Oh, wie süß ist Abidjan
In der Elfenbeinküste gibt das überraschende Friedensabkommen Anlass zum Optimismus von Michel Galy
Wer heute Abidjan besucht, sieht kaum noch Weiße auf den Straßen. Nach den Kämpfen vom November 2004 zwischen Regierung, Rebellen und französischen Truppen haben die meisten Franzosen die Stadt verlassen. Libanesische und chinesische Händler haben ihren Platz eingenommen.
Eine Million Menschen flüchteten in den vergangenen fünf Jahren aus den von den Rebellen kontrollierten Gebieten im Norden des Landes nach Abidjan. Die Stadt platzt aus allen Nähten. Die armen Wohnviertel ersticken in den nyama-nyama, Müll aller Art. Der Giftmüllskandal vom August 2006 ist offensichtlich kein Einzelfall. Damals landeten rund 500 Tonnen hochgiftige Chemieabfälle und Erdölrückstände auf mehreren offenen Hausmüllkippen. Es gab Tote und zehntausende Versehrte. Auftraggeber für die Fracht war die niederländische Trafigura Ltd. Die Entsorgung in den Niederlanden hätte ein Vielfaches der Summe gekostet, die das Unternehmen an die örtliche Société Tommy zahlte.
Auch der Verkehr hat etwas Anarchisches. Auf den von Schlaglöchern durchsiebten Straßen muss sich jeder seinen Weg bahnen, vorbei an den zahlreichen gbaka (Minibussen), woro woro (Sammeltaxis) und cafés noirs (Einzeltaxis). Und dennoch: „Abidjan est doux“ heißt ein neuer Hit im rhythmischen Coupé-décalé, einem jungen ivorischen Musikstil, der zum Exportschlager wurde. Der Song spiegelt die neue Lebensfreude Abidjans wider. In der Rue Princesse und anderswo fließt das starke Bracodi-Bier in Strömen. Seitdem die Bürgerkriegsparteien am 4. März in Ouagadougou (Burkina Faso) überraschend Frieden schlossen, schöpft die kriegsmüde Bevölkerung wieder Hoffnung.
Immer wieder verschoben, sollen die Präsidentschaftswahlen 2008 stattfinden. Und das Undenkbare ist wahr geworden: Am 27. März 2007 wurde der ehemalige Rebellenchef Guillaume Soro Regierungschef, obgleich er Präsident Gbagbo nach dessen umstrittener Wahl im Jahr 2000 jegliche Legitimation abgesprochen hatte.1 Im Friedensabkommen wurde unter anderem vereinbart, die Milizen zu entwaffnen und mithilfe „fliegender Gerichte“ (siehe nebenstehenden Artikel) eine Liste der Wahlberechtigten zu erstellen.
Die Marginalisierung von immer mehr jungen Menschen, die weder über Grundbesitz2 noch über feste Arbeit verfügen, war eine der Ursachen für die Rebellion im Norden und die nationalistische Agitation im Süden. Selbst junge Hochschulabsolventen haben kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt: Exemplarisch sind etwa die Biografien von Charles Blé Goudé, Anführer der „Jungen Patrioten“, die Staatschef Gbagbo unterstützen, und Guillaume Soro, der, wie ein Minister mutmaßte, den ersten Lohnstreifen seines Lebens erhalten habe, als er Regierungschef wurde.
Der „ehrliche Friede“ von Ouagadougou mag im Ausland auf Unverständnis gestoßen sein. Doch er wurde erst möglich, als die Akteure begannen, den Konflikt intern beizulegen und sich nicht mehr darauf einließen, die Auseinandersetzung zu internationalisieren. Im Gegensatz zu vorangegangenen Friedensvereinbarungen war Burkina Faso diesmal der einzige Vermittler.3
Bereits im November 2006 hatte sich Präsident Gbagbo unter Berufung auf die nationale Souveränität der Umsetzung einer UN-Resolution widersetzt, die unverkennbar eine französische Handschrift trug. Damals sollten Neuwahlen angesetzt werden.4 Und der von der „internationalen Gemeinschaft“ eingesetzte Regierungschef Charles Konan Banny sollte zum Nachteil von Gbagbo gestärkt werden. Der Präsident befand jedoch, dass ein solches Vorgehen gegen die Verfassung verstoße, die per Referendum im Jahr 2000 fast einstimmig von allen politischen Lagern beschlossen worden sei – auch von der Republikanischen Sammlungsbewegung (RDR) seines Widersachers Alassane Ouattara.
Das politische Gefüge der Elfenbeinküste ist in einem radikalen Umbruch begriffen. Man tut sich schwer damit, sich auf ein Wahlverfahren zu einigen. Traditionell gab es drei große ethnisch-regionale Blöcke, die jeweils von einer Partei und einem Anführer vertreten wurden: Die Akan im Osten des Landes und die Baoulé schlossen sich der Demokratischen Partei der Elfenbeinküste (PDCI) von Félix Houphouët-Boigny und seinem selbsternannten Nachfolger Konan Bédié an; die Kru im Westen und ein Teil der Bété sammelten sich in der Patriotischen Ivorischen Front (FPI) von Laurent Gbagbo; die Dioula im Norden schließlich wählten die RDR (Rassemblement des Républicains) von Alassane Ouattara.
Inzwischen hat sich die Lage verkompliziert. Denn die ehemaligen Aufständischen haben jeweils eigene Wege eingeschlagen: So steht zum Beispiel der Exrebell und heutige Ministerpräsident Soro keiner eigenen Partei vor. Die ethnische Herkunft spielt zwar immer noch eine wichtige Rolle. Doch heute lebt sowieso mehr als die Hälfte der Ivorer in der Stadt. Seit der Ankunft der Kriegsflüchtlinge sind es vermutlich noch mehr.
Je mehr die ethnische Herkunft an Bedeutung verliert, umso wichtiger wird der soziale Status oder die Identifikation mit den Zielen eines charismatischen Anführers. Genau darauf setzt Staatspräsident Gbagbo, der eine Unterstützung seiner Kandidatur bei der nächsten Wahl durch ein breites Bündnis von FPI, ehemaligen Führungspersönlichkeiten von RDR oder PDCI und Exrebellen anstrebt. In dieses Bündnis sollen nach seiner Vorstellung auch die kleinen Parteien und die sogenannten Abendbesucher der Ministerien integriert werden: undurchsichtige Leute, die er mit großzügigen Geldgeschenken aus dem Kaffee-, Kakao- und Erdölgeschäft auf seine Seite gezogen hat.
Ein Teil der Regierungsmannschaft begegnet Gbagbos neuer Strategie mit gemischten Gefühlen. Dazu gehört etwa die alte marxistisch-leninistische Front, aus der Gbagbos FPI einst hervorging. So kritisierte der Präsident der Nationalversammlung, Wirtschaftswissenschaftler Mamadou Koulibaly (FPI), eine seiner Meinung nach doppelzüngige Politik, die von den Gaunereien korrupter „Erdnussröster“ lebe.5 Er sei gegen die „refondation“, das unnatürliche Bündnis mit der Rebellion.6
Außerdem kritisieren die Anhänger von Koulibaly, dass für die Budgets von Staats- und Ministerpräsident Exporteinkünfte (und im Gebiet der Aufständischen Einkünfte aus Schiebereien aller Art) abgeschöpft werden.
Präsident Gbagbo, der stets für Überraschungen gut ist, hat auf die Kritik reagiert. Im Oktober 2007 kündigte er eine Antikorruptionskampagne an, die vor allem das Kaffee- und Kakaogeschäft unter die Lupe nehmen soll. Die Bauern in der Elfenbeinküste erhalten nur 20 Prozent des Exporterlöses. Zum Vergleich: In Ghana erhalten die Erzeuger 72 Prozent. Zudem hatte die Preisregulierungsbehörde Caistab7 durch die direkte Einflussnahme der Kapitalgeber – die eine Privatisierung des Sektors anstreben – eine Reihe von Mittelsmänner eingesetzt, die sich als ausgesprochen korrupt und raffgierig herausstellten.
Die neueste Idee der Regierung Gbagbo ist eine Art „Zivildienst“ für die Exrebellen, die nämlich befürchten müssen, dass ihre Haupteinnahmequellen künftig versiegen werden, wie das Wegegeld, das sie durch Straßensperren einnehmen, das Raubgut aus Überfällen und die Gewinne aus dem Diamanten-, Kakao- und Baumwollschmuggel. Das neue Arbeitsbeschaffungsprogramm soll außerdem die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen. In einem Interview äußerte der Präsident die Hoffnung, dass das neue Regierungsvorhaben dazu beitragen könnte, die großen städtischen Projekte in Angriff zu nehmen, Umweltschutz und Sicherheit auf den Straßen von Abidjan.
Ob er den schönen Worten Taten folgen lassen wird? Manches spricht dafür. So könnten mit Hilfe der Erdölgewinne, dem erhofften neuen Zufluss internationalen Kapitals und dem Plan für einen Wiederaufbau die wichtigsten Ziele erreicht werden: die Ankurbelung der Wirtschaft bei gleichzeitiger Bekämpfung der verheerenden Jugendarbeitslosigkeit und die Unterstützung der durch den Bürgerkrieg verarmten Bevölkerung.
Die Regierung von Gbagbo bemühte sich außerdem, durch spektakuläre und symbolische Gesten ein günstiges Klima für einen Dialog „à l’ivoirienne“ zu schaffen: zum Beispiel durch die Verbrennung von Gewehren in Bouaké, der Hochburg der Rebellen; den Empfang von Ministerpräsident Soro auf dem Gebiet der Bété im Süden des Landes und die Abschaffung der Aufenthaltserlaubnispflicht für die große Gruppe der Einwanderer aus Burkina Faso. Durch diesen letzten Coup hofft Gbagbo sich die Stimmen der Dioula zu sichern und den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit abzuwehren. Immerhin gehört rund die Hälfte der Hauptstadtbewohner zur Gruppe der Dioula, von denen viele die Staatsangehörigkeit von Burkina Faso oder Mali besitzen.
Die ständige Verschiebung der Präsidentenwahl, auch das ungeklärte Attentat gegen Soro am Flughafen von Bouaké im Juni dieses Jahres8 zeigen, wie gefährdet der Versöhnungsprozess immer noch ist: Denn die Ermordung des hochrangigen Politikers hätte unweigerlich zu einem Wiederaufflammen der Kämpfe geführt. Zumindest scheint sich das Verhältnis zwischen Frankreich und der Elfenbeinküste allmählich zu entspannen. Nur dadurch lässt sich wohl auch der Rollenwechsel von Burkina Faso erklären, bei dem das Land vom ehemaligen Kriegstreiber zum Friedensstifter geworden war. Der französische Staatspräsident Sarkozy, der eigentlich Alassane Ouattara nahesteht, hat sich Gbabgo angenähert und damit die kühle Distanz aufgegeben, die sein Vorgänger Chirac stets gewahrt hatte. Sogar eine Reise Gbagbos nach Paris ist geplant.
Damit dürfte das große Feilschen beginnen: Schluss mit den gegenseitigen Vorwürfen wegen der Kämpfe von 2004 und Entschädigung der Opfer; Wiederaufnahme der Zusammenarbeit und Zugang zum ivorischen Erdöl; vollständiger oder teilweiser Abzug der Truppen der Operation Licorne und der UN-Mission Onuci. Die Abschaffung der von französischen Soldaten und Blauhelmen überwachten Pufferzone zwischen Regierungs- und Rebellengebieten leitete bereits die „Wiedervereinigung“ von Nord und Süd ein.
Die von Gbagbo angestrebte Vermittlungspolitik zwischen den Flügeln der Paris-treuen „Kollaborateuren“ der alten Houphouët-Anhänger und den Radikalen aus dem harten Kern der FPI könnte Erfolg haben. Letztere verfechten paradoxerweise eine Politik des bewaffneten Aufstands. Die Opposition bemüht sich ihrerseits um ein ungleiches Bündnis: Die Sammlungsbewegung der „Houphouëtisten“ vereint die Parti démocratique de Côte d’Ivoire (PDCI) und das Rassemblement Des Républicains (RDR), deren Parteichefs Bédié und Ouattara sich jedoch aus tiefstem Herzen verabscheuen. Bédié (PDCI), von 1993 bis 1999 Präsident der Elfenbeinküste, hatte in den 1990er-Jahren das umstrittene Konzept der Ivoirité eingeführt, das auch Ouattara zum Verhängnis geworden war. Sowohl 1995 als auch im Jahr 2000 konnte er deswegen nicht kandidieren.
Wie sehr der Konflikt der Zivilgesellschaft geschadet hat, sieht man an Gewerkschaftsvertretern oder Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen, die früher regierungskritisch waren und heute den Machthabern nahestehen oder sogar in den Ministerien sitzen.
Doch es entsteht schon wieder eine pluralistische Medienlandschaft9 : eine „blaue“ regierungsfreundliche und eine „rote“, der Opposition nahestehende Presse. Meinungsseiten aus Le Monde und Artikel aus Jeune Afrique werden ohne Weiteres nachgedruckt; am freien Zugang zu Sendern wie BBC, Africa n°1 und dem bei der Opposition beliebten Radio France Internationale (RFI) entscheiden sich in Krisenzeiten Krieg und Frieden. Tag für Tag analysieren Kommentatoren die spontanen Debatten, die öffentlichen Diskussionsforen und Stadtteilversammlungen, die sich „Sorbonne“, „Agora“ oder „Senat“ nennen.
Sidiki Bakaba, Schauspieler, Regisseur und derzeitiger Direktor des Palais de la culture d’Abidjan, hat über das Gemetzel vor dem Hotel Ivoire vom November 2004 einen Dokumentarfilm gedreht („La victoire aux mains nues“). Heute ist der Film eine Art Kampfmittel. In den Jahren der Unabhängigkeit waren es die Worte der Dichter.
Aus dem Französischen von Veronika Kabis
Michel Galy ist Politologe und Wissenschaftler am Centre d’Etude sur les Conflits (Paris).