14.12.2007

Das System Musharraf

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Das System Musharraf

Pakistan zwischen Gottesstaat und Militärdiktatur von Graham Usher

Vor einem Jahr war die Welt für Pakistans Staatspräsident noch in Ordnung. General Pervez Musharraf gebot über eine wachsende Wirtschaft, über internationale Unterstützung und über eine fügsame politische Opposition. Zwar gab es auch politische Unruheherde – in Belutschistan rebellierten separatistische Gruppen, in Wasiristan verschanzten sich die Taliban –, aber die lagen an der äußersten Peripherie, weit weg von Islamabad und seinem aseptischen, weiß getünchten Zentrum. Allen US-Botschaftern, die in den letzten Jahren in Islamabad residierten, galt das Pakistan des Generals Musharraf als Inbegriff eines gemäßigten muslimischen Landes auf dem Weg in die Demokratie – als Leuchtturm in einer Region, über der die dunklen Schatten von Irak und Afghanistan liegen.

Heute erlebt Pakistan zum fünften Mal innerhalb von fünfzig Jahren die Verhängung des Ausnahmezustands. Politische Dissidenten und andere missliebige Elemente sitzen im Gefängnis, die Gerichte wurden gesäubert, die relativ freien Medien geknebelt. Was ließ die „aufgeklärte“ und „moderate“ Herrschaft Musharrafs in ein repressives System umkippen? Diese Entwicklung ist Resultat zweier sich überlagernder Krisen. Da war zum einen der unvermeidbare Zusammenstoß zwischen einer achtjährigen Militärherrschaft und einer widerspenstigen Zivilgesellschaft, als deren Speerspitze eine unabhängige Richterschaft fungierte. Zum anderen war es der von den Taliban geschürte Aufstand in den Stammesgebieten an der afghanischen Grenze, aber auch in dem dicht besiedelten Swat-Tal, das in der North West Frontier Province (NWFP) nur zweihundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt liegt.

Verantwortlich für den Rückfall in die Repression ist die Institution, die das Land seit seiner Gründung zumeist direkt und ansonsten indirekt regiert hat. Die pakistanischen Streitkräfte haben eine Stärke von 600 000 Männern und Frauen und etwa fünfzig nukleare Sprengköpfe. Unter Musharraf haben sie sich zu einem wahren Leviathan entwickelt. Sie halten Vermögenswerte in Höhe von zwanzig Milliarden Dollar, kontrollieren ein Drittel der pakistanischen Schwerindustrie und besitzen an die fünf Millionen Hektar Land. Die stark politisierten Geheimdienste sorgen nicht nur für Wahlmanipulationen (was lange Zeit ihre spezielle Mission war), sondern auch für den Aufbau oder die Auflösung politischer Koalitionen hinter dem „Präsidenten“.

„Früher forderten wir immer: Die Armee soll in die Kasernen zurück. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das heute noch möglich ist“, meint Ayesah Siddiqa, die das beste Buch über das blühende Wirtschaftsimperium der pakistanischen Militärs verfasst hat.1 Aber die pakistanische Bevölkerung – ob Reiche oder Arme, Stadt- oder Dorfbewohner, politisch Gemäßigte oder Extremisten – will die Armee in die Kasernen zurückschicken. Darum geht es letzten Endes in dieser Krise.

Der Zeitpunkt, an dem das Volk gegen die Militärherrschaft aufzubegehren begann, lässt sich präzise bestimmen. Am 9. März verkündete Musharraf, in Uniform und umgeben von den Chefs der Geheimdienste, die Entlassung von Pakistans Oberstem Richter Iftikhar Mohammed Chaudhry. Die vorgeschobene Beschuldigung lautete „Fehlverhalten“. Doch vor allem hatte sich der Oberste Richter des Landes gegen die rechtswidrige Übernahme der Staatsmacht durch die Armee gestellt.

Chaudhry hatte juristische Entscheidungen gefällt, die das Militärimperium mitten ins Herz trafen. Er erklärte eine Privatisierungspolitik für illegal, mit der staatlicher Besitz preisgünstig an Armeeoffiziere und deren Lakaien in der pakistanischen Wirtschaftselite verkauft wurden. Er versuchte entschieden, die schattenhaft agierenden Geheimdienste und vor allem die Führung des Armee-Geheimdienstes ISI (Inter Service Intelligence), der rechtsstaatlichen Kontrolle zu unterwerfen.

In den letzten sechs Jahren, also seit Musharraf im Antiterrorkrieg die Fronten gewechselt hat, ließ der ISI hunderte von Pakistanern „verschwinden“, denen Verbindungen zu al-Qaida oder zu den Taliban nachgesagt wurden. Für diese Dienste wurde der Armeegeheimdienst von der CIA reichlich entschädigt, wie Musharraf in seiner Autobiografie feststellt.2 Tatsächlich hatten die meisten dieser „Verschwundenen“ nichts mit militanten Gruppen zu tun. Wie die Menschenrechtskommission Pakistans (HRCP) bestätigt, waren sie in der Mehrzahl „Journalisten, Nationalisten aus Belutschistan oder Sindh3 , Arbeiter und Gewerkschaftsaktivisten“. Diese Leute waren also, wie der HRCP-Vorsitzende Asma Jahangir betont, „Dissidenten und keine Dschihadisten“.

Die Rettung kommt nicht durch Benazir Bhutto

Der Oberste Richter Chaudhry stellte auch klar, laut Verfassung könne Musharraf nach dem Auslaufen seiner ersten Amtszeit am 15. November nicht mehr an seiner doppelten Position als Staatspräsident und Armeechef festhalten. Das war nach Aussage eines Insiders der Regierung der wahre Grund für Chaudhrys Entlassung.

Sie hat sich als der größte Fehler im politischen Leben des Pervez Musharraf erwiesen. Denn ganz unerwartet protestierten die Rechtsanwälte gegen die Entlassung Chaudhrys. Unterstützt wurden sie von der Zivilgesellschaft, von entschlossenen Richtern und einer engagierten Presse. Mit dieser Protestbewegung im Rücken setzte das Oberste Gericht am 20. Juli seinen Vorsitzenden wieder in sein Amt ein. Damit erlebten die meisten Pakistaner zum ersten Mal, dass die Richter im Duell mit dem Militär nicht zurückwichen. Für Musharraf war die Erfahrung ein Schock, der ihn zum Rückzug zwang.

Der Politikwissenschaftler Rasul Baksh Rais wertet die Bewegung der Anwälte als ein „außerordentliches Ereignis“, weil deren Aktionen zugleich gewaltfrei und populär waren. „Sie drückten die Gefühle der Mittelklassen und der anderen neuen, von der Modernisierung geprägten Klassen aus – das Gefühl, dass wir den Rechtsstaat brauchen.“ Diese Bewegung stellte aber auch die Korruptheit der etablierten politischen Parteien Pakistans bloß. Das gilt vor allem für die größte von ihnen, die Pakistan People’s Party (PPP) der ehemaligen Premierministerin Benazir Bhutto.

Die Tochter von Zulfikar Ali Bhutto (1971–1973 Staatspräsident und 1973–1977 Premierminister Pakistans) hatte sich 1999 ins Exil begeben, um sich einer Serie von Klagen zu entziehen, die mit Vorwürfen der Korruption während ihrer beiden Regierungsperioden (1988–1991 und 1993–1996) zu tun hatten. Frau Bhutto sah in den Protesten der Rechtsanwälte eine Chance für die Rehabilitierung ihrer eigenen Person. Da ihr klar war, dass diese Proteste die Brüchigkeit der Militärherrschaft demonstrierten, machte sie Musharraf – im Auftrag der Armee und der US-Regierung – ein Rettungsangebot. Sie ließ ein Allparteienbündnis platzen, das sich gegen die Einmischung der Armee in die Politik richten sollte, und versprach die Unterstützung der PPP für eine weitere fünfjährige Amtsperiode Musharrafs. Als Gegenleistung verlangte sie eine Amnestie für ihre Person und eine dritte Chance als Regierungschefin.

Das Szenario war in Washington verfasst worden, wo man davon ausging, dass Frau Bhutto und die PPP der Armee und Musharraf die fehlende zivile Legitimation verschaffen konnten. Doch dieser Deal platzte, als deutlich wurde, dass der pakistanische Oberste Gerichtshof die „Wahl“ vom 6. Oktober, mit der sich Musharraf eine zweite Amtsperiode verschafft hatte, für verfassungswidrig erklären würde. Daraufhin verhängte Musharraf zum zweiten Mal innerhalb von acht Jahren das Kriegsrecht. Damit machte er seine Absprache mit Bhutto hinfällig. Heute sitzt Frau Bhutto in ihrem Haus in Karatschi und wartet auf neue Anweisungen aus der US-Botschaft.

Die größte Sorge Washingtons ist ein Aufschwung der Islamisten. Im Januar 2007 hatten Schülerinnen einer Koranschule in Islamabad eine öffentliche Bibliothek besetzt. Sie protestierten damit gegen die Pläne der Regierung, einen Teil ihrer Schule auf dem Gelände der Roten Moschee abzureißen. Der Kampf der Koranschülerinnen dauerte sechs Monate. Er bedeutete eine Kampfansage der islamistischen Kräfte an die Staatsmacht, und das gleichsam vor deren eigener Haustür: gleich neben dem Präsidentenpalast und dem Hauptquartier des ISI und nur eine Autostunde von Kohatu entfernt, wo die pakistanischen Atomwaffen lagern. Die Demonstrantinnen und Demonstranten erbeuteten und zerstörten missliebige DVDs und CDs, überfielen Bordelle und proklamierten die Einführung der Scharia. Im Juli eroberten Kommandoeinheiten der Armee nach sechstägiger Belagerung die Rote Moschee zurück. Bei dem Angriff kamen etwa hundert Menschen ums Leben.

Das vergiftete Milieu der Nordwestprovinz

Die Besetzung der Roten Moschee durch islamistische Demonstranten war nur insofern einmalig, als sie sich in der Hauptstadt und vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielte. Ähnliche Versuche, die Herrschaft des Islam zu etablieren, sind in den Paschtunengebieten der North Western Frontier Provinces und entlang der afghanischen Grenze erfolgreicher verlaufen. Ihre Anführer waren Kleriker, die von Ussama Bin Laden inspiriert, zugleich aber Absolventen jener sektiererischen sunnitischen Madrassen sind, die unter der islamistischen und proamerikanischen Diktatur von Zia-ul-Haq (1977–1988) gefördert wurden. Siebzig Prozent der Studentinnen und Studenten auf dem Gelände der Roten Moschee stammten aus den Nordwestprovinzen und anderen Grenzregionen, also aus einem vergifteten Milieu mit den Ingredienzien eines tribalistischen Selbstbewusstseins, paschtunischen Aufbegehrens und eines Islam à la Taliban.

Die aktiven Kämpfer waren Mitglieder verbotener dschihadistischer Kampfgruppen wie Jaish-e-Mohammed (JM), die im Auftrag des ISI die pakistanischen Stellvertreterkriege in Afghanistan und im indischen Teil von Kaschmir geführt hatten. Für diese Milizionäre war die politische Wende Musharrafs nach dem 11. September – sein Bruch mit den Taliban und seine Friedenspolitik gegenüber Indien – ein Abfall vom rechten Glauben. Informierte Kreise versichern, dass diese Dschihadisten auch Kontakte zur al-Qaida unterhielten und mit stillschweigender Duldung extremistischer ISI-Offiziere handelten.

Die Ziele dieser pakistanischen Islamisten sind allerdings so disparat wie ihre Zusammensetzung. Von den Taliban behaupten Kenner der Szene, ihr wichtigstes Ziel sei es, die Stammesgebiete als Ausgangs- und Rückzugsbasis für den Aufstand in Afghanistan zu erhalten. Ihre Versuche, von dieser Basis aus nach Pakistan hinein und bis nach Islamabad aktiv zu werden, sei mindestens so sehr eine Abschreckungs- wie eine Eroberungstaktik.

Ehrgeizigere Ziele verfolgen offenbar die JM und ausländische Kämpfer, die wie die usbekischen Islamisten mit al-Qaida in Verbindung stehen. Sie wollen sich offenbar eine territoriale Enklave sichern, die für die pakistanische Armee zur No-go-Area wird und sich von den Stammesgebieten an der afghanischen Grenze bis zum indischen Kaschmir erstreckt. Kleriker wie Abdul Rashid Ghazi in der Roten Moschee und Maulana Fazlullah im Swat-Tal werben für die gewaltsame Durchsetzung der Scharia, weil sie der Überzeugung sind, dass „das islamische System überall dort eingreift, wo der Staat versagt“.

Allen gemeinsam ist die Feindschaft zur pakistanischen Armee. Das ist eine neue Entwicklung, meint der Militärexperte Hasan-Askari Rizvi. „Vorher gab es zwischen beiden Seiten ein stillschweigendes Einvernehmen: Die Armee ließ den militanten Gruppen an der afghanischen Grenze eine gewisse Autonomie, und die attackierten dafür keine Pakistaner. Heute dagegen legen sie sich mit der Armee auf pakistanischem Boden an.“

Seit dem Kampf um die Rote Moschee wurden in Pakistan durch Selbstmordattentate, Raketenüberfälle und Sprengfallen am Straßenrand rund 600 Menschen getötet, darunter 200 Soldaten, die meisten von ihnen in den Stammesgebieten. Am schlimmsten traf es dabei früher immer die einfachen Soldaten, doch seit kurzem gerät auch die verhasste Offiziersklasse verstärkt ins Visier. In der größten Garnisonsstadt Rawalpindi tötete am 4. September ein Selbstmordattentäter bei einem Angriff auf einen Bus über zwanzig ISI-Offiziere. Am 13. September wurden zwanzig Mitglieder der Kommandoeinheit SSG (Special Services Group) beim Frühstück in der Offiziersmesse in die Luft gesprengt. Die SSG hatte den Sturm auf die Rote Moschee durchgeführt. Und die Hand des ISI sehen die Pakistaner hinter allem. Beide Angriffe waren das Werk von Insidern. Die militanten Gruppen beginnen offenbar, sich gegen ihre eigenen Erzeuger zu wenden.

Verändert hat sich auch die öffentliche Meinung. In den Gebieten der Paschtunen ist so etwas wie Befriedigung über die Attentate zu spüren. Dort haben die Menschen das Gefühl, dass die Armee in den Stammesgebieten oder in Islamabad gegen das eigene Volk Krieg führt, und zwar im Solde der USA. In Peschawar sind Offiziere neuerdings angewiesen, in der Öffentlichkeit keine Uniform zu tragen. „Wir waren noch nie so verhasst“, bekannte ein pensionierter General.

Die Folgen sind bereits sichtbar. Zum Beispiel die Demoralisierung. Am 30. August nahmen die Taliban in den Stammesgebieten annähernd 300 Soldaten als Geiseln. Es hieß, dass sich die Soldaten ergeben hatten, ohne einen Schuss abzufeuern. Ayesha Siddiqa sieht darin ein Warnsignal: „Das Albtraum-Szenario war immer, dass islamistische Generäle putschen und irgendwie die pakistanischen Atombomben in die Finger bekommen. Aber das ist ziemlich unrealistisch. Wahrscheinlicher ist ein Szenario, wie wir es heute erleben: Risse in der Armee und Soldaten, die einfach den Befehl verweigern. Die sich einem Krieg, der weithin als Krieg der Amerikaner gesehen wird, dadurch widersetzen, dass sie desertieren oder zum Gegner überlaufen.“

Eine zweite sichtbare Folge sind kollektive Strafaktionen. Am 20. November ließ die Armee verlauten, sie werde 20 000 Soldaten mobilisieren, um den radikalen Kleriker Fazlullah und seine etwa 500 Kämpfer aus dem Swat-Tal zu vertreiben. Wenn die Armee dabei so vorgeht wie in den Stammesgebieten, muss man mit Bombardierungen, mit vertriebenen Zivilisten und mit Toten rechnen. Die Armee setzt auf derart unwirksame Instrumente, weil sie verängstigt ist und keine Ahnung von Aufstandsbekämpfung hat. Der Journalist Rahimullah Yousefzai kommentiert: „Das Ganze ist doch kontraproduktiv. Es treibt die Leute nur in die Arme der Taliban.“

Musharraf will mit seiner Politik – auch nach Aufhebung des Kriegsrechts – ein neues Präsidialsystem durchsetzen, das sich mehr an den autoritären arabischen Regimen als an Indiens chaotischer, aber funktionaler Demokratie orientiert. Musharraf spricht von „realer Demokratie“ im Gegensatz zu der „Scheindemokratie“ eines parlamentarischen Systems. Tatsächlich meint er eine Militärdiktatur wie unter Zia-ul-Haq oder wie das System Mubarak in Ägypten.

Der Rückgriff auf das Kriegsrecht hat erneut gezeigt, dass dieses System mit einer unabhängigen Justiz, freien Medien und fairen Wahlen unvereinbar ist. In seine Übergangsregierung hat Musharraf lauter persönliche Vertraute berufen. Damit will er sicherstellen, dass die Parlamentswahlen am 8. Januar 2008 genauso manipuliert werden wie die letzten im Jahr 2002. Zudem hat er die meisten Mitglieder des höchsten Gerichts entlassen und ein neues militarisiertes Rechtssystem installiert, das es erlaubt, Zivilpersonen in Fällen von „Verrat“ vor einen Militärgerichtshof zu stellen. Damit haben die Geheimdienste es nicht mehr nötig, solche Leute verschwinden zu lassen.

Dieses System trägt allerdings kaum dazu bei, eine Antwort auf die Legitimitätskrise zu finden, die den pakistanischen Staat erschüttert. Und es taugt auch nicht zum Kampf gegen militante Islamisten. Im Gegenteil: Dieser Kampf verliert in den Augen der meisten Pakistaner noch mehr an Legitimität. Manch einer setzt in dieser Situation auf die Zivilgesellschaft und erhoffen sich eine neue Studentenbewegung, die zum ersten Mal seit 1968 auf die Straßen ging. Aber einer solchen Entwicklung stehen gewaltige Hindernisse entgegen. Das größte ist die enorme politische und ökonomische Unterstützung des Westens für Musharraf, dem die USA jährlich etwa eine Milliarde Dollar, großenteils als Militärhilfe, zukommen lassen.

Aber nicht nur diese Unterstützungspolitik muss aufhören, meint der Politikwissenschaftler Rais: „Das Hauptinteresse, das der Westen in Pakistan hat, ist der Sieg über die militanten islamischen Kräfte. Auch wir wollen diese Kräfte niederschlagen. Aber ich glaube nicht, dass man das schafft, indem man Streitkräfte verstärkt, die als Institution zugleich die politische Herrschaft ausüben. In muslimischen Gesellschaften ist die Religion integraler Bestandteil der Sozialstruktur, dort kann man keine Zwangsmethoden einsetzen, um die Islamisten politisch abzublocken. Denen verschafft man dadurch nur noch größere Kraft und Legitimität. Die Islamisten sind nur durch Demokratie und strikte Einhaltung der Verfassung zu besiegen.“

Das bedeutet, dass die Armee wieder zur ihrer verfassungsmäßigen Rolle als Verteidiger – statt als Gebieter – des Staates zurückkehren muss. Und es bedeutet auch, dass die politischen Parteien ihre Konflikte politisch austragen sollten, statt sich der Armee anzudienen. Doch ohne den Druck massenhafter Unruhen und internationaler Sanktionen werden die Streitkräfte ihre Verfügungsmacht über den Staat schwerlich aufgeben.

Wie die Allianz zwischen Bhutto und Musharraf zeigt, wurzelt die Politik in Pakistan immer noch in einer feudalen und nicht in einer demokratischen Kultur. Ein entscheidendes Merkmal des Feudalismus ist nach Rais, „dass die Macht zählt, Prinzipien aber nicht“. Genau das aber, meint Ayesha Siddiqa, „bedeutet den Tod für alle politischen Initiativen, die nicht vom Militär kontrolliert und benutzt werden.“ Dies hält sie für einen gefährlichen Zustand, denn es bringe die Massen dazu, das System zu verabscheuen. „Und diese Abscheu wird sich auf andere Weise ausdrücken.“

Seit der Ausrufung des Kriegsrechts haben die Islamisten das malerische Swat-Tal fast vollständig unter ihre Kontrolle gebracht. Ein Großteil der Zivilbevölkerung ist geflohen, und wer geblieben ist, hat nichts für den rückwärtsgewandten Islam übrig. Aber die Polizei hat sich abgesetzt, die lokale Verwaltung hat kapituliert und die lokalen Führer sind nach Islamabad geflohen. Die militanten Gruppen brachten Geld, Schutz und ein eigenes Rechtssystem. Auf diese Weise gewinnen die Taliban die Oberhand, wie schon in Afghanistan: nicht im Konflikt mit dem Staat, sondern weil dieser versagt.

Die Ursache dieses Versagens sind in Pakistan nicht der militante Islamismus oder die unverantwortlichen Medien oder eine zu umtriebige Justiz. Es ist die anmaßende Vormachtstellung ausgerechnet der Institution, von der man im Westen immer noch glaubt, dass sie das Land zusammenhält – der Streitkräfte.

Fußnoten: 1 Ayesha Siddiqa, „Military Inc.: Inside Pakistan’s Military Economy“, London (Pluto Press) 2007. 2 Pervez Musharraf, „In the Line of Fire. A Memoir“, London (Simon & Schuster) 2006. 3 Siehe Selig S. Harrison, „Reiches Belutschistan, arme Belutschen“, Le Monde diplomatique, Oktober 2006.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Graham Usher ist Autor und Journalist und lebt in Islamabad.

© Le Monde diplomatique, London

Le Monde diplomatique vom 14.12.2007, von Graham Usher