14.12.2007

Nach der Krise

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Nach der Krise

Präsidentin Fernández erbt einen Staat mit guten Aussichten von Carlos Gabetta

Jahrestage: Am 10. Dezember 1983 wurde Raúl Alfonsín Präsident von Argentinien, nachdem er die ersten freien Wahlen nach dem Zusammenbruch der Militärdiktatur gewonnen hatte. 24 Jahre später, am 10. Dezember 2007, tritt Cristina Fernández, die erste Frau, die ins höchste Amt der Republik gewählt wurde, die Präsidentschaft an.

Dazwischen gab es sechs Präsidentschaftswahlen – und dazu Wahlen des Parlaments, der Provinz- und Gemeinderäte. Zudem wurde die Bundesverfassung geändert. Während der Regierung Alfonsín kam es zu einigen Meutereien innerhalb des Militärs, die bei der Bevölkerung auf Ablehnung stießen und scheiterten. Alfonsín musste 1989 aufgrund einer Finanzkrise seinen Posten einige Monate vor Ablauf der regulären Amtszeit räumen. 2000 trat ein Vizepräsident, Carlos Álvarez, zurück, nachdem er einen schweren Korruptionsfall im Senat aufgedeckt und angeprangert hatte. Im Dezember 2001 sah sich Präsident Fernando de la Rúa zum Rücktritt gezwungen. Die schwere Wirtschaftskrise hatte zu einer Massenrevolte geführt. In weniger als einem Monat gab es vier Nachfolger. Der Fünfte, Eduardo Duhalde, stand einer Übergangsregierung vor, die Neuwahlen im April 2003 organisierte, aus denen Néstor Kirchner als Präsident hervorging.

Die Krise von 2001 markierte einen Wendepunkt in der Konsolidierung der Demokratie: Argentiniens Auslandsschulden hatten sich seit 1983 auf über 180 Milliarden Dollar vervierfacht, und das Land hatte seine Zahlungsunfähigkeit erklärt. Die Reserven der Zentralbank waren erschöpft. Die Banken hielten die Einlagen ihrer Kunden zurück. Die Wirtschaft war paralysiert.

Über ein Jahrzehnt lang hatte ein entfesselter Neoliberalismus geherrscht (Argentinien, Musterschüler neoliberaler Lehrmeister, hatte sämtliche Staatsunternehmen privatisiert und zu Schnäppchenpreisen verkauft, inklusive der Öl- und Gasreserven). Die Unruhen, die zum Rücktritt von Präsident de la Rúa führten, waren Folge einer massenhaften Verarmung. Fast 60 Prozent der Bevölkerung lebten – nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – unterhalb der Armutsgrenze (20 Prozent sogar in absoluter Armut). Korruption und Kriminalität hatten Rekordniveau erreicht. Kurzum: Das Land, das während des ganzen 20. Jahrhunderts – bezogen auf die Verteilung von Armut und Reichtum – das egalitärste Lateinamerikas gewesen war, war nun eines mit extremer Ungleichheit.

Präsident Kirchner änderte die von den Neoliberalen festgelegten Spielregeln: Er erkannte einen Teil der Auslandsschuld nicht an, handelte neue Fristen aus, und vor allem schüttelte er den Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) ab, indem er cash bezahlte. Das „Wirtschaftswunder“, das nun einsetzte, hat mehrere Ursachen: Kirchners Vorgänger Duhalde hatte den Peso um 300 Prozent abgewertet; für die Waren, die Argentinien im Überfluss erzeugt (im Wesentlichen Agrarprodukte und Energie), herrschte international eine sehr günstige Konjunktur; die staatliche Subventionierung der wichtigsten Exportwaren, die von multinationalen Konzernen produziert wurden, wurde durch Förderungen für die Industrie ersetzt; eine größere Sensibilität für soziale Belange verbesserte die Lebensbedingungen der Bevölkerung (auch wenn bis heute die sozialen Folgen der Krise im Wesentlichen noch nicht überwunden sind). Seit 2003 beträgt das Wirtschaftswachstum jährlich durchschnittlich 8 Prozent. Das Land hat einen Haushaltsüberschuss. Die Reserven der Zentralbank betragen fast 50 Milliarden Dollar.

Im Oktober 2007 gewann die Senatorin Cristina Fernández, eine Anwältin, die seit langem im politischen Kampf aktiv ist, die Präsidentschaftswahlen. Sie ist die Ehefrau des scheidenden Präsidenten und hat sich verpflichtet, die Reformen zu vertiefen.

Die traditionellen Kräfte sind am Ende

Die drei großen Kräfte, die im 20. Jahrhundert die Politik bestimmt haben – Militärs, Radikale, Peronisten – sind in Auflösung begriffen. Die Militärs sind nach der letzten Diktatur (1976–1983), mit der sie die neoliberale Phase einleiteten, sich mit dem Blut von 30 000 „Verschwundenen“ befleckten und schließlich mit der absurden Invasion der Falkland-Inseln und der militärischen Niederlage gegen Großbritannien am Ende ihres politischen Weges. Die Radikale Partei (gegen Ende des 19. Jahrhunderts gegründet) zeigte schon unter Raúl Alfonsín Auflösungserscheinungen. Er schwankte aufgrund der militärischen Pressionen in seiner Menschenrechtspolitik1 und betrieb zudem eine erratische Wirtschaftspolitik. 2001 sah sich der unfähige Präsident de la Rúa, der die neoliberale Politik seines Vorgängers fortgesetzt hatte, zum Rücktritt gezwungen; damit war die Partei am Ende. Die peronistische Partei (offiziell: Gerechtigkeitspartei) schließlich geriet zu Ende der Amtszeit von Carlos Menem (1989–1999) in Misskredit und spaltete sich. Menem war ein extremer Anhänger des Neoliberalismus, und sein Außenminister, Guido Di Tella, ging so weit, zu behaupten, Argentinien und die Vereinigten Staaten unter George Bush senior seien „vom selben Fleisch und Blut“.

Diese Auflösung der alten Parteien zeigte sich bei den Wahlen, die die Peronistin Cristina Fernández gewann, in aller Deutlichkeit. Ihr Kandidat für die Vizepräsidentschaft war … ein Radikaler: Julio Cobos. Cristina Fernández erhielt die Stimmen der peronistischen Basis unter dem Signum einer neuen Partei, der „Frente para la Victoria“ (Front für den Sieg). Die Radikale Partei ihrerseits nominierte als Kandidaten … einen Peronisten, Roberto Lavagna, Exminister der Regierung von Eduardo Duhalde. Alberto Rodríguez Saa, der Kandidat des orthodoxen Peronismus, der unter dem Signum „Frente Justicialista Unidad y Libertad“ (Gerechtigkeitsfront der Einheit und Freiheit) antrat, erhielt weniger als 8 Prozent der Stimmen. Die radikalen Linken (Maoisten, Trotzkisten, Kommunisten) und die radikalen Rechten (Putschisten, Neoliberale) sind nur noch symbolisch präsent, von gelegentlichen Aufgeregtheiten abgesehen.

Die Sozialistische Partei, die im vergangenen Juli zum ersten Mal die Regierung einer wichtigen Provinz, Santa Fé, eroberte, spaltete sich vor den Präsidentschaftswahlen in eine liberal-katholische Strömung, die die „Coalición Civica“ (Bürgerkoalition) von Elisa Carrió (ihr Vizepräsidentschaftskandidat war der Sozialist Rubén Giustiniani) unterstützte, und in eine sozialdemokratische Strömung, die sich hinter Cristina Fernández stellte. Kurzum: Der Autoritarismus der Militärs und der Populismus der Radikalen und der Peronisten, dieser unsägliche Brei, der während des gesamten 20. Jahrhunderts zu unterschiedlichsten und stets antidemokratischen Bündnissen geführt hat, zerfließt in alle Richtungen.

Cristina Fernández wollte nicht einfach bloß die erste Frau in der Casa Rosada, dem Präsidentenpalast, sein. Ihr Wahlslogan lautete: „Der Wandel beginnt jetzt“ – und statt substanzlose Parolen hinauszuposaunen, benannte sie klar und offen die wichtigsten Aspekte dieses Wandels.

Der Linken machte sie klar, dass sie für einen Kapitalismus mit starker Staatsbeteiligung eintritt, und der Rechten, besonders den Unternehmern, dass sie ihre Verantwortung vor allem in sozialen Belangen sieht und dass es eine Rückkehr zum Neoliberalismus nicht geben wird.

Ein funktionierender Staat braucht ehrbare Institutionen

Von der peronistischen Liturgie hat sie sich, wie schon ihr Ehemann Präsident Kirchner, ob aus Kalkül oder aus Überzeugung, verabschiedet. Programmatisch geht es ihr um zweierlei: um „den Wiederaufbau eines demokratisch verfassten Staates“ und um einen „institutionellen Pakt“ zwischen Kapital und Arbeit, bei dem der Staat die Rolle des Schlichters spielt. Fernández sprach von einem „Modell des wirtschaftlichen und sozialen Aufbaus (…), der Akkumulation und der sozialen Integration (…), dem genauen Gegenteil des Wirtschaftsmodells der neoliberalen 1990er-Jahre mit ihrem Ressourcen- und Vermögenstransfer.“2

Der erste Punkt ist die Voraussetzung des zweiten. Ohne demokratische, effiziente und ehrbare Institutionen wird der Staat nicht wirksam zwischen Kapital und Arbeit schlichten können, sondern wird für die Gesamtheit der Bürger ein sehr teurer Repräsentant des Kapitals gegenüber den Arbeitern und ihren Rechten bleiben; für den riesigen Sektor verarmter Menschen bestenfalls eine minimal karitative Instanz, schlimmstenfalls eine repressive.

Man wird sehen müssen, ob Fernández ihre erklärte Absicht, die republikanische Gewaltenteilung zu respektieren, praktisch auch umsetzt. Das hieße, nicht mehr per Dekret oder mit permanenten Sondervollmachten zu regieren – eine Praxis, die auch Néstor Kirchner fortgeführt hat, obwohl man ihm zugutehalten kann, dass er die Regierung mitten in einer außergewöhnlichen Krise übernommen hat. Aber immerhin sagt Fernández klipp und klar, was sie vorhat, und gibt Anlass zu Optimismus: „Der Wiederaufbau eines demokratisch verfassten Staates ist keine Nebensache.“3

Das, was Fernández „wirtschaftliches und soziales Modell“ nennt, die Übereinkunft zwischen Unternehmern, Arbeitern und Staat, ist im Wesentlichen die alte Leitidee des Peronismus, die seit 1945 in je nach Zeit und Umständen verschiedenen Varianten erfolgreich umgesetzt wurde und die Perón selbst nach seiner Rückkehr aus dem Exil 1973 hatte wiederbeleben wollen. Er scheiterte, und nach seinem Tod stürzte das Land in eine Krise, die in den Staatsstreich von 1976 mündete.

Sollte es Fernández gelingen, den Staat und die Politik zu sanieren, wird man sehen müssen, wie sie das „wirtschaftliche und soziale Modell“ realisieren will. Anders als 1973 gibt es heute weder innerhalb noch außerhalb des Peronismus eine revolutionäre Linke mit Massenbasis, die ihr ernsthaft Knüppel zwischen die Beine werfen könnte. Aber es gibt auch die „Confederación General Económica“ (CGE) nicht mehr, eine mächtige Organisation der 1970er-Jahre, die – nur für kurze Zeit – als Kerngruppe des Unternehmertums gelten konnte, Embryo einer organisierten nationalen Bourgeoisie. Heute sind die Unternehmer in mächtigen Institutionen organisiert wie der „Sociedad Rural“ (SR – Landgesellschaft), der „Federación Agraria Argentina“ (FAA – Argentinischer Landwirtschaftsverband), der „Unión Industrial Argentina“ (UIA – Argentinische Industrieunion), der „Asamblea de Pequeños y Medianos Empresarios“ (Apyme – Vereinigung der kleinen und mittleren Unternehmer) etc., die unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Interessen haben. Die SR und die UIA repräsentieren allgemein das „große Kapital“, während die FAA und die Apyme kleine Betriebe vertreten. Andererseits haben sich die Unternehmen inzwischen internationalisiert, es gab einen starken Konzentrationsprozess, was dem Projekt Fernández zusätzliche Schwierigkeiten bereiten könnte.

Die Gewerkschaften, das andere Bein, auf dem das „Modell“ steht, das sich Fernández vorstellt, sind mit wenigen Ausnahmen mafiöse, korrupte, autoritäre, mithin also wenig vertrauenswürdige Organisationen.

Während der „Wiederaufbau eines demokratisch verfassten Staates“ tief greifende politische Reformen, neue Gesetze und eine grundsätzliche Veränderung der Kultur voraussetzt, braucht es für das „Modell“ Reformen: im Steuerwesen, bei den Verbänden und als antimonopolistische, die Wirtschaft regulierende Maßnahmen. Dazu müssen die mittel- und langfristigen Ziele klar definiert werden. Man wird sehen, ob Fernández das beabsichtigt und wie sie es durchsetzen will, denn mit so tief greifende Veränderungen wird sie auf starken Widerstand stoßen.

Präsident Kirchner hinterlässt ein relativ saniertes Land und eine Wirtschaft im Aufschwung mit international günstigen Bedingungen. Aber am Horizont lauern Gefahren: Inflation, Energiekrise (die Öl- und Gasreserven reichen noch höchstens zehn Jahre), internationale Finanzkrise.

Auf der Ebene der regionalen Integration (Mercosur, Banco del Sur, Pipeline von Venezuela bis Argentinien) muss sie das Stadium des Ausprobierens und Kokettierens, der politischen Peinlichkeiten und permanenten Improvisation überwinden und Klarheiten schaffen. Der jüngste Gipfel iberoamerikanischer Präsidenten in Santiago de Chile hat gezeigt, welche Chancen, aber auch welche Probleme es weiterhin gibt.

Die Gesellschaft wird von der Regierung Cristina Fernández einfordern, was die Kandidatin versprochen hat: solide Institutionen und funktionierende republikanische Mechanismen, sozialen Zusammenhalt und Entwicklung. Wenn sie die Reformen nicht sichtbar in Angriff nimmt, ist die politische und gesellschaftliche Stabilität bedroht. Was den sozialen Zusammenhalt betrifft: Er setzt eine Umverteilung des Reichtums voraus. Diese muss mit der Konsolidierung eines starken Unternehmertums einhergehen. Die günstige internationale Konjunktur kann anhalten, aber für die Umsetzung dieser doppelten Aufgabe müssen finanzielle Ressourcen freigesetzt werden – am besten durch eine drastische Reduzierung der öffentlichen wie privaten Korruption.

Die künftige Regierung wird anders als jene Néstor Kirchners keine Übergangsregierung zwischen Chaos und einem Minimum an vernünftiger Ordnung sein. Sie erbt keine Krise, sondern ein Land mit einigermaßen guten Aussichten und vielen offensichtlichen Gefahren. Fernández wurde mit 45,7 Prozent der Stimmen gewählt, von denen viele im Zweifel für das kleinere Übel votiert haben. Bald wird eine starke Opposition sie mit Forderungen konfrontieren.

Kurz: Cristina Fernández wird vor derselben Aufgabe stehen, an der Alfonsín scheiterte und die Carlos Menem wie Fernando de la Rúa auf die althergebrachte politische Art und Weise zu bewältigen versuchten: über Betrug, Diebstahl und im besten Fall über intellektuelle Faulheit. Nach einem Wust von Scheitern, Unfähigkeit und Verrat scheint die Präsidentin ihr Amt just zu einem Zeitpunkt anzutreten, an dem die traditionelle Politik von etwas Neuem abgelöst wird: etwas, das den Erwartungen zumindest eines wichtigen Teils der Gesellschaft entspricht und dem die Winde in der Region und in der Welt günstig sind.

Wird sie der Aufgabe gewachsen sein? Wird sie die frivole und enttäuschte argentinische Gesellschaft mitziehen können?

Fußnoten: 1 Alfonsín setzte von 1984 an ein exemplarisches Gerichtsverfahren gegen die Führer der Militärdiktatur durch, das international Beachtung fand (man verglich es es sogar mit dem Nürnberger Prozess) und mit harten Urteilen endete. Danach aber beugte er sich dem Druck der Militärs und ließ ein „Schlussstrichgesetz“ und ein „Gesetz über Befehlsnotstand“ verabschieden, deren Zweck es war, Verfahren gegen weitere Angeklagte zu bremsen. Der von Präsident Kirchner nominierte Oberste Gerichtshof hat diese Gesetze annulliert, und die Gerichtsverfahren wurden wieder aufgenommen. 2 Rede bei der Annahme der Kandidatur in der Stadt La Plata am 20. Juli 2007. 3 Fernández kritisierte „eine legislative Gewalt, die … etwas beschloss, weil der Internationale Währungsfonds es forderte, weil ein Minister bestochen war oder weil die Militärs auf den Straßen aufmarschiert waren“. Rede in La Plata (siehe Anm. 2).

Aus dem Spanischen von Thomas Schmid

Carlos Gabetta leitet die Cono-Sur-Ausgabe von Le Monde diplomatique in Buenos Aires.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2007, von Carlos Gabetta