Kommando des Südens
Wie die USA versuchen, ihren Einfluss in Lateinamerika zu behalten von Janette Habel
Lateinamerika“, meint Moisés Naím, Herausgeber der Zeitschrift Foreign Policy, „ist ein verlorener Kontinent.“ Etwas weniger apodiktisch formuliert es Peter Hakim, Vorsitzender des Inter-American Dialogue: „Ist Washington im Begriff, Lateinamerika zu verlieren?“1 Seit zehn Jahren müssen die Vereinigten Staaten auf dem südlichen Subkontinent einen Rückschlag nach dem anderen einstecken. In mehreren Ländern kamen linke oder Mitte-links-Regierungen an die Macht, die mehr oder minder stark ihre Unabhängigkeit betonen.
Nachdem im April 2002 der Umsturzversuch gegen Präsident Hugo Chávez in Venezuela gescheitert war, wurde im Dezember 2005 Evo Morales in Bolivien von einer dynamischen Bewegung der Indigenen an die Spitze des Staates getragen. Auch die Wahlsiege von Daniel Ortega in Nicaragua und Rafael Correa in Ecuador konnte Washington – trotz aller möglichen Druckmittel – nicht verhindern.2
Dennoch wird sich an der neoliberalen Ausrichtung von Washingtons Lateinamerika-Politik nichts wesentlich ändern. Zwar ist aus der von Clinton beim Amerika-Gipfel 1994 propagierten panamerikanischen Freihandelszone FTAA (Spanisch: Alca) von Alaska bis Feuerland nichts geworden. Doch wie US-Handelsminister Carlos Gutierrez verkündete, investierten US-Unternehmen allein 2005 etwa 353 Milliarden Dollar in Lateinamerika und in der Karibik und beschäftigen in diesen Ländern 1,6 Millionen Menschen. 2006 stiegen die US-Exporte nach Lateinamerika um 12,7 Prozent und die Importe aus der Region um 10,5 Prozent.
Man sollte sich vom Scheitern des FTAA nicht täuschen lassen: Auf der bilateralen und multilateralen Ebene ist der Freihandel weiter auf dem Vormarsch. Ein wichtiger Trumpf Washingtons ist dabei der riesige US-Binnenmarkt. So erklärte kürzlich Uruguays Wirtschaftsminister Danilo Astori: „Unser Land muss in seinen Beziehungen zu allen Ländern der Welt – und besonders zu den Vereinigten Staaten – zu der Stärke finden, die es mangels Größe nicht hat.“ Uruguay wird vermutlich ein Freihandelsabkommen mit den USA unterzeichnen, obwohl das zu Konflikten mit den Mercosur-Partnern führen wird, was ganz im Sinne Washingtons sein dürfte.
Eine neue Etappe im Prozess der Einigung des Kontinents nach US-amerikanischen Vorstellungen hat am 23. März 2005 begonnen: In Waco (Texas) begründeten die USA, Kanada und Mexiko mit der Unterzeichnung der Security and Prosperity Partnership of North America (SPP) eine Wirtschafts- und Sicherheitsgemeinschaft. Für den Juristen und Lateinamerika-Experten Guy Mazet ist das Neue an diesen Verträgen „die Einführung des Sicherheitsbegriffs in die Logik der Wirtschaft und des Handels“ und die „Festschreibung des Einflusses privater Unternehmern auf die staatliche Politik“ sowie die Tatsache, dass die Vereinbarung ohne Mitwirkung der Parlamente zustande kam.3
Wer nicht mitmacht, muss zahlen
Der US-Politologe Craig Van Grasstek registriert, dass alle Länder Lateinamerikas, die an der „Koalition der Willigen“ gegen den Irak beteiligt sind, von den USA ein Freihandelsabkommen offeriert bekamen, ebenso die Länder, die im Februar 2003 aus der G 20, der Gruppe der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer, ausgetreten sind: Kolumbien, Ecuador, Peru, Costa Rica und Guatemala.4
Die spanische Zeitung El País veröffentlichte im September die Mitschrift eines Gesprächs zwischen George W. Bush und José María Aznar, das im Februar 2003 stattfand.5 Das Dokument zeigt, wie brutal Bush all jene erpresst hat, die seine Militärintervention im Irak nicht ohne weiteres unterstützen wollten – wie den damaligen chilenischen Präsidenten, der im UN-Sicherheitsrat den USA die Gefolgschaft verweigerte: „Lagos sollte sich darüber im Klaren sein, dass das Freihandelsabkommen mit Chile erst noch im Senat bestätigt werden muss. Eine negative Haltung könnte die Verabschiedung gefährden.“
Auch Michelle Bachelet, die heutige Präsidentin Chiles, bekam, obwohl sie für eine strategische Partnerschaft mit Washington eintritt, Sanktionen angedroht, für den Fall, dass das chilenische Parlament das Abkommen zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (IStGH) ratifiziert und ein Sonderabkommen, das US-Soldaten vor der Überstellung an den IStGH schützen soll, nicht akzeptiert. Zur Strafe könnte die Militärhilfe eingefroren werden, mit der Folge, dass Chile dem Pentagon eine größere Summe für die Ausbildung von Piloten auf den neu angeschafften F-16-Kampfflugzeugen überweisen müsste. Aus demselben Grund hat Washington die Ausbildungsprogramme und Militärhilfen für Brasilien, Peru, Costa Rica, Ecuador, Bolivien und Uruguay vorläufig gestrichen.
Parallel zum Siegeszug des Liberalismus setzte sich in der US-Politik gegenüber Lateinamerika eine weitere Überzeugung durch: dass sich unter dem Banner der Demokratie, also durch konsensuale Formen sozialer Kontrolle, leichter herrschen lässt. „Die US-amerikanischen Strategen sind zu Adepten Gramscis geworden“, meint der Politologe William I. Robinson, „sie haben begriffen, dass die eigentliche Macht bei der Zivilgesellschaft liegt.“6 Innerhalb der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat sich mit den Attentaten vom 11. September ein Konsens herausgebildet, wonach die Verteidigung der demokratischen Ordnung das Recht gibt, gegen jede „Abweichung“ von dieser Ordnung vorzugehen, wie die American Democratic Charter, die noch am 11. September 2001 in Lima unter den wachsamen Augen von US-Verteidigungsminister Rumsfeld per Akklamation verabschiedet wurde, belegt. Die Möglichkeit einer militärischer Intervention kommt in diesem Text allerdings nicht vor.7 Doch die keineswegs neue Vorstellung, dass die Demokratie notfalls mit Gewalt zu bewahren sei, wird neuerdings im Namen des „Rechts auf humanitäre Einmischung“ sogar von einigen Linken vertreten.
Die Rolle der OAS ist inzwischen wegen der neuen Kräfteverhältnisse auf dem Kontinent komplexer geworden. Und angesichts der Komplexität der multilateralen Beziehungen verlässt sich die US-Regierung oft lieber auf ihre eigenen Netzwerke von Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen – allen voran die United States Agency for International Development (USAID). Mit seinen erheblichen finanziellen Mitteln ist USAID nach den Worten ihres Sekretärs Andrew Natsios „das am häufigsten eingesetzte Instrument, wenn die Mittel der Diplomatie nicht mehr ausreichen und die Anwendung militärischer Gewalt zu riskant erscheint“.
Diese Beschreibung trifft offenkundig auf Venezuela zu, wo USAID mehrere Initiativen finanziert und mit eigenen „democracy builders“ engagiert ist. Das International Republican Institute (IRI), geleitet vom Präsidentschaftskandidaten John McCain, ist eine von fünf NGOs, die Gelder von USAID erhalten und an Organisationen oder politische Initiativen der Opposition in Venezuela weiterleiten. Auch das Transition Office (Büro für den Systemwechsel) entstand nach dem misslungenen Staatsstreich gegen Hugo Chávez. Dessen erklärtes Ziel ist es, „die Bürger zur Teilnahme am demokratischen Prozess zu ermutigen“.
Fragt sich nur, welche wahren Ziele etwa die Kampagne „zur Verteidigung der Meinungsfreiheit“ in Venezuela verfolgt. Oder die separatistische Opposition in Bolivien, die vier Provinzen (Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija) kontrolliert und die Arbeit der verfassunggebenden Versammlung blockiert, und vom bolivianischen Vizepräsidenten García Linera als „eine rassistische, separatistische, gewalttätige und demokratiefeindliche Rechte“ bezeichnet wird. Klar ist der Fall Kuba: George W. Bush hat das Embargo weiter verschärft und eine spezielle Kommission mit dem Entwurf von „Szenarien der Demokratisierung“ beauftragt, deren Gedankenspiele für die Zeit nach Fidel Castro „aus Gründen der nationalen Sicherheit“ teilweise geheim sind.
Die größte militärische Macht in Lateinamerika ist das United States Southern Command, das 1998 von Panama nach Miami verlegt wurde. Dessen Kontakte zu den Regierungen Lateinamerikas laufen strikt auf militärischer Ebene. Das Southern Command bestimmt unilateral die Prioritäten und gibt keine direkten Informationen an das US-Außenministerium. Seit die direkten Hilfeleistungen nach dem Ende des Kalten Krieges um ein Drittel gekürzt wurden und die Organisationen für Wirtschaftshilfe und Agrarentwicklung nur noch die zweite Geige spielen, läuft die US-Hilfe für den Süden zu einem erheblichen Teil über das Verteidigungsministerium. Von 1997 bis 2007 haben die USA über 7 Milliarden Dollar für Militär- und Polizeihilfe in Lateinamerika ausgegeben.8
Da es keine verbindliche Definition von Terrorismus gibt, kann sich der Nationale Sicherheitsrat der USA darauf beschränken, den Antiterrorkrieg wolkig als „globales Unternehmen von unbestimmter Dauer“ zu bezeichnen. Zu den Gegnern in diesem asymmetrischen Krieg zählen: Islamisten, Schmuggler und Drogenhändler im Dreiländereck zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay, „terroristische Organisationen“ wie die Farc, die ELN und die Paramilitärs in Kolumbien, soziale Bewegungen aller Art, aber auch Jugendbanden, Flüchtlinge, illegale Einwanderer.
Das Southern Command sieht die US-Interessen heute nicht mehr von ausländischen Mächten bedroht. James Hill, der ehemalige Oberbefehlshaber, definiert als größte neue Gefahr den „radikalen Populismus“, weil dieser „den demokratischen Prozess untergräbt und die Rechte des Einzelnen einschränkt, statt sie zu schützen“. Diese Gefahr – in Gestalt von Hugo Chávez – nutzt die „tiefe Enttäuschung über das Scheitern der demokratischen Reformen aus, um gegen Amerika Stimmung zu machen“9 .
Bantz John Craddock, auch er ein Exoberbefehlshaber des Southern Command, macht die „US-feindlichen und Globalisierung wie Freihandel bekämpfenden Demagogen“ für die politische Instabilität Lateinamerikas verantwortlich. Um dieser Gefahr zu begegnen, forderte Craddock im März 2005 vor dem Streitkräfte-Ausschuss des US-Repräsentantenhauses eine Verstärkung der Militärpräsenz in der Region und mehr Geld. „Wir können es uns nicht leisten, dass Lateinamerika und die Karibik zu Regionen verkommen, wo einzelne militante Staaten durch ihre populistischen, autoritären Regierungen von ihrer Umwelt isoliert werden.“10
Neben der direkten militärischen US-Präsenz darf man auch den Einfluss der zahlreichen amerikanischen Militärberater, Söldnerfirmen und zivilen Akteure auf dem Subkontinent nicht unterschätzen. Die privaten Sicherheitsdienste im Besonderen erfüllen Aufgaben, die den regulären Streitkräfte verboten sind, weil der Kongress ihnen Grenzen gesetzt hat. Sie werden vom Pentagon bezahlt und können ohne Zustimmung des Kongresses an militärischen Operationen teilnehmen.
Im September 2007 wurde der US-Konzern Chiquita von einem Washingtoner Gericht zur Zahlung von 25 Millionen Dollar verurteilt, weil er zwischen 1997 und 2004 Schutzgeld (1,7 Millionen Dollar) für seine Plantagen an die paramilitärischen Vereinigten Bürgerwehren Kolumbiens (AUC) gezahlt hat.
Ein schmutziger Krieg gegen den Drogenhandel
Die Angehörigen von 173 ermordeten Personen hatten Chiquita auf eine Entschädigungssumme von 7,8 Milliarden Dollar verklagt. Die Konzernleitung wird jedoch nicht belangt, und Chiquita wurde eine fünfjährige „Bewährungszeit“ zugesprochen. „Ich bin überrascht“, kommentierte der kolumbianische Justizminister, dass man sich in den Vereinigten Staaten für ein paar Millionen Dollar die gerichtliche Immunität kaufen kann.“
Auf Drängen Washingtons sind die Armeen Lateinamerikas einmal mehr dabei, Aufgaben der Inneren Sicherheit zu übernehmen. Im Dezember schickte Mexikos Präsident Felipe Calderón 7 000 Soldaten in den Bundesstaat Michoacán, um den Drogenschmuggel zu bekämpfen. Außerdem wird die Armee in Mexiko gegen illegale Immigranten an der Grenze eingesetzt, in Brasilien und in Teilen Mittelamerikas gegen Jugendbanden in den Elendsvierteln. Die Militarisierung der inneren Sicherheit ist zwar nichts Neues, läuft allerdings dem Trend zur Rückkehr der Armeen in ihre Kasernen zuwider, der seit dem Ende der Diktaturen eingesetzt hatte.10
Vor diesem Hintergrund hat Präsident Bush dem Kongress im Oktober 2007 den „Plan Mexico“ zur Abstimmung vorgelegt. Demnach sollen für den Kampf gegen den Drogenhandel 1,4 Milliarden Dollar bewilligt werden: für militärisches Gerät wie Hubschrauber und Nachrichtentechnologie sowie für das gemeinsame Training von Spezialtruppen. Mit weiteren 50 Millionen Dollar will der US-Präsident den „Krieg gegen die Drogen“ weiter auf Mittelamerika ausdehnen. Allerdings ist noch unklar, wie die demokratische Mehrheit im Kongress abstimmen wird.
Seit längerem drängen die USA auch auf eine Reform der Streitkräfte in Lateinamerika. Dabei soll das Schwergewicht heute – im Gegensatz zu der bilateralen Zusammenarbeit in der Ära des Kalten Krieges – vor allem auf regionaler Zusammenarbeit und operativer Koordination liegen. In diesem Sinne plant das Southern Command eine schnelle Eingreiftruppe, mit der man auf neue Bedrohungen reagieren kann. Bei der 37. Generalversammlung der OAS in Panama schlug US-Außenministerin Condoleezza Rice außerdem vor, einen gegenseitigen Verteidigungspakt zu gründen. Damit sollen nicht nur Gefahren für die Sicherheit des Kontinents abgewendet, sondern auch die inneren Entwicklungen in den Mitgliedstaaten überwacht werden, um die Einhaltung demokratischer Normen sicherzustellen. Dieser Vorschlag wurde jedoch abgelehnt.10
Die Aussicht auf gemischte regionale Kampfeinheiten ist angesichts der politischen Kräfteverhältnisse also höchst unsicher. Doch Washington will auf dem Subkontinent unbedingt präsent sein und sucht lokale Verbündete. Dabei könnte das Beispiel Haitis Schule machen.
William M. LeoGrande kommt in seiner Analyse der Rolle Washingtons beim Sturz des Präsidenten Jean-Bertrand Aristide11 zu dem Schluss: Der erzwungene Rücktritt des ehemaligen Priesters wurde zwar von dessen eigenem moralischen Verfall begünstigt, bewerkstelligt wurde er aber von der paramilitärischen „Bewaffneten Revolutionären Front für den Fortschritt in Haiti“ (Fraph), mit Unterstützung der US-Regierung. Hier liegt also ein besonders erfolgreicher Missbrauch des „Rechts auf Einmischung“ vor.
Das Southern Command verfügt noch über eine Reihe anderer Instrumente der „Überzeugungsarbeit“. So haben die Mitgliedstaaten der OAS 2003 in Mexiko-Stadt den Begriff „Sicherheitszusammenarbeit“ abgesegnet.12 Auch die regelmäßigen Treffen der Verteidigungsminister in der Region (DMA) fördern eine vertrauliche Zusammenarbeit. Engere Beziehungen ergeben sich auch durch die Internationalisierung militärischer Operationen, durch gemeinsame Marineübungen, durch die Ausbildung von 17 000 lateinamerikanischen Soldaten durch Washington (Zahlen von 2005) und durch Rüstungslieferungen.
Die Vormachtstellung der Vereinigten Staaten und ihres militärisch-industriellen Komplexes wurde durch die offizielle Aufhebung des Waffenembargos gegen Lateinamerika gefestigt. Die USA waren allerdings schon vorher der wichtigste Waffenlieferant der Region. Mit der Aufhebung des Embargos droht nun ein Rüstungswettlauf. Der Verkauf von F-16-Kampfflugzeugen an Chile könnte die Armeen der Nachbarstaaten dazu bringen, ihre Bestände ebenfalls „zu modernisieren“.13 Seit langem will Brasiliens Verteidigungsminister das Verteidigungsbudget um 50 Prozent erhöhen und umfangreiche Rüstungsinvestitionen vornehmen – obwohl sein Land „gefestigte und friedliche“ Beziehungen zu allen Staaten Südamerikas unterhält.
Die lateinamerikanische Linke ist in dieser Frage gespalten. Die einen machen sich für eine ausgehandelte Partnerschaft mit Washington stark, die den Spielraum sozialer Reformen einschränken würde. Die anderen wollen eine politische Einigung Lateinamerikas, wobei die Wirtschaftsgemeinschaft Bolivarianische Alternative für Amerika (Alba)14 ein erster Schritt sein soll. Die Linke muss davon ausgehen, dass die US-Regierung nicht bereit sein wird, sich mit einer Verstaatlichung der Bodenschätze oder der Ablehnung von Freihandelsabkommen abzufinden. Und auch nicht mit der politischen Unabhängigkeit, wie sie die Regierungen Boliviens, Ecuadors und Venezuelas für sich beanspruchen.
Aus dem Französischen von Herwig Engelmann
Janette Habel lehrt am Institut des Hautes Études d’Amerique latine, Paris.