Das Ich ist ein Teil der Welt
Vietnams junge Literaten entdecken sich selbst von Jean-Claude Pomonti
Vietnam ist ein sehr junges Land, 60 Prozent der Bevölkerung sind unter dreißig Jahre alt. Für diese jungen Vietnamesen ist der Heroismus des jahrhundertelangen Kampfes für Unabhängigkeit und Einheit, der die Geschichte des Landes stark geprägt hat, nicht mehr der einzige und wichtigste Bezugspunkt. „Es hat hier einmal den Glauben an eine doppelte Emanzipation gegeben, an die soziale Emanzipation durch den Marxismus-Leninismus und an die durch den Krieg herbeigeführte nationale Emanzipation, die in der offiziellen Literatur immer im Zentrum stand, aber dieser Glaube existiert nicht mehr, unsere Nachkriegsjugend hat keine Ideale mehr“1 , meint die in Paris lebende Literaturkritikerin und Übersetzerin Cam Thi Doan.
In der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) und deren Umfeld bekunden ehemalige Widerstandskämpfer deshalb ihre Besorgnis. Dabei verbergen sich hinter einer derartigen vermeintlichen Leere neu entstehende und komplexere Gesellschaftsstrukturen. Die offizielle Dichotomie von Gut und Böse verblasst jedenfalls zunehmend.
Cam Thi Doan greift die Marx’sche Formel von der „helden- und ereignisarmen Zeit“2 auf und überträgt sie auf Vietnam. Do Khiem, der in Vietnam, Frankreich und den USA zu Hause ist, zitiert in einer kurzen Erzählung die unglückliche Heldin eines berühmten vietnamesischen Romans aus dem 19. Jahrhundert: „Kaum habe ich das Knäuel entwirrt, schlingen sich die Fäden schon wieder umeinander.“ Aber Do Khiem, für dessen Texte viele von den jungen vietnamesischen Literaten schwärmen, macht diese Anleihe, um damit für sich selbst im Gegenteil zu betonen: „Niemand hält mich fest.“3
Unmittelbar nach den Indochinakriegen widmete sich eine ganze Generation begabter Schriftsteller dem Elend des Kampfes und den Ernüchterungen der Nachkriegszeit. Die meisten kamen aus dem Norden und standen auf der Seite der Sieger, die wichtigsten waren Nguyen Huy Thiep, Bao Ninh, Duong Thu Huong und Pham Thi Hoai. Ihr Blick auf den Krieg und die aus ihm hervorgegangene Gesellschaft prägte die Texte, die in der Zeit der politischen Öffnung Vietnams und der ersten, von der KPV 1986 beschlossenen Reformen entstanden. Einige Autoren erzählten auch von den Narben, die die brutale Agrarreform von 1955 bis 19564 und spätere Repressionswellen im Norden des Landes hinterlassen hatten.
In den 1990er-Jahren war Hanoi das Zentrum einer literarischen Erneuerung, die auch im Ausland wahrgenommen wurde, vor allem nachdem einige Bücher auf den Index kamen und nur unter der Hand zirkulierten – allerdings in beachtlichen Mengen. Das Aufkommen dieser Schriftstellergeneration versetzte der offiziellen, vom sozialistischen Realismus geprägten Literatur den wohl entscheidenden Schlag. Sie markiert das Ende eines Mythos, vielleicht auch das Ende der Scheinheiligkeit.
Vietnam hat Umbrüche, aber keine Revolution erlebt. Angesichts der vielen Wortmeldungen von Autoren, die ihre eigenen historischen Nachforschungen betreiben, reagieren die Staatsliteraten entweder mit Zensur oder mit dem Umschreiben der Geschichtsbücher. Die Öffentlichkeit wird zwar noch in Unkenntnis gehalten, aber das ist nur noch Nachgeplänkel, bei dem immer weniger auf dem Spiel steht.
So greift die Zensur in der Regel erst im Nachhinein. Es liegt in der Verantwortung eines Verlegers, ein Buch herauszubringen – auf die Gefahr hin, dass es später vom Markt genommen wird. Ein solches Verbot traf beispielsweise den „Bericht des Jahres 2000“, den der Verlag Thanh Nienh (Jugend) herausgebracht hatte. Bui Ngoc Tan erzählt darin von den harten Haftbedingungen, denen er drei Jahrzehnte zuvor als Opfer einer antirevisionistischen Kampagne ausgesetzt war. Wenige Wochen nach Erscheinen ließen die Behörden das Buch einstampfen.
Der Roman „Chinatown“ von Thuan, einer jungen vietnamesischen Autorin, die in Frankreich lebt, konnte dagegen im März 2005 in Vietnam erscheinen und verkaufte sich sehr gut. Darin geht es um die Demütigungen, die die Auslands-Chinesen 1979 nach Ausbruch des Grenzkriegs zwischen China und Vietnam zu erdulden hatten – ein überaus heikles Thema, das bis dato tabu war.
Dieser Durchbruch sagt jedoch noch nichts darüber aus, was auf der mit dem 21. Jahrhundert aufgeschlagenen neuen Seite der vietnamesischen Literatur zu lesen sein wird. Die Autoren aus der Zeit der ersten Reformen haben den Mythos der offiziellen Geschichte und den sozialistischen Realismus nach Kräften (und je nach Talent) infrage gestellt. Mit Ausnahme von Duong Thu Huong, einer Kämpferin für die Menschenrechte in Vietnam5 , haben sie allerdings nicht viel Zukunftsweisendes zu bieten.
Um sich neue Legitimität zu verschaffen, stützt sich die KPV, „Vater des Sieges“, auf drei Pfeiler: die ökonomische Expansion, den Kampf gegen die „negativen Phänomene“ – Korruption, Sittenverfall – und die Rückbesinnung auf die nationalen oder historischen Werte. Vielleicht dient es ja zur Beruhigung einer Bevölkerung, die jahrelang hohle Phrasen vorgesetzt bekam und sich längst ans Weghören gewöhnt hat, wenn jetzt der Konfuzianismus an die Stelle der schwindenden „internationalen Solidarität“ treten soll. Die gesellschaftlichen Bestrebungen weisen jedoch in eine andere Richtung.
Selbst in den abgelegensten Dörfern des Landes schießen inzwischen Internetcafés aus dem Boden. Hier können die teils arbeitslosen Jugendlichen eine Welt ohne Grenzen entdecken, sich auf ihrer Suche nach Orientierung in ferne Gefilde begeben.6 In den von manchen Zeitungen angebotenen Chatrooms können sie sich mit den unterschiedlichsten Autoren austauschen, einschließlich solchen in der Diaspora. Dabei obsiegt allmählich das „horizontale“ über das „vertikale“ Prinzip: Die jungen Leute finden Antworten, indem sie Begegnungen auf Augenhöhe suchen, und sie lassen die alte Gewohnheit hinter sich, auf die richtigen Worte von oben zu warten.
„Die Regierung will jungen Autoren einerseits Türen öffnen, setzt ihnen andererseits aber immer wieder Grenzen. Wir sollen nach alter Tradition über die Kriegshelden schreiben, aber das können wir nicht, wir haben es nicht erlebt. Wir reden über Sex“, erzählt Lynh Bacardi. Hinter dem Künstlernamen verbirgt sich eine junge Dichterin, sie gehört in Ho-Chi-Minh-Stadt (das frühere Saigon) zu einer kleinen Frauengruppe, die sich „Gottesanbeterinnen“ nennt – nach der berüchtigten Fangschrecke, die nach der Paarung das Männchen verzehrt.
„Die jungen Autoren rühren an Tabus: Niedergang des Klassenkampfs, Drogen, Verschlechterung des Bildungswesens, Homosexualität“, begeistert sich eine Saigoner Kunstkritikerin über diese Kühnheit. Die Literaturkritikerin Cam Thi Duan spricht von einer „intimen Literatur, die Interesse verdient, denn das Ich ist ein Teil der Welt. Ohne die Augen vor den gesellschaftlichen Problemen zu verschließen, erzählen uns die Autoren von ihrem Leben, ihren Sorgen, ihren Träumen, ihrem Schmerz; sie beschreiben eine undurchsichtige Welt, tauchen ein in die dunklen Regionen des Unbewussten, werfen den Leser aus der Bahn und erzeugen Unbehagen.“
Ly Doi ist der Sprecher von Mo Mieng, „Mund auf“. Diese Gruppe junger „Antipoeten“ – als solche bezeichnen sie sich selbst – wurde im Jahr 2000 in einem Vorort von Ho-Chi-Minh-Stadt gegründet. In einem kurzen Text, den Ly Doi im letzten Jahr über Internet verbreitet hat, geht er noch einen Schritt weiter: „Mein Empfinden gilt nicht der Tradition, sondern den unendlichen Räumen. Mein Empfinden gilt meiner eigenen Zeit, zu keiner anderen habe ich eine Verbindung. Ich gehöre keinem Prinzip, keiner politischen Partei, keiner Religion, keiner Ideologie, keiner Organisation. Verdammt noch mal, ich gehöre mir selbst! Mein Empfinden gilt der existenziellen Freiheit und meinem wahren Gesicht. Ich will allem den Krieg erklären, was auf Kommerz beruht: den Museen, den Kritikern, den Kunsthistorikern, den Ästheten und dem, was manche Leute als kulturelle Kräfte bezeichnen. Ich bin überzeugt, dass die wahre Kunst noch nicht geboren ist, denn die wahre Freiheit und die wahre Gerechtigkeit haben nicht gesiegt. Die Freiheit ist noch nicht geboren, genauso wenig wie das große Kunstwerk der Freiheit.“7
Diese jungen Autoren tendieren zum Nihilismus. Sie sind zuweilen ziemlich grob, aber nie vulgär. Sie provozieren, machen lächerlich, auf dass „die Masken fallen“ und frischer Wind hereinweht. „Die sprachliche Provokation ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende besteht darin, sich der Volkssprache, der Umgangssprache zu bedienen; das Entscheidende ist die Aufrichtigkeit“, erklärt Ly Doi. Sie wollen ihre Texte nicht veröffentlichen und ihr sogenannter Verlag namens Giay vun, zu Deutsch „Altpapier“, beschränkt sich auf den Vertrieb von Fotokopien und CDs. Die ewigen Studenten betonen ihre Randständigkeit und schreiben in der Umgangssprache des Südens, ohne deren Grobheiten auszulassen. Ihre Texte bringen die Existenz in den Vorstädten zum Ausdruck, aus denen sie stammen. So entsteht eine Literatur des bui doi, „Staub des Lebens“ – der freilich eine gehörige Portion Kultur und Geschichte in sich trägt.
Tastend suchen sie sowohl in ihrem Denken als auch in ihrer künstlerischen Expression nach dem ganz Anderen. Sie sind von ihrem Vorbild Tran Quoc Chanh beeinflusst, der sich zum „Weltbürger“ erklärt hat.
Er war das Enfant terrible der Saigoner Literaturszene und ist der Verfasser des Gedichts „Wohlmeinende, ich sch… auf euch!“, das in der vietnamesischen Literaturszene für einige Aufregung sorgte. Damit verlassen die jungen Autoren die ausgetretenen Pfade. Womöglich zeigt sich hier auch eine Jugend, die sich gegen Leere, Langeweile oder Lebensängste zur Wehr setzt. „Einfach der Wunsch, zu leben, und wäre es nur, anders zu leben, anders zu denken als ihre Vorgänger“, fasst Cam Thi Duon zusammen. Die jungen Leute sind eben nicht nur auf Abwegen und scharf auf Geld oder Drogen.
In der KPV haben inzwischen auch die einstigen Widerstandskämpfer eingesehen, dass eine Partei, die zugleich als Akteur und als Schiedsrichter auftritt, eine zwiespältige Situation schafft und keinen Raum für Visionen lässt. Die Bewegung hat kein echtes Projekt anzubieten, nicht zuletzt weil ihr das Gegengewicht, der Dialog fehlt. Ein guter Vietnamkenner aus Frankreich spricht von „der enormen Leere, die die festgefahrenen kapitalistisch-marxistischen ‚neuen Denker‘ in puncto Ideologie, Botschaft, Moral und Ethik hinterlassen haben“. Die Rückbesinnung auf Tradition und Nation reicht nicht aus, um dieses Defizit abzufangen. Im Gegenteil, man würde es damit eher betonen und gleichzeitig die Diskrepanz zwischen den politisch Mächtigen und einer Gesellschaft verstärken, die sich einer völlig neuen Situation stellen muss: Zum ersten Mal seit dem 19. Jahrhundert muss das vereinigte und unabhängige Vietnam nicht nur sein Zusammenleben mit China, sondern auch seinen Platz in der globalisierten Welt selbst definieren.
In „A nos vingt ans“, einem 2005 in Frankreich (Editions de l’Aube) erschienenen Roman, erzählt Nguyen Huy Thiep von einer desorientierten Jugend, die nur die Rückbesinnung auf die Natur und die Traditionen retten kann. Dieser aus einem persönlichen Unbehagen heraus entstandene Text ist nur bedingt interessant: Der Autor versetzt sich – oder versucht es zumindest – in die Haut eines Jugendlichen aus guter Familie, der im Drogen- und Gangstermilieu landet. Diesem entkommt er schließlich, nachdem er auf einer Insel in der Halongbucht abgesetzt worden ist, dort zunächst einen Zwangsentzug absolviert und dann in der Obhut von Fischern zu neuer Lebensfreude gefunden hat. Die Nachricht vom Tod seines Vaters, eines bekannten und nahezu untadeligen Schriftstellers, löst einen heilsamen Schock mitsamt Umkehr und Reue aus – so dass am Ende alles wieder in Ordnung ist.
Anlässlich des dreißigsten Jahrestags des Kriegsendes 1975 schreibt Thiep: „Um sich über den Verlust der traditionellen Werte hinwegzutrösten, pflegen die Menschen heute einen materialistischen, gewalttätigen und hedonistischen Lebensstil.“8 Und er fügt hinzu: „Die Korruption ist eine Plage, die sich nicht eindämmen lässt … diese Unterschlagungen verderben die Jugend.“ Derartige Vereinfachungen bringen jedoch keine echten Antworten, und eine Rückkehr zur Natur und zur traditionellen Ordnung, die auch die Machthaber gern predigen, ist utopisch. Ihr widerspricht das Entstehen einer neuen Generation von Schriftstellern, deren Anliegen sich auf einer völlig anderen Ebene bewegen.
In Vietnam kommt die Entwicklung nach dreißig Jahren Krieg, der sich anschließenden Phase der Irrtümer und langen Zeit des Zögerns allmählich wieder in Gang. Ein Künstler der vietnamesischen Diaspora in den USA, Dinh Q. Le, erklärt den Weg der Vietnamesen so: „Sie haben zwanzig Jahre lang gekämpft. Sie hatten keinerlei Vorstellung davon, wie man ein Land lenkt. Und trotzdem gehen sie voran, bekommen es mit der Angst zu tun, gehen weiter. Aber bei uns findet man auch etwas, das einzigartig ist in Südostasien: den Impuls, uns selbst zu verbessern, etwas aus unserem Leben zu machen.“9
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Jean-Claude Pomonti ist Journalist.