Rousseffs Kehrtwende
Die brasilianische Wirtschaftstageszeitung Valor Econômico schrieb am 16. Januar: „Dilma hat vor den Märkten kapituliert.“ Das Urteil fällte nicht etwa ein Linker, sondern der moderate Ökonom Luiz Gonzaga Belluzzo, bis vor Kurzem ein Berater der Rousseff-Regierung. Er zieht eine bittere Bilanz der Widersprüche, in die sich die Arbeiterpartei (PT) verstrickt hat.
Der Kurs, den die Partei seit der Wahl eingeschlagen hat, verunsichert ihre Anhänger zutiefst. Im Wahlkampf hatte sie sich als letzte Bastion gegen die Rückkehr der Neoliberalen angepriesen, doch die ersten Maßnahmen der Regierung sind wie aus einem monetaristischen Lehrbuch abgeschrieben. Bezeichnend für den Schwenk, den Dilma Rousseff vollzogen hat, ist auch die Vergabe des Finanzressorts an den Chicago-Ökonomen Joaquim Levy. Der ehemalige Vermögensverwalter bei Brasiliens zweitgrößter Bank Bradesco war, anders als sämtliche seiner Vorgänger seit 2003, niemals Mitglied der Arbeiterpartei.
Levy legte bereits vor seiner Amtsübernahme ein Sparprogramm vor, das Streichungen bei den Sozialleistungen und insbesonders bei Arbeitslosengeldern und Witwenrenten vorsieht. Die Eile wurde mit der Vordringlichkeit des Kampfs gegen „Sozialbetrug“ begründet. Trotz des deutlichen Rückgangs der Arbeitslosenquote seit 2003 – von 12,7 Prozent auf 4,8 Prozent bis Ende 2014 – sind die Leistungen der Arbeitslosenversicherung um 183 Prozent gestiegen. Doch die Erklärung für das Phänomen, das nach Levys Meinung die öffentlichen Kassen „ausbluten lässt“, ist anderswo zu suchen: Die Unternehmen stellen Arbeitslose ein, die für einen gewissen Zeitraum (zwischen drei und fünf Monaten) ihre Unterstützung weiter beziehen, so dass die Arbeitgeber keine Sozialabgaben für sie leisten müssen. Anstatt dieser wohlbekannten Praxis einen Riegel vorzuschieben, beschnitt die Regierung die Rechte aller Arbeitslosen – also auch der großen Mehrheit, die nicht betrügt.
Levy hat versprochen, in diesem Jahr einen Primärüberschuss (Haushaltsbilanz vor Abzug des Schuldendienstes) von 1,2 Prozent des BIPs zu erzielen. Das mache beträchtliche Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und Investitionen notwendig, auch in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Da auch Subventionen für staatliche Banken gestrichen werden, haben diese ihre Kreditvergabebedingungen verschärft und die Sollzinsen erhöht – zum Schaden der Wirtschaft. Am stärksten betroffen ist die Nationale Bank für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (BNDES), die bislang mit einem Kreditvolumen von mehr als 575 Milliarden Reais (etwa 162 Milliarden Euro) ein Motor der einheimischen Wirtschaft war. Zugleich wurde der Leitzins der Zentralbank bis März auf 12,75 Prozent (von 11 Prozent im Oktober 2014) angehoben. Da dieser Index auch für die Rückzahlung brasilianischer Staatspapiere gilt, steigt mit jeder Erhöhung auch die öffentliche Schuldenlast.
Diese Politik spaltet die Arbeiterpartei, die Linke insgesamt und die sozialen Bewegungen. Die Regierung Roussef hat zwar die sozialpolitische Reformagenda Lula da Silvas beibehalten, vor allem die Bindung der Löhne an die Wachstums- und Inflationsraten (weshalb sie schneller steigen als die Preise), sowie die Programme zum Kampf gegen Armut, wie die Bolsa Família.1 Aber mit dem neuen Kurs lässt Brasilien die Strategie des wirtschaftlichen und sozialen Ausgleichs der letzten zehn Jahre immer weiter hinter sich.
Als der ehemalige Metallarbeiter Lula zum Präsidenten Brasiliens aufgestiegen war, setzte er wirtschaftspolitisch vor allem auf die Stärkung des Binnenmarkts, etwa durch Schaffung neuer Arbeitsplätze mittels staatlicher Finanzierung, auf die Umverteilung des Reichtums, auf die Erweiterung der sozialen Rechte der Bürger, auf den Ausbau der öffentlichen Dienstleistungen und höhere Infrastrukturinvestitionen. Dank des günstigen internationalen Wirtschaftsklimas (und vor allem der steigenden Rohstoffnachfrage und -preise) konnte die Regierung Lula die Staatsfinanzen sanieren und zugleich umfassende Sozialprogramme auflegen, die 40 Millionen Menschen aus der Armut geholt und die Ungleichheit im Land verringert haben.
Brasilien profitierte von wachsenden Handelsbilanzüberschüssen (vor allem dank gestiegener Rohstoffexporte) und wachsenden Devisenreserven, was es erlaubte, die Inlandsschulden in die eigene Währung zu konvertieren und die Kosten seines Schuldendienstes zu reduzieren. Damit entfiel zunehmend die Notwendigkeit, ständig neues Auslandskapital anzuziehen, um das Staatsbudget auszugleichen.
Durch eine disziplinierte Haushaltspolitik und hohe Primärüberschüsse schaffte es die Regierung, die Kosten für den Schuldendienst zu senken und die öffentlichen Ausgaben und Investitionen zu steigern, was den ärmsten Bevölkerungsschichten zugutekam. Und zwar ohne dass zentrale Wirtschaftssektoren gefährdet wurden, denn das Wirtschaftsmodell, das dem Aufschwung zugrunde lag, wurde von Lula nicht angetastet. Mit anderen Worten: Die Armen hatten mehr Reis und Bohnen auf den Teller, ohne dass die Reichen auf ihren Whisky verzichten mussten.
Doch dann kam die Finanzkrise von 2008, deren Auswirkungen die Brasilianer ab 2011 schmerzhaft zu spüren bekamen: Die Rohstoffnachfrage ging zurück, die Handelsbilanz geriet aus dem Lot, die Zinsen mussten erhöht werden, um Kapital ins Land zu locken, die privaten Investitionen gingen zurück, das Wachstum schwand und die Steuereinnahmen brachen ein.
Inzwischen ist das Haushaltsdefizit auf über 4 Prozent des BIPs angestiegen – der höchste Stand seit Einführung der nationalen Haushaltsstatistik (1947). Zum ersten Mal seit 2003 fällt die Handelsbilanz negativ aus, während sie im Verlauf der ersten Amtszeit Lula da Silvas (2003–2006) einen durchschnittlichen Überschuss von 34,5 Milliarden Euro und in seiner zweiten Amtszeit (2007–2010) von 25 Milliarden Euro aufwies. 2014 sind zum ersten Mal seit 2009 auch die Steuereinnahmen gegenüber dem Vorjahr um 1,79 Prozent gesunken.
Das sind keine idealen Bedingungen, um die Erfolge der letzten zwölf Jahre fortzuschreiben. Das gilt auch für die Sozialpolitik der Arbeiterpartei, denn die wachsende Verschuldung der Haushalte bedroht die Kreditsubventionen, und die Deindustrialisierung behindert die staatlichen Bemühungen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und die Wirtschaft anzukurbeln. Was ohnehin durch den starken Real erschwert wird, der die Exporte im Verlauf der letzten Jahre erheblich verteuert hat.
Angesichts dieser Lage hätte Dilma Rousseff auf Strukturreformen setzen können, die tatsächlich mit dem Wirtschaftsmodell brechen, das auf den früheren, neoliberalen Präsidenten Cardoso (1995–2002) zurückgeht. Angesichts eines Budgets, das zu 40 Prozent vom Schuldendienst aufgefressen wird, hätte man mittels Steuererhöhungen (etwa auf Gewinne, Erbschaften, Kapitalerträge) und Zinssenkungen den Bundeshaushalt sanieren und einen neuen Industrialisierungsschub finanzieren können. Aber eine solche Politik hätte die Präsidentin sofort in Konflikt mit der Oberschicht gebracht, also mit den 20 000 Familien, die 80 Prozent der Staatspapiere halten.
Die Arbeiterpartei – eine Minderheit in der Regierung
Dilma Rousseff entschied sich bekanntlich anders. Angesichts der Horrorvorstellung von zwei Jahren Stagnation oder gar Rezession, eines Rückgangs der privaten Investitionen und der drohenden Inflation (von derzeit 6,5 Prozent) beschloss sie, erst einmal das Handtuch zu werfen. Sie schloss einen Pakt mit der Finanzindustrie und deren in- und ausländischen Gurus. Für diese Strategie hatte sich Rousseff schon einmal 2011 entschieden. Damals stieg der Leitzins der Zentralbank in acht Monaten von 9,9 auf 12,5 Prozent, was die staatlichen Investitionen halbierte. Das Wachstum ging innerhalb eines Jahres von 7,5 Prozent (2010) auf 2,73 Prozent (2011) zurück. 2014 ist es noch weiter auf 0,2 Prozent geschrumpft.
Dilma Rousseffs wirtschaftspolitische Kehrtwende hat darüber hinaus politische Gründe. In der neuen Koalitionsregierung sitzen mehr Konservative (vor allem von der Fortschrittspartei PP) und Mitglieder der Zentrumspartei PMDB. Die Arbeiterpartei (PT) stellt nur noch 13 der 39 Minister und Staatssekretäre, in der ersten Amtszeit Rousseffs waren es noch 16 gewesen. Neben dem Finanzministerium kamen der PT auch ihre traditionellen Ressorts Bildung und Entwicklung sowie Industrie und Außenhandel abhanden.
Die Zusammensetzung dieser Regierung spiegelt ein Kräfteverhältnis, das sich mit den Kongresswahlen im letzten Jahr stark verschoben hat. Zwar hatte die Linke noch nie eine Mehrheit im Nationalkongress, doch jetzt sank die Zahl der PT-Abgeordneten von 88 auf 70. Und das gesamte linke Lager verfügt in der Abgeordnetenkammer nur noch über 120 der insgesamt 513 Sitze. Das ist ein bedeutender Machtverlust, denn in Brasilien braucht die Regierung – trotz des Präsidialsystems – die Zustimmung einer Mehrheit von Senatoren und Abgeordneten für fast jedes Gesetz, das Auswirkungen auf den Haushalt oder die Staatsausgaben hat.
Die Regierung hat inzwischen noch stärker an Rückhalt verloren. Ein Grund waren die Haushaltskürzungen, durch die sich große Teile der Bevölkerung verraten fühlten. Dann wurde die Empörung noch durch einen neuen Korruptionsskandal angeheizt: Im März 2014 erfuhren die Brasilianer, dass die staatliche Ölgesellschaft Petrobras und die großen im öffentlichen Auftrag tätigen Bauunternehmen ein Geheimabkommen geschlossen hatten, um Arbeiten an verschiedenen Baustellen höher zu berechnen. Im Gegenzug flossen Bestechungsgelder an die wichtigsten Parteien – einschließlich der PT, wie die Medien genüsslich hervorhoben.
Am 15. März folgte eine halbe Million Menschen in mehr als 100 Städten einem Demonstrationsaufruf rechter Organisationen wie der Bewegung Freies Brasilien (Movimento Brasil Libre) und der Online-Rebellen (Revoltados On Line). Zentrale Forderung war eine Anklage gegen die Präsidentin.2 Zwei Tage zuvor waren die verwirrten und enttäuschten Linken auf die Straße gegangen, um gegen den Versuch eines „konstitutionellen Staatsstreichs“ der konservativen Parteien zu protestieren. Sie konnten allerdings nur sehr viel weniger Bürger mobilisieren.
Das Parlament, in dem die Konservativen über die größte Mehrheit seit Beginn der Diktatur im Jahr 1964 verfügen,3 sieht seine Rolle nun gestärkt. Es kann darauf zählen, mit Unterstützung der Medien und der Justiz die beiden wichtigsten Reformen zu blockieren, von denen die Arbeiterpartei im Wahlkampf 2014 gesprochen hatte: die Wahlrechtsreform, die Wahlkampffinanzierung durch Unternehmen untersagt4 und eine Listenwahl vorsieht, sowie die Regulierung des Mediensektors, der von einer Handvoll Familien der brasilianischen Oligarchie beherrscht wird.5
Die Regierung versucht vor allem, Zeit zu gewinnen, die Opposition zu beruhigen und die politische Agenda der großen Konzerne zu adoptieren. Die Ergebnisse dieser Strategie sind derzeit noch wenig überzeugend. Manche meinen jedoch, eine leichte Erholung der Weltwirtschaft könne das von Lula da Silva einst angestoßene Wachstum wieder in Schwung bringen.
Zahlreiche Basisorganisationen der Arbeiterpartei fordern im Verein mit sozialen Bewegungen eine Rückbesinnung der Partei auf ihr Programm und einen Politikwechsel im Sinne einer Konfrontation mit den Kapitalinteressen. Und im Bündnis mit Kräften außerhalb der Partei. Breno Altman
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Breno Altman ist Leiter der Reportagewebsite Opera Mundi (operamundi.uol.com.br).