Enthauptete Gipfel
Der Kohleabbau in den Bergen von West Virginia vergiftet ganze Landstriche von Maxime Robin
Am Nachmittag des 5. April 2010 raste ein mächtiger Feuerball durch die Stollen des Upper-Big-Branch-Bergwerks im Coal River Valley in West Virginia. Dutzende Bergleute waren eingeschlossen. Während CNN seine Übertragungswagen an den Unglücksort schickte, hielt Präsident Obama eine Fernsehansprache. Das enge Tal mit seinen fast verlassenen Dörfern, wo das Leitungswasser nach Diesel riecht, stand plötzlich im Zentrum des Medieninteresses in den USA. Nach einigen Tagen war die makabre Spannung vorbei. 29 Menschen kamen bei dem Unglück ums Leben.
Zur Erinnerung an die getöteten Bergleute wurden zwei Denkmäler errichtet. Das eine besteht aus einer großen Granitplatte, in die 29 lebensgroße Silhouetten von Bergleuten eingraviert sind, die sich freundschaftlich umarmen. Es wurde von der Kohleindustrie in Auftrag gegeben und ist „allen verletzten, kranken oder bei der Arbeit getöteten Bergleuten“ gewidmet. Das andere Denkmal ist weniger pompös und liegt direkt am Unglücksort: 29 Helme mit ebenso vielen Blumenkränzen. Auf den Boden hat jemand mit Kreide geschrieben: „Gott segne die Kohle“.
Am 20. November 2014, viereinhalb Jahre nach der Explosion im Upper Big Branch, erschien Don Blankenship, von 1989 bis 2010 Chef von Massey Energy, der größten Bergbaugesellschaft der Appalachen, zur ersten Anhörung für seinen Prozess vor dem Strafgericht in Beckley. Laut einer Untersuchung der Bundesermittler hat Blankenship die Sicherheit zugunsten der Profitmaximierung vernachlässigt und ist damit direkt für die Tragödie verantwortlich.1
Um Geld zu sparen, wurden die Stollen des Bergwerks nicht belüftet. Für unangemeldete Kontrollbesuche der Bergaufsicht gab es genaue Anweisungen, wie die Sicherheitsverstöße verschleiert werden sollten. Dem Untersuchungsbericht zufolge gab der Wächter am Eingang den Vorarbeitern über Tage ein Warnsignal. Die Bergleute unten wurden dann per Telefon verständigt. Sie stellten die Förderung ein und bastelten in aller Eile ein Pseudoventilatorensystem zusammen. „Wir hatten eineinviertel Stunden Zeit, um alles regelkonform zu machen“, erklärte ein ehemaliger Bergarbeiter am 27. Mai 2010 im freien Radiosender NPR.
Der eigentliche Prozess begann am 26. Januar 2015. Opferanwalt Bruce Stanley erklärte, der Tag sei ein historisches Datum für die USA: Zum ersten Mal steht der Chef eines großen Bergbauunternehmens vor einem US-Strafgericht.2 Die Richter setzten die Kaution auf 5 Millionen Dollar fest, die Blankenship bar bezahlte. „Für den ist das doch Taschengeld“, meint Mike Roselle, ein Anwohner aus Rock Creek, der zum Prozessauftakt gekommen ist.
Im Gerichtssaal betrachten die Familien der Opfer schweigend den „finsteren Bergkönig“, wie ihn die Presse bezeichnet. Für die meisten ist es das erste Zusammentreffen mit dem schnauzbärtigen Mann, der über ihr Schicksal bestimmt hat. Blankenship hat eine steile Karriere hinter sich und hält die US-Gesellschaft für einen Dschungel, in dem nur die Stärksten überleben. Und wer der Stärkste sein will, darf keine Hemmungen haben, die Regeln zu brechen.
In den 24 Monaten vor dem Unglück wurden in den Massey-Bergwerken 835 Regelverstöße (gegen die Sicherheitsvorschriften, das Arbeitsrecht und so weiter) verzeichnet. Die häufigsten Mängel traten bei der Lüftung der Stollen und bei der routinemäßigen Wasserbedüsung der Schrämmaschinen auf, die eine Überhitzung und Funkenschlag verhindern soll. Auf Blankenships Schreibtisch stapelten sich zwar die Anzeigen, aber die Behörden setzten niemals wirksame Maßnahmen gegen die Firma durch. Die – wenn überhaupt – verhängten Bußgelder sind nie hoch genug, um die Konzerne von ihren illegalen Praktiken abzubringen, zumal viele einfach nicht zahlen: Die Bundesinspektoren sind offenbar weder willens noch in der Lage, die Strafzahlungen bei den Firmen einzutreiben.3
In der Geschichte von Massey Energy gibt es zahlreiche Umweltskandale. Der bislang bekannteste war das Leck im Bergwerk von Martin County im Osten Kentuckys im Oktober 2000. Bei dem Unfall trat dreißigmal mehr chemikalienverseuchter Kohleschlamm aus als Öl aus dem Frachter „Exxon Valdez“, der 1989 vor der Küste Alaskas havarierte. Der Schlamm verteilte sich über mehrere hundert Flusskilometer und verseuchte das Trinkwasser von 27 000 Anwohnern. Massey Energy musste schließlich 46 Millionen Dollar für die Reinigung des Gebiets zahlen.4
Gewöhnlich zog sich Don Blankenship billiger aus der Affäre, da er gute Beziehungen zu hohen Justizbeamten und Politikern hatte. 2009 publizierte eine Zeitung Ferienfotos von ihm in Monaco – gemeinsam mit einem der fünf Richter des obersten Gerichtshofs von West Virginia. Zu dem Zeitpunkt war dort gerade eine Berufungsklage gegen seine Firma anhängig, die später mit drei zu zwei Stimmen abgelehnt wurde.
Schlammlawinen und Strafen Gottes
Bis zum Grubenunglück in Upper Big Branch war Blankenship stets straffrei davongekommen. Doch dann wurde er für seine einstigen Bündnispartner in der Politik zur Belastung. Jay Rockefeller, der von 1985 bis 2015 für West Virginia im Washingtoner Senat saß, ließ ihn nach vielen Jahren der Unterstützung fallen: „In seinem Prozess wird Blankenship sicher viel besser behandelt, als er jemals seine Mitarbeiter behandelt hat, und ganz ehrlich, er verdient es nicht“, erklärte die graue Eminenz der Demokraten in einer Pressemitteilung eine Woche vor Prozessbeginn.
Als der Richter die Anklagepunkte gegen ihn aufzählt, wendet sich Blankenship ab und hebt die Augenbrauen, so als suche er einen Freund. Ein alter Mann, der allein auf einer Bank des Gerichtssaals sitzt, scheint darauf zu reagieren: Delbert5 , ehemaliger Vorarbeiter in Upper Big Branch, hatte am Unglückstag Urlaub und steht immer noch loyal zu seinem alten Boss. Er kennt die Opfer, „erfahrene Bergleute“, und ist seit der Explosion nicht mehr eingefahren. Er arbeitet jetzt in einem Ersatzteillager in Whitesville.
„Blankenship wird ihnen zum Fraß vorgeworfen, als Sündenbock“, murmelt Delbert, „am liebsten würden sie ihn hängen sehen.“ Für den gottesfürchtigen Bergmann sind die Produktionsbedingungen Teil des Spiels. Den Unfall betrachtet er als göttliche Strafe, für die niemand verantwortlich gemacht werden kann. „An dem Ereignis in Upper Big Branch hat niemand schuld. Es war ein Akt Gottes.“
Delbert weiß vermutlich, dass diese Formulierung an eine frühere Tragödie erinnert, bei der ein Nachbartal komplett unterging: der Dammbruch von Buffalo Creek an einem Wintermorgen im Jahr 1972. Der Damm hatte ein Absetzbecken am oberen Talende eingefasst, in dem Kohleschlamm oder „sludge“, Abfall vom Waschen der Kohle, gesammelt wurde. Der herabstürzende schwarze Giftschlamm zerstörte 16 Dörfer, 125 Menschen starben. Das zuständige Unternehmen Pittston Coal erklärte damals den Überlebenden, die Katastrophe sei gewissermaßen unvermeidbar gewesen: „Ein Akt Gottes.“ Bis heute wird der Kohleschlamm auf den Bergkämmen gelagert. Von Kentucky über West Virginia bis nach Pennsylvania hängen nach wie vor unzählige Damoklesschwerter über den Tälern.
Die Bergleute in den Stollen hatten stets einen hohen Preis zu bezahlen. 1907 zählte man in den USA 3 247 Tote, und selbst zu Beginn der 1980er Jahre forderte der Kohleabbau immer noch jedes Jahr 250 Opfer, im Jahr 1991 fast 100. Die sinkende Opferzahl erklärt sich allerdings auch durch die sinkende Zahl der Bergarbeiter. In West Virginia etwa gab es 1983 noch 41 000 Kumpel, 2012 waren es nur noch 24 000. Die Kohleförderung blieb in dieser Zeit jedoch auf demselben hohen Niveau, übertroffen nur vom Bundesstaat Wyoming.
Der Abbau unter Tage geht heute stark zurück. Stattdessen wird inzwischen das sogenannte mountain top removal (MTR) angewendet, eine Form des Tagebaus, bei der man die Bergspitzen absprengt und dann die darunter liegende Kohle fördert. Seit der Jahrtausendwende hat sich diese Methode stark verbreitet. Sie ist ergiebiger und benötigt viel weniger Personal. Mit dem MTR ist die Bergbauindustrie gewissermaßen ins letzte Stadium der Automatisierung eingetreten.
Dank des technischen Fortschritts kann diese Methode inzwischen in gigantischem Ausmaß praktiziert werden – mit dramatischen Auswirkungen auf die Umwelt. Die in West Virginia und Kentucky eingesetzte Sprengkraft entspricht zusammengenommen „einer Hiroshima-Bombe pro Woche“, flüstert Vernon Haltom auf einer Bank im Gerichtssaal von Beckley. Haltom ist Vorsitzender von Coal River Mountain Watch, einer Umweltorganisation, die sich für einen Stopp des MTRs einsetzt. Vor Schülern spricht er immer von „4 000 Tomahawk-Raketen pro Tag“, weil sie Hiroshima nicht mehr kennen.
Durch das MTR sind mindestens 500 Bergspitzen in West Virginia und Kentucky verschwunden. 3 000 Kilometer Gebirgsbäche wurden zerstört. Um die Gegend anschließend wieder zu begrünen, bringen die Unternehmen eine Mischung aus Fichtensamen, Dünger und grüner Farbe aus. Und zur Belebung der örtlichen Wirtschaft will die Industrie auf den riesigen ebenen Flächen Golfplätze anlegen, wie in Mingo County. In Kentucky plant man auf einer der platt gesprengten Bergkuppen sogar ein Bundesgefängnis. Aber die Beispiele für eine gelungene Umwandlung lassen sich an einer Hand abzählen, viele Jobs sind dadurch nicht entstanden.
Nach jeder Sprengung breitet sich unten im Tal eine Staubwolke aus. Menschen und Tiere atmen Silizium-Nanopartikel ein. An Sommertagen legt sich eine dünne Staubschicht auf Autos und Spielplätze wie nach einem Sandsturm. Das Brunnenwasser verfärbt sich, die Anwohner bekommen Kopfschmerzen oder Hautkrankheiten, und die Zähne der Kinder werden vorzeitig kariös. Langzeitstudien der West Virginia University zeigen, dass die Krebs- und Missbildungsraten rund um die Sprengungsorte 50 Prozent über dem Durchschnitt liegen.6 Schuld daran sind offenbar der Feinstaub und die Verschmutzung der Böden mit Schwermetallen wie Mangan oder Kadmium, die bei der Kohleförderung verwendet werden.
Kahlstellen, wo einst Bergspitzen waren
Ein halbes Dutzend Umweltorganisationen versucht, die mangelnde Kontrolle der Behörden auszugleichen, indem sie Verstöße aufzeichnen und die Unternehmen vor Gericht bringen. Damit ziehen sie sich den Unmut der Bewohner zu, die ihren Lebensunterhalt in der Bergbauindustrie verdienen. Die Front verläuft quer durch Familien und Dörfer, selbst Folksänger müssen sich entscheiden: Bist du für oder gegen die Kohle, für oder gegen die Arbeitsplätze? „Du magst keine Kohle? Dann mach dein Licht aus!“, liest man gelegentlich auf den Heckscheiben der Pick-ups, die durch die Täler fahren.
Die US-Amerikaner machen sich oft über die mangelnde Bildung und den Akzent der Appalachenbewohner lustig, die in einer abgelegenen Gegend wohnen und noch dazu arm sind. Man nennt sie „Hillbillies“, Hinterwäldler aus den Bergen. Im Gegenzug haben die Kumpel eine ganz eigene Mentalität entwickelt: Sie betrachten sich als hart arbeitende Menschen, für die Arbeitsunfälle und Krankheiten wie Krebs oder Staublunge zum Leben dazugehören.
Dass die Arbeitslosigkeit in den Bergbauregionen steigt, liegt vor allem an der Mechanisierung und am Erdgasboom der letzten Jahre. Das durch Fracking gewonnene Gas ist in vielen US-Bundesstaaten zur zentralen Energieressource geworden, auch in den Appalachen. Trotz sinkender Fördermengen liefert Kohle jedoch nach wie vor den größten Anteil an Strom in den USA. Nach Angaben der Energy Information Agency lag dieser 2007 bei 48,5 Prozent. Im Jahr 2012 fiel er auf 37,4 Prozent, während der Erdgasanteil von 21,5 auf 30,4 Prozent anstieg.
Die Werbespots im Fernsehen preisen einen an der Kirche und an „King Coal“ („König Kohle“) ausgerichteten Lebensstil, der durch die Bürokraten in Washington in seiner Existenz bedroht sei. Wer in diesen Regionen den Rohstoffabbau infrage stellt, ist politisch tot. Shelley Capito, Kongressabgeordnete aus West Virginia, ist Vorsitzende des Coal Caucus, wo sich die Parlamentarier versammeln, die in Washington die Interessen der Bergbauindustrie verteidigen. Sie hält die Klimaerwärmung für ein Märchen und hat eine Gesetzesinitiative zum Schutz der Kohleförderung angestoßen. Das im Juli 2014 vom US-Senat endgültig abgelehnte Gesetz hätte der Regierung jede Eingriffsmöglichkeit gegenüber der Bergbauindustrie genommen. „Unsere Bergwerke machen zu. Unsere Arbeiter werden arbeitslos, weil die Kontrollen die Produktion aufhalten. […] Unser Gesetz ist von höchster Wichtigkeit“, erklärte Capito damals. „Die Löhne der Appalachenbewohner hängen davon ab.“
Junior Walk ist in Coal Valley aufgewachsen, zwischen einem Bergwerk, einer Fabrik und einem Schlammrückhaltebecken. Er will hier wohnen bleiben, egal was passiert. Nach der Schule tat er „das Einzige, was man im Tal machen kann“: Er fing bei Massey Energy an. Walk arbeitete in der Aufbereitungsanlage, die nur fünf Minuten von seinem Haus entfernt liegt und in der auch schon sein Vater beschäftigt war. Er verdiente gut, verließ die Firma aber bereits nach sechs Monaten, weil er sah, wie sich der Gesundheitszustand seines Vaters verschlechterte. „Er hat nur zehn Jahre dort gearbeitet und sieht aus wie 70. Er muss viele Medikamente nehmen und liegt den ganzen Tag nur noch im Bett“, berichtet der 24-Jährige mit dem rötlichen Kinnbart.
Walks Haus liegt unterhalb des größten Schlammrückhaltebeckens der westlichen Welt: Brushy Fork. Um es zu besichtigen, muss man entweder einen Hubschrauber besteigen oder unerlaubterweise einen der Zugangswege der Betreiberfirma Marfolk benutzen, eines Tochterunternehmens von Massey Energy. Die Fahrt nach oben dauert mit dem Quad eine Viertelstunde. Von der anderen Seite des Gipfels aus sieht man zwischen den Bäumen einen riesigen schwarzen See, 270 Meter tief. Der Deich besteht aus dem Schutt abgesprengter Bergspitzen. Wenn Brushy Fork voll ist, wird das Becken mehr als 31 Millionen Kubikmeter Schlamm fassen – das entspricht der Ladung von 1 500 Öltankern vom Typ „Erika“.
Der giftige Schlamm sickert in alte, aufgegebene Stollen und verseucht das tiefere Grundwasser. Jahrelang klagten die Kinder der Grundschule über Erbrechen und Kopfschmerzen; weniger als 30 Meter vom Pausenhof entfernt stand außerdem ein Kohlesilo. Nach zehn Jahren Protest wurde die Schule endlich um ein paar Kilometer verlegt.
Junior Walk ist der Einzige in seiner Familie, der eine feste Arbeit hat. 2009 verschaffte ihm ein Freund einen Job als Nachtwächter bei einer der Minen. „Zwölf Stunden im Auto und nichts zu tun: Ich dachte, ich sei perfekt für den Job. Aber ich habe gesehen, was sie mit dem Berg machen. Ich fühle mich verraten und verkauft“, erzählt er. „Meine Gesundheit war nie die beste. Das lag bestimmt an dem Wasser, das ich als Kind getrunken habe. Es kam immer ganz rot aus dem Wasserhahn. Schwermetallvergiftungen entwickeln sich ganz allmählich.“ Man kann die Schwermetalle ausfiltern, aber solche Geräte kosten mehrere tausend Dollar, „das kann sich hier keiner leisten“. Walk achtet darauf, kein Leitungswasser zu trinken, „aber man muss ja auch duschen, Wäsche waschen und das Geschirr abwaschen. Manchmal nahm meine Mutter das Wasser zum Kochen. Ich wusste jedenfalls so ungefähr, was die Leute durchmachten, die in der Nähe des Tagebaus lebten, den ich bewachte.“
Der junge Mann begann sich während der Arbeitszeit als Aktivist zu betätigen. Da er keinen Laptop besaß, nahm er seinen Rechner im Auto mit, hängte ihn an ein Stromaggregat und schrieb die ganze Nacht. Als er beschloss, die Seiten zu wechseln und offizielles Mitglied von Coal River Mountain Watch zu werden, warf ihn sein Vater aus dem Haus. „Sonst hätte man ihn sofort aus der Fabrik entlassen. Er verstieß mich, um den Anschein zu wahren. Fast genauso verheerend wie die Herrschaft über die Natur ist die Herrschaft über die Leute.“
Für sein Engagement hat Walk einen hohen Preis gezahlt: Im letzten Jahr schnitt jemand die Bremsleitung seines Autos durch, und ein Bergarbeiter bedrohte ihn auf dem Parkplatz einer Tankstelle mit einer Schusswaffe. „Er sagte, ich würde seinen Kindern das Brot vom Munde stehlen.“ Seitdem liegt eine schusssichere Weste auf seinem Rücksitz.
Die Bergarbeiter von Coal River kämpfen um die letzten gut bezahlten Arbeitsplätze im Tal. Ein Berufseinsteiger verdient 60 000 Dollar im Jahr, umgerechnet über 4 000 Euro im Monat. Jede Kritik an den gängigen Fördermethoden gilt als Kriegserklärung.
Am Vorabend der gerichtlichen Anhörung von Don Blankenship findet im kleinen Dorf Morrisville eine Gemeindeversammlung zu der Erweiterung des riesigen Tagebaus Hobet statt, dem bereits 40 Quadratkilometer Berglandschaft zum Opfer gefallen sind. Sechs Vertreter von Umweltorganisationen sind gekommen, um etwa hundert Dorfbewohner und Bergleute über die Folgen der Erweiterung aufzuklären.
Die Veranstaltung in dem kleinen Festsaal der Gemeinde gerät rasch außer Kontrolle, die Teilnehmer verbünden sich gegen die Ökoaktivisten. Diane Bady von der Ohio Valley Environmental Coalition, eine kleine Frau mit runder Brille und grauen Haaren, wird als „Monster“ beschimpft, weil sie eine Studie zitiert, die den Anstieg der Krebsrate mit dem MTR in Verbindung bringt. Die Untersuchungsergebnisse werden als unwissenschaftlich abgetan oder als notwendiges Risiko betrachtet, um die Arbeitsplätze im Tal zu erhalten.
„Sie erzählen uns von Krebs und Missbildungen bei Kindern“, ruft Jerry Hager, ein Kumpel aus Alkol, ins Mikrofon. „Aber ich habe noch keine Kinder mit drei Armen in unseren Bächen schwimmen sehen. Und wenn ich Krebs kriege, ist mir das egal. Ich bin krankenversichert.“ Die Gruppendynamik funktioniert so gut, dass am Ende sogar gezielte Drohungen ausgestoßen werden: „Wir wissen, wo Sie wohnen, wir vergessen nichts!“, ruft Donnie Barker, Ehefrau eines Bergmanns. Sie wirft den Umweltorganisationen vor, Wasser aus einem Gulli entnommen zu haben, um die Studienergebnisse zu verfälschen. Nach einer knappen Stunde eskortieren bewaffnete Polizisten die Umweltschützer zurück zu ihren Autos.
Inzwischen gibt es ein Gesetzesvorhaben, das das MTR in den gesamten Vereinigten Staaten verbieten soll. „Dieses Gesetz wird bereits von 47 Senatoren in Washington unterstützt“, berichtet Halsom optimistisch. Junior Walk ist eher skeptisch: „47 ist viel zu wenig. Demokrat oder Republikaner, das ist doch nur ein Abzeichen auf der Jacke. Zu viele Politiker werden von der Industrie bezahlt. Sie schauen einfach weg.“
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Maxime Robin ist Journalist.