Kopftücher, Generäle und türkische Demokratie
von Niels Kadritzke
Am türkischen Nationalfeiertag schien die Welt wieder in Ordnung. Am 29. Oktober nahmen Staatspräsident Abdullah Gül und Generalstabschef Büyükanit in Ankara gemeinsam die Parade ab. Die PKK und die Krise an der irakisch-türkischen Grenze haben die zivile und die militärische Staatsspitze wieder ins gemeinsame Boot gebracht.
Doch die Fehde zwischen militärischer und ziviler Führung ist damit nicht beigelegt. Einen Monat zuvor hatten alle türkischen Zeitungen das Abbild dieser Fehde auf die Titelseite gestellt: Auf dem Flughafen von Ankara wird Staatspräsident Gül samt Gattin von einem Empfangskomitee begrüßt. Ein Soldat kehrt den Zivilisten den Rücken zu. Der Soldat trägt Generalsuniform, Frau Gül trägt ein Kopftuch.
Weil sie das Symbol der gläubigen Muslimin nicht ablegt, wird die First Lady der Türkei vom Militär geschnitten. Dabei vermeidet ihr Gatte alles, was seine Gegner provozieren könnte. Deshalb ließ er bei den Empfängen nach seiner Amtseinführung auch im Fastenmonat Ramadan reichlich Alkoholika kredenzen.
Dass die Kopfbedeckung der First Lady und die Bewirtung im Präsidentenpalast politische Schlagzeilen machen, ist nur ein Symptom. Der Konflikt zwischen der Regierung Erdogan, dessen Partei ihre islamischen Wurzeln nicht verleugnet, und dem Militär, das sich als Speerspitze des kemalistischen Lagers versteht, ist seit Sommer 2007 in ein neues Stadium getreten. Der neue Wahlsieg der AKP und die Wahl eines Präsidenten, den die Kemalisten unbedingt verhindern wollten, hat das Kräfteverhältnis zwischen beiden Lagern verschoben. Die AK-Partei besetzt erstmals beide Machtpole der Exekutive. Zuvor galt das Amt des Staatspräsidenten als Wächterinstanz, die das Erbe Atatürks und „den säkularen Staat“ zu verteidigen hat. Güls kemalistischer Vorgänger Sezer war ein strenger Jurist, der viele Initiativen der AKP-Regierung mit seinem Veto blockiert hatte.
Auch viele Kurden unterstützen die Regierungspartei
Kein Wunder, dass die Militärs die Wahl von Erdogans Außenminister zu Sezers Nachfolger verhindern wollten. Das schien ihnen zu gelingen. Kurz vor dem entscheidenden Wahlgang im Parlament verkündete der Generalstab am 27. April über Internet: Die Streitkräfte seien entschlossen, „die unantastbaren Merkmale der türkischen Republik zu schützen“. Dazu wurden marschierende Truppen gezeigt und die Generäle im Mausoleum des Staatsgründers.
Die „elektronische Intervention“ hatte das gewünschte Resultat: Das Verfassungsgericht stoppte die Wahl Güls mit einem Urteil, das einem Befehlsvollzug gleichkam.1 Doch der Querschuss der Militärführung ging nach hinten los: Erdogan reagierte mit vorgezogenen Parlamentswahlen, die er am 22. Juli klar gewann. Mit 46,6 Prozent erzielte die AKP 12,2 Prozent mehr Stimmen als bei ihrem Wahlsieg von 2002.2 Jetzt schickte die AKP ihren Kandidaten erneut ins Rennen. Am 28. August wählte das neue Parlament mit absoluter Mehrheit der AKP-Stimmen Abdullah Gül zum Staatsoberhaupt.
Danach herrschte zwischen dem Präsidenten und der Militärspitze ein Verhältnis wie zwischen Staaten mit eingefrorenen diplomatischen Beziehungen. Die militärische Führung blieb sogar der Vereidigung des Präsidenten fern. Erst mit der erneuten Zuspitzung des Kurdenkonflikts entstand eine neue Situation (siehe Kasten auf Seite 8). Die nationalistisch aufgeheizte Volksstimmung erlaubte es der Regierung nicht, den Mobilisierungsplänen des Generalstabs zu widersprechen. Mit dem Parlamentsbeschluss, der militärische Aktionen jenseits der irakischen Grenze erlaubt, hat Erdogan zwar den formellen Anspruch auf das Primat der Politik unterstrichen. Doch die entscheidende Frage, inwieweit die türkische Armee sich als Staat im Staate verhalten kann, bleibt weiter in der Schwebe.
Und doch hat sich die Machtbalance zwischen politischer und militärischer Führung durch die Wahlen vom Juli deutlich verschoben. Umstritten ist allerdings, wie stark die „elektronische“ Intervention des Generalstabs vom 27. April zum Sieg der AKP beigetragen hat. Der Historiker Ayhan Aktan glaubt, entscheidend seien die „Fruststimmen“ in Anatolien gewesen: „Dort hat man die Drohung gegen Gül, der aus Kayseri stammt, als Beleidigung empfunden.“ Der bekannteste türkische Wahlforscher Tarhan Erdem sieht es anders. Schon vor der Drohung des Militärs kam die AKP in allen Umfragen seines Instituts auf 45 bis 50 Prozent der Stimmen. Nach dem 27. April habe es einen Sympathieschub gegeben, aber der Wahlsieg der AKP beruhe vor allem auf den guten Wirtschaftsdaten.
Die Ökonomie war auch im Osten der Türkei der entscheidende Faktor, meint Metin Münir. Der Wirtschaftskolumnist der Milliyet war von seiner Zeitung im Wahlkampf nach Gaziantep geschickt worden. Die Millionenstadt an der syrischen Grenze erlebt einen Wirtschaftsboom, den die Einheimischen der AKP zuschreiben. Aber auch im unterentwickelten Osten erzielte die AKP enorme Stimmengewinne. Die Menschen dort erlebten erstmals, dass ihre Kinder kostenlose Schulbücher bekamen und dass sie mit einer neuen „Greencard“ einen Arzt oder ein Krankenhaus aufsuchen konnten.
Die Regierungspartei kam in Ostanatolien auf 56 Prozent der Wählerstimmen. Damit wurde sie auch in den Kurdengebieten zur stärksten Partei – stärker auch als die kurdische DTP, die allerdings nur mit unabhängigen Kandidaten antrat. Münir glaubt, dass die Intervention der Militärspitze gegen Gül die kemalistische CHP, den Hauptgegner der AKP, diskreditiert hat. Deren autokratischer Vorsitzender Deniz Baykal hatte sich als parlamentarischer Arm des Generalstabs angeboten. Mit 20,8 Prozent Wählerstimmen blieb die CHP weit hinter ihren und den Erwartungen der Militärs zurück.
Weiße Türken und anatolische Aufsteiger
Soziologisch gesehen markiert der Sieg Erdogans eine kräftige Machtverschiebung innerhalb der türkischen Ober- und Mittelschichten. Die AKP hat das konservative Potenzial jetzt voll absorbiert, meint Wahlforscher Erdem. Ihre Zugewinne erzielte sie vor allem bei Anhängern der traditionellen Rechtsparteien und bei den kurdischen Wählern. Wenn die Erdogan-Partei dieses Potenzial halten könne, werde sie sich lange an der Macht halten.
Für Metin Münir ist die AKP mit ihrem Wahlsieg endgültig zum Teil des bürgerlichen Establishments geworden. Und da sie ihren Machtzuwachs nicht islamisch orientierten Wählern verdankt, wäre Regierungschef Erdogan töricht, wenn er die neue Massenbasis mit „islamistisch“ gefärbten Initiativen verschrecken würde. Aber wird der Kopf der AKP sich rational verhalten? Oder verfolgt er, mit Flankenschutz des Präsidenten Gül, eine „hidden agenda“, die eine islamisch gefärbte Türkei anstrebt? Die eisernen Kemalisten sind überzeugt, dass die „Islamisten“ um Erdogan den säkularen, modernen, demokratischen Staat Atatürks zerstören und durch ein System à la Iran oder Malaysia ersetzen wollen. Deshalb beobachten sie jeden Schritt der neuen Regierung mit hysterischem Misstrauen.
Das erklärt die Brisanz der „Kopftuchfrage“ in der Debatte über eine neue Verfassung, die nach der Wahl Güls begonnen hat. Dabei geht es nur vordergründig um die Kopfbedeckung der Präsidentengattin, und auch nicht nur um den Laizismus (laiklik), also den säkularen Staat. Es geht um die Macht des kemalistischen Blocks. Und der umfasst nicht nur das Militär, sondern den Gesamtkomplex des „tiefen Staats“ (derin devlet)3 und die orthodoxen Kemalisten in Justiz, Hochschulen und staatlicher Bürokratie.
Dieser komplexe Machtblock repräsentiert die Interessen einer Elite, die das Land bis vor kurzem konkurrenzlos beherrschte. Ayhan Aktar spricht von einer Elite der „weißen Türken“. Die fühle sich nun durch die Anatolier bedroht, die sie bislang wie „arme Verwandte im Haus der Reichen“ behandelt hat. Die kemalistische Elite werde Erdogan nur akzeptieren, „wenn er seinen Schnurrbart abrasieren, sich von seiner Frau scheiden und mit einem Model im Arm fotografieren lässt“.
Hinter den kulturellen Differenzen sieht Ayhan harte Interessengegensätze zwischen der alten Bourgeoisie und den „jungen“ anatolischen Aufsteigern, die jetzt eine weitere kemalistische Bastion, den Präsidentenpalast in Ankara, erobert hat. Deshalb stilisieren militärische wie zivile Kemalisten die Frage, ob die Regierung Erdogan im Zuge der angekündigten Verfassungsreform das Verbot des Kopftuchs (türban)4 an staatlichen Universitäten aufheben wird, zum Lackmustest für die Intentionen der Emporkömmlinge. Ende September verurteilte General Basbug, Oberkommandierender des Heeres und designierter Generalstabschef, die „Anarchie der Ideen“ und drohte: „Der Laizismus ist Eckstein aller Werte und Prinzipien der Türkei und darf von niemand zur Diskussion gestellt werden.“5 Doch diese Diskussion ist bereits in vollem Gange.
Auf die Frage, welcher Spielraum dem Militär nach dem AKP-Wahlsieg verblieben ist, antworten die meisten türkischen Beobachter, was die Militärs letztlich im Schilde führen, könne niemand genau wissen. Einerseits habe es noch nie eine Herrschaftsklasse gegeben, die ihre Macht kampflos aufgegeben hätte. Andererseits seien die Optionen der Generäle beschränkt durch die „Intervention des Volkes“, wie Ahyan Aktar den AKP-Wahlsieg nennt.
Metin Münir sieht auch ökonomische Risiken: Das türkische Wirtschaftswunder beruht auf dem Zufluss ausländischen Kapitals. Ein Putsch des Militärs würde die ausländischen Anleger vertreiben, die Folge wäre ein massives Zahlungsbilanzdefizit, das die türkische Lira entwerten und die Ökonomie abwürgen würde.
Im Augenblick können die Militärs nur auf Fehler der Regierung warten – oder diese zu Fehlern zwingen. Deshalb spitzen sie die Verfassungsdebatte auf die Frage des Laizismus zu. Da sich Erdogan und Gül aber fast täglich zum säkularen Staat und zum Kemalismus bekennen, müssen sie behaupten, schon die Aufhebung des Kopftuchverbots bedrohe die Grundlagen des Systems.
Diese Taktik stößt auf ein doppeltes Problem, auf juristischer und auf gesellschaftlicher Ebene. Das juristische Problem besteht darin, dass das „Türban“-Verbot an staatlichen Universitäten weder per Gesetz noch in der Verfassung verankert ist. Eingeführt wurde es erst 1989 durch ein Urteil des Verfassungsgericht, das laiklik zum „Leitprinzip des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens“ erklärt, das allen anderen Verfassungsprinzipien vorgehe. Also könne „niemand irgendein Freiheitsrecht geltend machen, das mit dem Prinzip des Laizismus unvereinbar ist“. Damit wird laiklik zur Guillotine der Grundrechte – zum Beispiel des Rechts auf eine universitäre Ausbildung.
Die Verfassung von 1982 atmet noch immer den autoritären Geist, in dem Kemal 1925 durch das sogenannte Hutgesetz den Fes, die traditionell „osmanische“ Kopfbedeckung, abschaffte. Der Geist dieser „Reform“ spricht aus den Worten, mit denen der spätere „Vater der Türken“ damals seinen Söhnen drohte: „Die Zivilisation ist ein furchtbares Feuer, das die verzehrt, die es missachten.“6 Mit diesem Feuer war nicht zu spaßen. Vor dem renitenten Schwarzmeerstädtchen Rize ließ die modernisierende Staatsmacht ein Kriegsschiff aufkreuzen. Allein in Rize wurden acht Menschen wegen Widerstands gegen das Hutgesetz hingerichtet; in der ganzen Türkei waren es 86.
Der Geist der Erziehungsdiktatur prägt die türkische Version des säkularen Staats bis heute. Diese Version hat nichts mit dem zu tun, was man in Frankreich, Deutschland oder Großbritannien unter Laizismus versteht. Laiklik ist ein Kampfbegriff, der nicht Trennung von Staat und Religion bedeutet, sondern Kontrolle der Religion durch den Staat. Deshalb gibt es in der kemalistischen Türkei das Präsidium für Religionsangelegenheiten DIB (Diyanet Isleri Baskanligi), eine staatliche Behörde zur Propagierung der hannafitisch-sunnitischen Glaubensrichtung.
Das DIB orientierte sich am Ideal einer homogenen türkischen Nation im Sinne der „türkisch-islamischen Synthese“, die nach dem Militärputsch von 1980 zur Staatsideologie wurde.7 In diesem Sinne reglementiert das DIB auch den obligatorischen – rein sunnitischen – Religionsunterricht in den staatlichen Schulen. Damit dient es, so der Politologe Sahin Alpay, als staatliches Instrument sunnitischer Identitätspolitik. Damit finanzieren nichtsunnitische Muslime, aber auch jüdische oder christliche Bürger mit ihren Steuern ihre eigene Diskriminierung. Die größte muslimische Minderheit der Aleviten ist nicht als eigenständige Glaubensrichtung anerkannt, während Nichtmuslime als eine Art „Ausländer“ gelten und vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen sind.
Der kemalistische Laizismus ist auch deshalb ein Etikettenschwindel, weil er einen anderen Glaubenskult schützt. In den Universitäten, die den „Türban“-Frauen verboten sind, hängen mehr Atatürk-Ikonen als Kruzifixe im Vatikan. Und nicht nur dort. Ein Denkmal des Staatsgründers steht fast in jedem Dorf. Sein Porträt ist auf jeder Banknote zu finden. In den Schulen müssen die Schüler jeden Montagmorgen im Schulhof antreten und ihre Treue zu Atatürk im Chor beschwören. Im Unterricht wird das Leben Kemal Atatürks gelehrt wie eine Heiligenlegende. Wer die infrage gestellt, riskiert eine Blasphemie-Klage nach Artikel 301 des türkischen Strafgesetzes, der „die Beleidigung des Türkentums“ unter Strafe stellt. Wobei „Türkentum“ und „Atatürk“ für kemalistische Staatsanwälte dasselbe sind.8
Und natürlich hat der Staatsheilige auch seine Wallfahrtsstätte: das Atatürk-Mausoleum in Ankara, zu dem am 69. Todestag des Staatsgründers eine halbe Million Gläubige pilgerten. Selbst der Zeitpunkt von Atatürks Tod ist allen Türken gegenwärtig: Um 9.05 Uhr heulen an jedem 10. November die Polizeisirenen auf, und viele Türken erstarren in Ehrfurcht und grüßen die nächste türkische Fahne.
Nationale Sicherheit als Pflichtfach in der Schule
Gravierender ist, dass der Personenkult sogar Verfassungsrang hat. Laut Präambel ist Atatürk der „unsterbliche Führer und unvergleichliche Held“, dessen „Reformen und Prinzipien“ samt seiner „Auffassung von Nationalismus“ für Staat und Nation verbindlich sind: Die Ehrfurcht der Atatürk-Kinder ist zum Verfassungsprinzip erstarrt.
Kein Historiker wird die Verdienste Kemals bestreiten, der nach dem Ersten Weltkrieg auf den Trümmern des Osmanischen Reiches im Kampf gegen die griechischen Invasoren erst eine Befreiungsarmee, dann einen neuen Staat und schließlich eine neue Nation geschaffen hat. Doch das kemalistische Verfahren des „nation-building“ hatte auch zahlreiche faschistische Merkmale. Der Journalist Mustafa Aykol zählt dazu auch die offiziellen „Fantasien zur Überlegenheit der türkischen Rasse“ und die posthume Ernennung Atatürks zum „ewigen Führer“.9
Träger dieser autoritären Tradition war von Beginn an die Armee, die sich als „Herd der Nation“ (yurdun ocagi) bezeichnet.10 Diese Armee beansprucht, in den Worten von Exgeneralstabschef Hilmi Özkök, einen Wandel bewerkstelligt zu haben, der „für die Türkei genau so bedeutsam war wie die Renaissance für den Westen“. Özkök wird in einer Analyse zitiert, die ein Politologe und zwei türkische Offiziere über die „symbiotische Beziehung“ zwischen Streitkräften, Staat und Bevölkerung verfasst haben.11 Demnach sieht sich das kemalistische Offizierscorps als Garant für den Zusammenhalt der zerklüfteten Gesellschaft und will sich deshalb vor „externen Ideologien schützen, welche die homogene Weltanschauung des Militärs gefährden könnten“.
Nach ihrem letzten Putsch von 1980 installierte diese „sich selbst reproduzierende Generalsklasse“ eine Reihe von „Lauschposten in zivilen Institutionen, um entstehende Gefahren spüren und beobachten“ zu können. Ein Beispiel dafür ist der „Rat des Höheren Bildungswesens“ (YÖK), der in der aktuellen Kopftuchdebatte heftig gegen die Regierung polemisiert. Die Ideologie des Militärs vermittelt auch das obligatorische Schulfach „Nationale Sicherheit“, gelehrt von Offizieren in Uniform und anhand von Schulbüchern, die von Militärs verfasst wurden.12 Hinzu kommen repressive Organe wie die Gendarmerie, die dem Generalstab untersteht, und die Militärjustiz, die bei bestimmten „politischen“ Delikten auch für Zivilpersonen zuständig ist.
Angst vor einer schleichenden Retürbanisierung
Ein derart autoritäres Modell lässt sich nicht unbegrenzt in die Zukunft verlängern. Irgendwann wehrt sich die Gesellschaft. Der Trick der Kemalisten besteht darin, solche Reaktionen stets als „reaktionär“ zu denunzieren, so als würden sie die Türkei ins Mittelalter zurückführen. Beim Thema Kopftuch reagieren allerdings auch nichtkemalistische Linke nervös. Heftig diskutiert wird vor allem die Gefahr einer schleichenden „Retürbanisierung“, wie sie der Soziologe Serif Mardin prophezeit. Eine empirische Studie der Stiftung Tesev zeigt allerdings, dass solche Ängste übertrieben sind: Der Anteil der Frauen, die in der Öffentlichkeit den Kopf bedecken, hat sich im Zeitraum von 1999 bis 2006 deutlich verringert. Nach derselben Studie ist der Anteil der Anhänger eines islamischen Rechtssystems im selben Zeitraum von 22 auf 9 Prozent zurückgegangen.13
Die Tesev-Studie zeigt aber auch, an welchem Punkt Mardins Befürchtung realistisch ist: Wenn das Kopftuchverbot fällt, dürfte die Zahl der traditionell gekleideten Studentinnen an den Universitäten zunächst ansteigen, weil der Druck der traditionellen Familien auf studierende Töchter größer wird.14 Das heißt aber nicht, dass diese Studentinnen den Druck an „unbedeckte“ Kommilitoninnen weitergeben. Doch selbst wenn es so wäre, müssen die nichtkemalistische Linken – und die türkischen Feministinnen – eine kritische Frage beantworten: Trauen sie sich nicht, gegen den konservativen „Gruppendruck“ für emanzipatorische Ideen einzutreten, wenn der Schutz durch kemalistische Verbote entfällt?
Dass die aktuelle Verfassungsdebatte auf die Kopftuchfrage und das Prinzip des Säkularismus fixiert ist, liegt nicht nur an den harten Kemalisten, sondern auch an der Regierung. Die AKP hat es versäumt, die historische Bedeutung dieser Debatte bewusst zu machen. Die türkische Gesellschaft berät über die Grundzüge einer Verfassung, die auch – aber nicht nur – im Hinblick auf eine EU-Mitgliedschaft eine postkemalistische sein muss.15 Dabei geht es vor allem um drei Fragenkomplexe: Zum einen, wie man das Militär der zivilen Kontrolle unterwerfen und zugleich den „tiefen Staat“ abschaffen kann. Zweitens, wie das Verhältnis von Staat und Individuum aussehen soll. Und drittens, wie eine Verfassung der ethnisch-religiös-kulturellen Pluralität der Bevölkerung Rechnung tragen kann.
Die Verfassung von 1982 betont die „absolute Suprematie“ des Willens einer als homogen vorausgesetzten Nation. Die Grundrechte der Bürger sind also lediglich vom Staat gewährt, dessen Souveränität über das Volk durch die Wächterrolle des kemalistischen Militärs garantiert wird. Der Unterschied zu einer demokratischen Verfassung ist offensichtlich. Der stellvertretende AKP-Vorsitzender Mehmet Firat hat ihn schön formuliert: „Während die aktuelle Verfassung durchgesetzt wurde, um den Staat vor dem Volk zu schützen, hat die neue Verfassung zum Ziel, das Individuum vor dem Staat zu schützen.“
Das Zitat stammt aus einer Rede vor den Botschaftern der EU-Länder in Ankara.16 Die Frage ist nur, ob die AKP das genannte Ziel realisieren kann und will. Türkische Beobachter sind skeptisch. Der Jurist Dogu Ergil nennt dafür zwei Gründe. Unter der „permanenten Aufsicht der Bürokratie und speziell des Militärs“ fühle sich die Regierung nicht stark genug, „das System zu entmilitarisieren und zu liberalisieren“. Vor allem aber sei die AKP selbst nicht immun gegen die „nationalistische und autoritäre politische Kultur, in der sie groß geworden ist“.17
Wie die Pläne der Regierung aussehen, kann am besten Ergen Özbudun einschätzen. Der Professor für Verfassungsrecht und Politik leitete die Kommission, die für die AKP einen neuen Verfassungsentwurf erarbeitet hat. Der Akademiker ist jeder islamischen Neigung unverdächtig: 2001 vertrat er die türkische Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), um das Verbot der islamistischen Refah-Partei zu begründen, in der Erdogan und Gül ihre politische Karriere begannen. Özbudun billigt Erdogan zu, dass er seine Haltung geändert hat. Für ihn ist die heutige AKP eine konservative Partei mit glaubwürdiger Orientierung auf die Europäische Union und deren „Kopenhagener Kriterien“. Eine islamistische „hidden agenda“ hält er für ein Hirngespinst der Kemalisten.
Der Verfassungsentwurf, den das Juristengremium unter seiner Leitung erarbeitet hat, orientiert sich an Geist und Buchstaben der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Urteile des EGMR. Das gilt für die Definition der Meinungs- und Redefreiheit ebenso wie für den Vorrang des humanitären Völkerrechts, der in der neuen Verfassung festgeschrieben werden soll. Wichtig ist Özbudun auch, dass Urteile der Militärgerichte von zivilen Gerichten überprüft werden können. Auch schlägt er einen wichtigen Schritt zur Lösung des Kurdenproblems vor: Wenn Türkisch als „Amtssprache“ – statt als „die Sprache“ der Republik – definiert wird, entsteht ein legaler Raum für andere, „nicht amtliche“ Sprachen.
Was das Verhältnis von Staat und Religion betrifft, so soll der 1982 eingeführte Religionsunterricht nicht mehr Pflichtfach, sondern nur noch freiwillig sein. Auch soll im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention das Recht auf Wechsel der Religion in der Verfassung stehen.
Zur Kopftuchfrage hat Özbudun eine klare Meinung. Das Kopftuchverbot an Universitäten beruhe auf einem „verzerrten Begriff von säkularem Staat“ und sei eine glatte Verletzung der Menschenrechte. Als Verfassungstext schlägt er allerdings eine ziemlich verwinkelte Formulierung vor: Jede Diskriminierung aufgrund der Kleidung soll verboten sein, „so weit dies nicht den Prinzipien und Reformen Atatürks widerspricht“. Diese Einschränkung hält der Jurist für unbedenklich, denn die Reformen Atatürks betrafen ja nur die männliche, nicht aber die weibliche Kopfbedeckung.
Hier wird deutlich, wie vorsichtig sich die Özbudun-Kommission im Porzellanladen der kemalistischen Tabus bewegt. Und dennoch wird die Erdogan-Regierung den Kommissionsentwurfs kaum in allen Details übernehmen. Die AKP will noch dieses Jahr einen überarbeiteten Verfassungsentwurf ins Parlament einbringen. Der soll im Sommer 2008 beschlossen und anschließend einem Plebiszit unterworfen werden.
Aber schon jetzt ist klar, dass es in der AKP Widerstand gibt. Professor Ali Bardakoglu, der Leiter des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (DIB), will am obligatorischen Religionsunterricht festhalten. Seine Begründung: Bei lediglich freiwilligen Kursen würden sich „die Divergenzen unter den Schülern“ verstärken.18 Der Theologe meint also: Wenn das Monopol der sunnitischen Mehrheitslehre fällt, ist die Homogenität bedroht! Die Angst vor plurale Identitäten ist offensichtlich dieselbe wie bei den Kemalisten.
Der Verfassungsdiskurs, den die AKP nach ihrem Wahlsieg angestoßen hat, verläuft komplexer, als die Polarisierung zwischen dem geschwächtem kemalistischem Machtblock und dem gestärktem Regierungslager vermuten lässt. In dieser Debatte artikuliert sich eine dritte Position, die Kemalisten wie AKP kritisiert. Ihre Vertreter fordern nicht nur eine konsequentere Demokratisierung, sondern auch die Bereitschaft, den religiösen Pluralismus wie die ethnische Vielfalt der Türkei rechtlich abzusichern. Das bedeutet, die Diskriminierung der nichtsunnitischen Muslime und der anderen Religionen ebenso zu überwinden wie die Diskriminierung der Kurden.
Viele unabhängige Intellektuelle, die Erdogan und die AKP gegen das kemalistische Establishment unterstützt und verteidigt haben, beobachten die Regierung heute genauer und mit einigem Misstrauen. So kritisiert Sahin Alpay, respektierter Kolumnist der regierungsnahen Zeitung Zaman, das Verhältnis der AKP zu den Alewiten, die auch im Juli mehrheitlich die kemalistische CHP gewählt haben, weil sie Erdogan als Führer einer sunnitischen Partei sehen. Für Alpay ist ein „demokratischer Laizismus“ erst dann erreicht, wenn die neue Verfassung die Gleichberechtigung der Alewiten garantiert. Dies gegenüber der sunnitischen Mehrheit durchzusetzen, sei Erdogans entscheidende „demokratische Mission“.
Eine noch radikalere Verfassungsvision formuliert der engagierte Rechtsanwalt Ümit Kardas. Seine Skepsis gegenüber den kemalistischen Militärs beruht auf den Erfahrungen, die er als Militärstaatsanwalt nach dem Putsch der Generäle von 1980 in Diyarbakir gemacht hat. Damals war er über die Repression der kurdischen Bevölkerung so entsetzt, dass er seinen Dienst quittierte. Seitdem hat er sich immer wieder mit den Generälen angelegt. Zurzeit vertritt Kardas eine Klage gegen die Oyak, einem aus dem Pensionsfond der Militärs entstandenen Riesenkonzern, der das ökonomische Rückgrat der türkischen Offizierskaste darstellt.19
Ümit Kardas fordert einen Laizismus nach europäischem Vorbild. Die Religionsbehörde DIB will er ganz abschaffen und mit ihr die Kontrolle des Staates über die Religionsgemeinschaften, die sich nicht mehr aus Steuergeldern, sondern nur noch über Spenden und Stiftungen finanzieren sollen. Diese Stiftungen sollen vor Eingriffen des Staats geschützt sein, egal ob sie Muslime, Christen oder andere Religionen repräsentieren.
Im Grunde entwirft Kardas das Gerüst für ein postkemalistisches Grundgesetz, denn die Verfassung von 1982 ist für ihn ein „irreparables Instrument“, ihre Präambel Ausdruck einer überholten Epoche, in der sich die Armee ihre Nation zurechtdefiniert habe.20 Der Einfluss des Militärs auf die Gesellschaft soll durch die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes begrenzt werden, was das Recht auf Wehrdienstverweigerung impliziert. Militär und Polizei sollen nicht nur der zivilen, also parlamentarischen Kontrolle unterworfen, sondern auch nach zivilen, staatsbürgerlichen Prinzipien ausgebildet werden. Damit sie endlich aufhören, wie die beiden „Fäuste des Staates“ zu funktionieren, die den Bürgern drohen oder auch zuschlagen.
Solche Verfassungsreformen würden die Militärs allerdings noch viel stärker provozieren als die Aufhebung des Kopftuchverbots. Deshalb ist Kardas klar, dass die Erdogan-Regierung ein derart radikales Programm niemals vorschlagen wird. Er fragt sich allerdings, ob die Haltung der AKP nur von taktischer Vorsicht gegenüber dem kemalistischen Machtblock geprägt ist oder auch den autoritären Neigungen entspringt, die Erdogan schon etliche Male erkennen ließ. Zum Beispiel mit Beleidigungsklagen gegen Karikaturisten, die in Ausübung ihres Berufs die Schwächen des Ministerpräsidenten aufs Korn nahmen.
Fragt man Demokraten wie Ümit Kardas, welche politischen Kräfte in der Türkei eine postkemalistische Verfassung durchsetzen können, zuckt er so resigniert mit den Schultern wie die meisten Intellektuellen. Eine autonome postkemalistische Linke sei zwar notwendig, aber nirgends zu sehen. Bei den Wahlen im Juli hatte man gehofft, mit unabhängigen Kandidaten einige Parlamentssitze erringen zu können. Aber nicht einmal in Istanbul konnte sich der Kandidat der Linken durchsetzen, da die Kurdenpartei DTP im letzten Moment einen eigenen Kandidaten aufstellte. Mit dem Resultat, das es beide nicht ins Parlament schafften.
Dabei sind die gesellschaftlichen Probleme und Spannungen offensichtlich, die einer linken Partei die Wähler zutreiben müssten: Die AKP betreibt eine fast ungetrübt neoliberale Politik, die von der Weltbank vorgegeben ist. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer krasser, mehr als sporadische Ansätze zu einer Sozialpolitik sind nicht zu sehen. Viele Familien sind hoch verschuldet. Und die ökonomische Stabilität, der Erdogan seinen Wahlsieg verdankt, beruht auf dem kontinuierlichen Zufluss ausländischen Kapitals, das in Krisenzeiten höchst volatil reagiert. Von einer Krise würden im Übrigen – angesichts der nationalistischen Grundstimmung, die durch die Kurdenkrise erneut angeheizt wurde – nur die nationalistische MHP profitieren – und natürlich die Militärs und der „tiefe Staat“.
Im Zuge der Mobilisierung der türkischen Armee an der Grenze zum Irak haben Militärstaatsanwälte ein Verfahren gegen acht Soldaten eingeleitet, die am 21. Oktober von der PKK in den Nordirak entführt und später wieder freigelassen wurden. Die Anklage lautet auf „Pflichtverletzung“, weil sie mit ihren Entführern „in nordirakische Terroristenlager mitgegangen“ seien.
Aber auch die AKP bedient die durch den Kurdenkonflikt angeheizte Volksstimmung. So verkündete der gewichtige AKP-Politiker Bülent Arinc, die Geschichte kenne „keine türkischen Soldaten, die sich dem Feind ergeben“. Damit bekräftigt auch er die Märtyrerideologie der Armee, die das Sterben für die Nation als oberste Bürgerpflicht propagiert.21 In solchem Denken ist kein Raum für eine Verfassung, die den Bürger vor dem Staat schützen will.