14.12.2007

Weiße Kaninchen aus dem Weißen Haus

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Weiße Kaninchen aus dem Weißen Haus

Illusionskünstler im Dienst der Bush-Regierung von Christian Salmon

Zwei Wochen vor der amerikanischen Präsidentschaftswahl, am 17. Oktober 2004 erschien im New York Times Magazine eine Titelgeschichte über George W. Bush, die einiges Aufsehen erregte. Darin berichtet der Pulitzer-Preisträger Ron Suskind von einem Gespräch, das er im Sommer 2002 mit einem wichtigen Bush-Berater geführt hatte: „Der Mitarbeiter sagte mir, dass Typen wie ich zu denen gehörten, ‚die wir als die Realitätsgläubigen [the reality-based community] bezeichnen. Ihr gehört doch zu den Leuten, die glauben, dass Lösungsvorschläge auf der gründlichen Analyse der erkennbaren Wirklichkeit beruhen.‘ Ich nickte und murmelte etwas von den Prinzipien der Aufklärung und von Empirie. Er unterbrach mich: ‚Aber so funktioniert die Welt heute nicht mehr … Wir sind jetzt ein Imperium, und wenn wir handeln, schaffen wir unsere eigene Realität. Und während ihr diese Realität mit eurer gewohnten Gründlichkeit untersucht, handeln wir schon wieder und erschaffen weitere neue Realitäten, die ihr wieder untersuchen könnt – so läuft die Sache. Wir sind die Akteure der Geschichte … und euch, euch allen wird gar nichts anderes übrig bleiben, als das zu untersuchen, was wir machen.‘ “1

Nach dem Erscheinen von Suskinds Artikel griffen Kommentatoren und Blogger den Ausdruck „reality-based community“ auf und verbreiteten ihn im Web. Bereits Anfang November 2002 gab es den ersten Wikipedia-Eintrag. Jay Rosen, Professor für Journalistik an der New York University, berichtet, dass „viele Linke den Begriff übernahmen, indem sie sich in ihren Blogs als ‚würdige Vertreter der Realitätsgläubigen‘ bezeichneten, während sich die Rechten darüber lustig machten: ‚Sie halten sich an die Realität? Na groß-artig!‘ “2

Wer sich an die Realität hält, ist naiv

Die von Suskind zitierten Äußerungen über die „Realitätsgläubigen“ stammen höchstwahrscheinlich von Karl Rove, bis zum Sommer 2007 der wichtigste politische Berater des Präsidenten. Wenige Monate vor dem Irakkrieg geäußert, wirken diese medienwirksamen und eines Machiavelli würdigen Aussagen nicht nur zynisch, sie haben auch etwas Theatralisches an sich und passen nicht in ein Büro im Weißen Haus. Dabei ging es Rove nicht einmal um die altbekannte Spannung zwischen Pragmatikern und Idealisten, Realisten und Moralisten, Pazifisten und Bellizisten beziehungsweise – wie in jenem Sommer 2002 – zwischen den Verteidigern des Völkerrechts und den Befürwortern einer gewaltsamen Lösung. Hier wird vielmehr eine Neuordnung des Verhältnisses von Politik und Realität proklamiert.3 Die führenden Politiker der Supermacht USA wandten sich in diesem Moment nicht nur von der Realpolitik ab, sondern vom ganz normalen Realismus, schwangen sich zu Schöpfern ihrer eigenen Wirklichkeit auf, zu Herren des Scheins, bekannten sich zu etwas, das man als eine Realpolitik der Fiktion bezeichnen könnte.

Die US-Invasion des Irak im März 2003 lieferte einen spektakulären Beweis für die Entschlossenheit des Weißen Hauses, „sich seine eigene Realität zu schaffen“. Die Herren im Pentagon wollten auf keinen Fall die Fehler des ersten Golfkriegs von 1991 wiederholen – und schenkten der Kommunikationsstrategie besondere Aufmerksamkeit: 500 Journalisten wurden Einheiten der Armee zugeordnet (die berühmten „embedded journalists“). Das Pressezentrum des Hauptquartiers der US-Streitkräfte in Katar wurde mit allen technischen Finessen ausgestattet: Für eine Million Dollar wurde ein Flugzeughangar in ein supermodernes Fernsehstudio umgerüstet, mit Podium, Plasmabildschirmen und dem erforderlichen Equipment für die Kriegsberichterstattung aus nächster Nähe, für Animationen, Landkarten und Schaubilder aller Art.

Der Presseauftritt von Oberbefehlshaber Tommy Franks kostete allein 200 000 Dollar. Inszeniert hat ihn ein Bühnenbildner, der schon für Disney, MGM und die Fernsehshow „Good Morning America“ die Kulissen arrangiert hat. Seit 2001 gestaltete er im Auftrag des Weißen Hauses das Dekor für die Pressetermine des Präsidenten – das Pentagon pflegt bekanntlich seit langem seine Verbindungen mit Hollywood.

Erstaunlicher hingegen war die Entscheidung des Pentagon, den Magier David Blaine zu engagieren. Der junge Aktions- und Zauberkünstler ist in den Vereinigten Staaten vor allem für seine spektakulären Stunts berühmt. In seinen Kunststücken befreit er sich scheinbar von den Gesetzen der Physik. Einmal ließ er sich sieben Tage in einem gläsernen Sarg einsperren – ohne sichtbare Zufuhr von Sauerstoff und Nahrung. In seinem 2002 veröffentlichten Buch „Mysterious Stranger“ bezeichnete er sich als Wiedergänger des legendären französischen Magiers Robert-Houdin, der 1856 im Auftrag der französischen Regierung nach Algerien reiste. Er sollte mit seinen Kunststücken die Sympathie der Bevölkerung gewinnen und zugleich die Überlegenheit der Franzosen vorführen.4 Wer weiß, ob sich das Pentagon ähnliche Auswirkungen von Blaines Auftritten erwartete, aber dass er überhaupt engagiert und nach Katar geschickt wurde, legt nahe, dass man sich seines illusionistischen Könnens für irgendwelche Tricks oder Spezialeffekte bediente.

Scott Sforza, der ehemalige Produzent des Fernsehsenders ABC, der auch für die Propagandamaschine der Republikaner arbeitete, arrangierte viele der Kulissen, vor denen Präsident Bush die wichtigsten Erklärungen seiner zwei Amtszeit abgab. So führte Sforza Regie, als Bush am 1. Mai 2003 auf dem Flugzeugträger „USS Abraham Lincoln“ vor einem Banner mit der Aufschrift „Mission accomplished“ verkündete: „Die wesentlichen Kampfhandlungen im Irak sind beendet. In der Schlacht um den Irak haben die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten den Sieg davongetragen.“

Kulissenschieben für den Präsidenten

An Bord eines Jagdfliegers, den man extra für diesen Anlass in „Navy One“ umgetauft und mit dem Schriftzug „George Bush, Oberbefehlshaber“ versehen hatte, war Bush auf dem Flugzeugträger gelandet. Das Fernsehvolk sah ihn in Fliegermontur aus dem Cockpit klettern, den Helm in der Hand, als käme er in einem Remake von „Top Gun“ gerade von einem Einsatz zurück – einem Film von jenem Jerry Bruckheimer, der die Reality-TV-Serie „Profiles from the Front Line“ über den Krieg in Afghanistan produziert hatte und schon bei diversen Gemeinschaftsproduktionen von Hollywood und Pentagon beteiligt war. Es war tatsächlich als Kompliment gemeint, als der Kommentator von „Fox News“ von dem „fantastischen Theater“ schwärmte. Das entsprach im Übrigen nur der Wahrheit. Auch David Broder von der Washington Post war angeblich überwältigt von der „Pose“ des Präsidenten.5 Sforza musste den Bildausschnitt geschickt auswählen, um das nur sechzig Kilometer entfernte San Diego am Horizont verschwinden und so den Eindruck entstehen zu lassen, als kreuze der Flugzeugträger in der Nähe des Kampfgebiets auf offenem Meer.

Nie zuvor wurde die visuelle Inszenierung einer präsidialen Erklärung so überdeutlich wie am 15. August 2002, als der US-Präsident vor dem Mount-Rushmore-Monument unter den gigantischen, in Stein gehauenen Häuptern George Washingtons, William Jeffersons, Franklin Roosevelts und Abraham Lincolns über die „nationale Sicherheit“ sprach: In der Kameraeinstellung verschmolz Bushs Profil mit den monumentalen Porträts seiner berühmten Vorgänger zu einem Bild.

Die alten Geschichten von den Guten und den Bösen

Nach dem gleichen Muster wurde auch Bushs Ansprache zum ersten Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 in Szene gesetzt. Die amerikanische Öffentlichkeit sollte auf die Invasion des Irak vorbereitet werden, „auf den großen Kampf, der unsere Macht und mehr noch unsere Entschlossenheit auf die Probe stellt“. Sforza mietete drei Frachtschiffe an, die die Präsidenten-Crew zum Sockel der Freiheitsstatue brachten. Während Bush sprach, strahlte im Hintergrund das perfekt ausgeleuchtete Wahrzeichen. Frank Rich, Kolumnist der New York Times, der in seinem Buch „The Greatest Story Ever Sold“ Bushs Inszenierungen enthüllt, zitiert in diesem Zusammenhang den Reagan-Berater Michael Deaver. Dieser hatte 1980 Spezialisten damit beauftragt, die Verkündung der Präsidentschaftskandidatur von Ronald Reagan mit der Freiheitsstatue im Hintergrund zu filmen: „Sie wissen wie niemand vor ihnen um die Macht des Bildes. Sie haben begriffen, dass der Hintergrund genauso wichtig ist wie der Kopf.“6

Rahmen und Passepartout machen das Bild zur Legende: „Mission accomplished“, die Gründerväter, die Freiheitsstatue. Das Bild muss bleiben, sich ins Gedächtnis einprägen. So wird es zur Geschichte, zur Story aufgewertet. Damit sich der Betrachter in das Bild einfühlen kann, müssen sich beide Momente, die vom Bild dargestellte Situation und der Moment der Wahrnehmung, aufeinander beziehen. Im Jahr 2002 hatte für die Amerikaner kein Datum mehr emotionales Gewicht als eine Rede über den Krieg am ersten Jahrestag des 11. September.7

Der Religionswissenschaftler Ira Chernus bezeichnete Karl Roves Kommunikationsstrategie als „Strategie der Scheherazade“: „Wenn die Politik Sie zum Tode verurteilt, fangen Sie an, Geschichten zu erzählen: Geschichten, die so sagenhaft, so fesselnd, so bezaubernd sind, dass der König – in diesem Fall die amerikanischen Bürger, die zumindest theoretisch unser Land regieren – nicht mehr daran denken, das Todesurteil auszusprechen.“8

In der Kampagne für Bushs Wiederwahl lenkte Rove die Aufmerksamkeit der Wähler von der negativen Kriegsbilanz ab, indem er die kollektiven Mythen Amerikas heraufbeschwören ließ: Karl Rove, so Chernus, „hat darauf gesetzt, dass sich die Wähler durch Geschichten à la John Wayne beeindrucken ließen, in denen ‚echte Männer‘ vor ihrer eigenen Haustür gegen den Teufel kämpfen. […] Unablässig erfindet Rove für die republikanischen Kandidaten Geschichten von Guten und Bösen. Er tut alles, damit jede Wahl zu einem Sittenstück wird, in dem sich die moralische Strenge der Republikaner und die moralische Orientierungslosigkeit der Demokraten gegenüberstehen. […] Die Strategie der Scheherazade ist ein einziger Betrug, der auf der Illusion basiert, dass uns simple moralisierende Geschichten ein Gefühl der Sicherheit verleihen können, unabhängig davon, was tatsächlich gerade in der Welt geschieht.“9 Im August 2007 wurde Rove von den demokratischen Kongressabgeordneten zur Amtsaufgabe gedrängt. Doch seinem Werk drückte er selbst den Stempel auf, als er bekannte: „Ich bin Moby Dick, und sie sind hinter mir her!“

Fußnoten: 1 Ron Suskind, „Without a Doubt“ („Faith, Certainty and the Presidency of George W. Bush“), The New York Times Magazine, 17. Oktober 2004, www.nytimes.com/2004/10/17/magazine/17BUSH.html. 2 Jay Rosen, „The Retreat from Empiricism and Ron Suskind’s Intellectual Scoop“, The Huffington Post, 4. Juli 2007. 3 Vgl. Christian Salmon, „Eine gute Story. Die Macht ist mit dem, der die beste Geschichte erzählt“, Le Monde diplomatique, November 2006. 4 David Blaine, „Mysterious Stranger. A Book of Magic“, New York (Villard Books) 2002. 5 Zitiert nach Frank Rich, „The Greatest Story Ever Sold. The Decline and Fall of Truth from 9/11 to Katrina“, New York (Penguin Books) 2006, S. 89. 6 Ebd., S. 57. 7 Ebd., S. 58. 8 Ira Chernus und Tom Engelhardt, „Karl Rove’s Scheherazade strategy“, 7. Juli 2006, www.tomdis patch.com. 9 Ebd.

Aus dem Französischen von Michael Adrian

Christian Salmon ist Schriftsteller. Kürzlich erschien sein Buch „Storytelling, la machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits“, Paris (La Découverte) 2007.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2007, von Christian Salmon