung kommen? „Nicht die Informationslage war das Problem“, meint Serri, „sondern die Voreingenommenheit der Inspektoren. Die waren Gefangene einer Theorie, die nicht ‚widerlegt‘ werden konnte, weil sie davon ausging, dass man dem Irak nicht trauen könne. Das Fehlen von Beweisen bewies demnach nichts, weil man nie beweisen kann, dass nicht doch etwas vertuscht wird.“10
Wie der Irak Ende der 1990er Jahre sieht sich auch der Iran dem Vorwurf der „Unehrlichkeit“ ausgesetzt. Dabei geht es weniger um den – legitimen – Zweck, das iranische Nuklearprogramm zu kontrollieren, als vielmehr darum, das Land mit immer neuen Vorwürfen zu überziehen und die Vorstellung zu verbreiten, es plane einen nuklearen Angriff auf Israel. Allerdings hat selbst der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak inzwischen eingeräumt, dass Teheran genug andere Gründe habe, um in einer derart instabilen Region Atomwaffen haben zu wollen.11
Wird es also wieder Krieg geben? Das ist schwer vorauszusagen. Immerhin sind sich alle Experten einig, dass ein Angriff auf den Iran katastrophale Folgen für die gesamte Region hätte. Vorerst aber haben die USA und Israel vom erneuten Kriegsgeschrei profitiert: Der zurechtgebastelte Erzfeind lenkt von der Palästinafrage ab und befördert zudem eine pragmatische Allianz zwischen den moderaten arabischen Ländern und Israel. Schon den 1980er Jahren träumte US-Präsident Ronald Reagan davon, Araber und Israel im Kampf geeint zu sehen, damals gegen die „sowjetische Gefahr“.
Die arabischen Revolten haben die geopolitische Dimension der Konflikte in der Region zeitweise verdeckt. Dass die alte Ordnung im Nahen und Mittleren Osten und im Maghreb auseinanderbrechen würde, hatte sich schon vor 2011 deutlich gezeigt: der Bürgerkrieg im Irak, die Instabilität in Kurdistan, der stille Bürgerkrieg im Libanon, die Zersplitterung der Palästinensergebiete, die Unabhängigkeit des Südsudan, die Konflikte in der Sahelregion und der Westsahara … Ein weiterer Krieg in der Region würde nicht nur die Demokratisierung zum Stillstand bringen, er würde die gesamte südliche Nachbarschaft der Europäischen Union ins Chaos stürzen.