14.12.2007

Wer Ivorer sein darf

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Wer Ivorer sein darf

Drei Millionen Einwohner der Elfenbeinküste sollen heute aus historischen oder administrativen Gründen keine Ausweispapiere besitzen. Diese Zahl hat die Opposition Staatspräsident Laurent Gbagbo vorgehalten. Die tatsächlich kaum zu beziffernde Anzahl von Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus ist zu einem zentralen politischen Streitthema geworden. Für die Regierung handelt es sich um Ausländer, die sich zwar schon lange im Lande aufhalten mögen, aber demnächst möglicherweise zu Unrecht eingebürgert werden. Dadurch wiederum könnten sie entscheidenden Einfluss auf die kommende Präsidentschaftswahl nehmen.

Die Einbürgerungsinitiative ist dem Einsatz der „fliegenden Gerichte“ zu verdanken: Beamte stellen fest, wer alles einen Anspruch auf die ivorische Staatsbürgerschaft hat. Im Falle eines positiven Bescheids werden nachträglich Geburtsurkunden ausgestellt. Die Einwanderer und ihre Nachkommen mit Wohnsitz in der Elfenbeinküste können die fliegenden Gerichte auch selbst anrufen, um eine Aufenthaltserlaubnis zu beantragen und damit ihren Status regeln zu lassen. In der Elfenbeinküste wie auch sonst in Westafrika besitzen ein Teil der ländlichen Bevölkerung und mitunter auch der Stadtbewohner keine Geburtsurkunde.1

Die fliegenden Gerichte, die bis Anfang 2008 ihre Arbeit abgeschlossen haben sollen, bewältigen ihre Aufgabe nur mit Mühe. Im Juli 2006 war ihre Einrichtung zunächst am Druck der „Jungen Patrioten“ um Präsident Gbagbo gescheitert. Sie befürchteten, dass „Ausländer“, die das Wahlrecht erwarben, für die Opposition aus dem Norden stimmen würden. Bereits 2001, als bei den Kommunalwahlen Gbagbos Gegner den Sieg davontrugen, sprach man von Wahlbetrug. So hätten angeblich Leute mit abgestimmt, die gar nicht die ivorische Staatsbürgerschaft besaßen. Es hieß, man habe das administrative Chaos zu Ungunsten von Gbagbo ausgenutzt. Daraufhin wurden neue, „fälschungssichere“ Ausweispapiere eingeführt. Die Verteilung der neuen Ausweise erfolgte jedoch nur stockend. 2002 musste der Innenminister einräumen, dass noch 700 000 – nach Angaben der Opposition sogar 1,2 Millionen – Papiere fehlten.

In Westafrika machen die Migrantinnen und Migranten 2,9 Prozent der Gesamtbevölkerung, sprich: 8 Millionen Menschen, aus. In keiner anderen Gegend auf dem Kontinent erreicht die intraregionale Migration solche Ausmaße. Von den afrikanischen Auswanderern, die in Richtung Europa aufbrechen, kommen ebenfalls die meisten aus dem Westen.

Innerhalb Afrikas ist die Elfenbeinküste das wichtigste Aufnahmeland: Hier liegt der Anteil der Migranten bei 26 Prozent, von denen 47 Prozent bereits zur zweiten Generation gehören.3 Burkina Faso ist dagegen das bedeutendste Auswanderungsland: 4,5 Millionen Burkiner4 sind vor allem in die Elfenbeinküste (2,3 Millionen), nach Ghana (1,5 Millionen) und nach Senegal (600 000) emigriert.5 Burkina Faso ist gleichzeitig mit 1,12 Millionen Migrantinnen und Migranten, das heißt 9,7 Prozent der Bevölkerung, das zweitwichtigste Einwanderungsland in der Region. Dabei handelt es sich überwiegend um frühere burkinische Staatsangehörige oder ihre Nachkommen, die aufgrund politischer Krisen (wie im Fall der Elfenbeinküste) oder wirtschaftlicher Probleme (in Ghana) in ihr Herkunftsland zurückgekehrt sind.

Migration gehörte schon immer zum Leben – oder zum Überleben – in diesem Teil Afrikas. Von den Binnenländern aus, insbesondere den in der Sahelzone gelegenen, bewegten sich die Menschen seit eh und je ganz selbstverständlich in Richtung Küsten- und Waldregionen. Während der Kolonisation haben sich die Wanderungsbewegungen noch verstärkt. Die kontinentale Binnenwanderung hat auch mit der Unabhängigkeit der Länder und der Befestigung der Grenzen nicht nachgelassen. Seither versuchen die Staaten erfolglos, sich auf eine einheitliche Definition des Migrantenstatus zu verständigen.

Ein 1960 geschlossenes Abkommen zwischen Obervolta (dem heutigen Burkina Faso) und der Elfenbeinküste konnte sich praktisch nie durchsetzen. Auch die von der Wirtschaftsgemeinschaft der Westafrikanischen Staaten Ecowas6 verabschiedeten Protokolle blieben wirkungslos. So wird das Abkommen über das Bleiberecht, das zeitgleich mit dem Recht auf freien Personenverkehr 1979 beschlossen, aber erst 1986 ratifiziert wurde, nicht überall angewandt. Und es konnte auch nicht verhindern, dass es mitunter zu Abschiebungen in großer Zahl kam. Nigeria wies 1983 mehr als eine Million Ghanaer aus. Und als es wirtschaftliche Probleme gab, hob die nigerianische Regierung sogar offiziell das Bleiberecht auf, nur um weitere 200 000 Ghanaer abschieben zu können.

Auch das Abkommen über das Niederlassungsrecht – etwa für Freiberufler –, auf das sich die Ecowas-Staaten verständigt haben, ist noch immer nicht von allen Mitgliedern ratifiziert worden. Diese zögerliche Haltung zeigt, dass die Regierungen seit gut zwanzig Jahren dazu neigen, von gesellschaftlichen Missständen abzulenken, indem sie mit dem Finger auf die „ausländischen Eindringlinge“ zeigen.

In der Elfenbeinküste hat eine Erhebung 1998 diese Vorbehalte scheinbar bestätigt: Bei den Ausländern liegt die Bruttoerwerbsquote deutlich höher als bei den Einheimischen (75 Prozent gegenüber 56,8 Prozent). Sie arbeiten teilweise im Primärsektor, überwiegend gehen sie jedoch informellen Jobs nach.7 Daraufhin wurde die Einwanderungspolitik weiter verschärft. „Angesichts der beunruhigenden Wirtschaftskrise hat Abidjan die Rolle der Einwanderer in der ivorischen Gesellschaft neu definiert“, berichtet Mahamadou Zongo von der Universität Ouagadougou. „Das zeigt sich unter anderem an den Restriktionen beim Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Hochschulstipendien. Außerdem erleben die Einwanderer eine immer stärkere Stigmatisierung.“8

1994 wurde das aktive und passive Wahlrecht eingeschränkt. Seither sind nur noch Personen wahlberechtigt, deren Vater und Mutter von Geburt an die ivorische Staatsangehörigkeit besaßen. Das Grundstücksgesetz von 1998 wurde zum entscheidenden Wendepunkt für zehntausende Bauern, die aus Nachbarländern eingewandert waren. Darin wurde geregelt, dass nur noch ivorische Staatsbürger über Grundbesitz verfügen dürfen. Konkret bedeutete dies, dass Grundstücke, deren Eigentümer nicht eingetragen waren, an die einheimischen Vorbesitzer zurückerstattet werden mussten. Nun waren aber, wie in etlichen anderen afrikanischen Ländern auch, die Grundstücksverkäufe auf der Basis gegenseitigen Vertrauens und oftmals ohne behördliche Registrierung getätigt worden. Es kam deshalb zu heftigen Auseinandersetzungen um Bodenbesitz.

2005 sollen bis zu 500 000 Burkiner beziehungsweise ihre Nachkommen nach Burkina Faso zurückgekehrt sein. Sie fühlten sich „zerrissen zwischen einem Aufnahmeland, das ihnen die Zugehörigkeit verweigert hat, und einem Herkunftsland der Eltern, das ihnen fremd war und doch angeblich ihre Heimat sein sollte“.9 Nicht selten müssen die sogenannten Diaspos darum kämpfen, überhaupt burkinische Ausweispapiere zu erhalten, da ihre Eltern, die vor Jahren ausgewandert waren, keine Geburtsurkunden besitzen.

Seit dem Übergang zur Demokratie in den 1990er-Jahren sind die Einwanderer, die zum Teil bereits seit mehreren Generationen in der Elfenbeinküste leben, zum politischen Zankapfel geworden. Über ihre Rechte sind immer wieder polemische Debatten entbrannt, die auch zu einer verstärkten Ethnisierung der politischen Verhältnisse innerhalb des Landes geführt haben. Der Aufstand vom September 2002 im Norden geht teilweise auf diese Spannungen zurück. Als der damalige Ministerpräsident Alassane Ouattara 1990 spezielle Identitätspapiere für Ausländer einführte, wurde dies als Vorbereitung von Ausweisungen gewertet. Viele Einwanderer hatten Mühe, diese Ausweise zu erhalten oder auch nur verlängern zu lassen. Hintergrund der Maßnahme war, dass unter Félix Houphouët-Boigny die Ausländer, die von seiner Grundstückspolitik – „die Erde gehört dem, der sie bearbeitet“ – profitierten, häufig die von den Baoulé gestellte Regierung wählten.

Um das Hickhack um die Papiere zu beenden und die Spannungen zwischen den Gruppen abzubauen, traf Präsident Gbagbo am 8. November 2007 eine symbolträchtige Entscheidung: Künftig benötigen Einwanderer aus Ecowas-Staaten keine Aufenthaltserlaubnis mehr. Für die Einwanderer mag diese Entscheidung momentan eine Erleichterung darstellen, in Wirklichkeit verlagert sie jedoch nur das Problem. Die Migranten müssen nämlich in Zukunft Identitätsnachweise aus ihren Herkunftsländern vorlegen.

Für alle, die bereits seit Jahren in der Elfenbeinküste leben, ist das kein leichtes Unterfangen; sie haben zumeist den Kontakt zu ihrer alten Heimat verloren. Um die Wiederholung alter Fehler zu vermeiden, hat der Staatspräsident gleichzeitig allen Ivorern empfohlen, „Hinweise auf Herkunft oder Ethnie aus ihrem Sprachgebrauch zu streichen“. Nicht selten war es in der Vergangenheit vorgekommen, dass Politiker die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit dazu benutzten, Einwanderer auch nach langen Aufenthaltszeiten wieder als Ausländer zu qualifizieren, aus Angst, sie könnten ihre Stimmen aufgrund von ethnischen oder religiösen Erwägungen der Opposition schenken.10

Dabei ist die angebliche Kluft zwischen dem muslimischen Norden und dem christlichen Süden durch nichts zu begründen.11 Schon 1955 machten die Muslime 23 Prozent der Bevölkerung gegenüber 12 Prozent Christen aus. 1999 lag der Anteil der Muslime bei 40 Prozent, der der Christen bei 27 Prozent. Im selben Jahr, als die Debatte über die „Ivoirité“12 hochkochte, wurde das Übergewicht der muslimischen Bevölkerung auf das Konto der Einwanderer geschoben, denen man vorwarf, die vormals bestehende religiöse Balance unter den Einheimischen aus dem Lot zu bringen.13

Trotz allem ist es in der Elfenbeinküste, die stets von einer überwiegend christlichen Elite regiert wurde, gelungen, einen konfessionellen Pluralismus aufrechtzuerhalten, der die Unterschiede achtet. Gelegentliche Extravaganzen wie der Bau der Basilika von Yamoussoukro fallen da kaum ins Gewicht. Dem gesellschaftlich anerkannten Pluralismus ist es wohl auch zu verdanken, dass nach dem Ausbruch der Konflikte 2002 religiöse oder ethnisch motivierte Konfrontationen vermieden werden konnten.

In Friedenszeiten bietet sich nun die Gelegenheit, die durch interregionale Wanderungen entstandenen Probleme wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Als Diskussionsbasis können die Konferenzen und Studien der Ecowas dienen. Denn schließlich steht eine neue Regionalentwicklungspolitik an, wie die Einrichtung von bereits früher geplanten, aber nie realisierten Investitionsfonds in den Auswanderungsgebieten. Außerdem soll sichergestellt werden, dass die Auslandsüberweisungen von Migranten in den Herkunftsländern auch wirklich ankommen: Immerhin haben die in Elfenbeinküste lebenden Burkiner zwischen 1985 und 1994 rund 1,4 Milliarden Dollar an ihre im Land verbliebenen Angehörigen geschickt.

Augusta Conchiglia

Fußnoten: 1 Nach Unicef-Angaben wurden 40 Prozent der Geburten weltweit im Jahr 2000 nicht registriert. Das entspricht 50 Millionen Kindern, davon 70 Prozent in Afrika. 2 Insgesamt werden die Migrantinnen und Migranten in Afrika auf 17 Millionen, das heißt 1,9 Prozent der Gesamtbevölkerung, geschätzt. 3 Allgemeine Volkszählung 1998. Nach Berechnungen der Internationalen Migrationsbehörde IOM und des UN-Entwicklungsprogramms UNDP soll der Anteil bei 14,6 Prozent liegen. In Guinea liegt der Migrantenanteil bei 9,1 Prozent, in Togo bei 4 Prozent und in Senegal bei 3 Prozent. 4 Hoher Rat der Burkiner im Ausland, Ouagadougou, 2004. 5 Statistiken 2007 der Westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsunion (Ouagadougou) und des UNPD (New York). 6 Die Ecowas hat sich 1975 nach dem Vorbild der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gegründet und umfasst heute fünfzehn Länder: Benin, Burkina Faso, Cap Verde, Elfenbeinküste, Gambia, Ghana, Guinea, Guinea-Bissau, Liberia, Mali, Niger, Nigeria, Senegal, Sierra Leone und Togo. 7 Christian Bouquet, „Géopolitique de la Côte d’Ivoire. Le désespoir de Kourouma“, Paris (Armand Colin) 2005. 8 Vortrag bei der Tagung „Mouvements de population et gouvernance dans les Etats d’Afrique de l’Ouest“, Abidjan, Juli 2006. 9 Mahamadou Zongo, Vortrag bei der oben genannten Tagung. 10 Aderanti Adepoju, Unesco, Vortrag bei der oben genannten Tagung. 11 Vgl. Marie Miran, „Islam, histoire et modernité en Côte d’Ivoire“, Karthala, Paris, 2006. 12 Siehe Colette Braeckman, „Drei Rivalen und eine Schutzmacht“, Le Monde diplomatique, September 2004. 13 Das Nationale Statistikinstitut und der Wirtschafts- und Sozialrat der Elfenbeinküste schätzten in ihrem Bericht 1999, dass „die Zuwanderung von Migranten muslimischer Religionszugehörigkeit (73 Prozent der Einwanderer) das vorher bestehende religiöse Gleichgewicht beträchtlich verändert hat: 31 Prozent Christen, 25 Prozent Muslime und 23 Prozent Animisten“.

Aus dem Französischen von Veronika Kabis

Augusta Conchiglia ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2007, von Augusta Conchiglia