09.04.2015

Die Reise des Kim Jong Un

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Die Reise des Kim Jong Un

von Philippe Pons

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Wladimir Putin hat Kim Jong Un zu den Feierlichkeiten am 70. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland am 9. Mai dieses Jahres eingeladen. Damit wird er wohl das erste Staatsoberhaupt sein, das Nordkoreas „Obersten Führer“ empfängt. Und auch für Kim Jong Un wird es die erste Auslandsreise sein, seit er im Dezember 2011 die Nachfolge seines Vaters angetreten hat. Bei dieser Visite wird er auch die Möglichkeit haben, andere Staats- und Regierungschefs kennenzulernen und damit sein offizielles Debüt auf der internationalen Bühne zu geben. Die Einladung Putins zeigt jedoch vor allem eines: die rasche Annäherung zwischen der Demokratischen Volksrepublik Korea und der Russischen Förderation.

Aufgrund der westlichen Sanktionen wendet sich Moskau gegenwärtig verstärkt gen Osten. Zu dieser Neuorientierung gehören sowohl die Intensivierung der Beziehungen mit China als auch die Wiederentdeckung der strategischen Bedeutung Nordkoreas für die regionalen Gleichgewichte – das Land ist ein Schnittpunkt der US-amerikanischen, chinesischen, südkoreanischen und japanischen Interessen.1 Pjöngjang wiederum geht es vor allem darum, neue Partner zu gewinnen.

Ein kurzer Rückblick: Im Juli 1945 beschlossen die USA und die UdSSR in Potsdam, die von Japan annektierte koreanische Halbinsel entlang des 38. Breitengrads in zwei Besatzungszonen aufzuteilen. Mit der Gründung zweier separater Staaten wurde diese Teilung jedoch bereits 1948 endgültig besiegelt. Im Norden etablierte sich unter der Ägide Moskaus ein Regime nach dem Vorbild der Ostblockstaaten unter Kim Il Sung; im Süden wurde ein aus dem Exil in den USA zurückgekehrter Nationalist zum Präsidenten gewählt.

Im Juni 1950 überschritten nordkoreanische Truppen mit Billigung Stalins die Grenze. Das löste eine militärische Intervention der USA aus, die aufgrund eines UN-Mandats von weiteren westlichen Streitkräften unterstützt wurden. Pjöngjang wurde vor allem von der Volksrepublik China unterstützt, die sich auch militärisch engagierte. Doch nach dem Ende des Koreakriegs säuberte die nordkoreanische „Partei der Arbeit Koreas“ ihre eigenen Reihen sowohl von Anhängern der Sowjetunion als auch von denen Chinas.

In den 1960er und 1970er Jahren nutzte das Regime die russisch-chinesische Rivalität aus und betrieb gegenüber seinen beiden sozialistischen Mentoren eine Art Schaukelpolitik, die ihm gewisse Freiräume verschaffte. Eine solche Schaukelpolitik ist heute zwar nicht mehr möglich, aber Nordkorea versucht durchaus, sich aus der politischen und wirtschaftlichen Umklammerung Chinas zu befreien und seine Unabhängigkeit vom großen Nachbarn zu wahren.

Kim Jong Un braucht also neue Partner – zumal Peking seit dem Amtsantritt von Xi Jinping keinen Hehl aus seinem Unmut über das nordkoreanische Regime macht. Deshalb hat Pjöngjang die Charmeoffensive gegenüber Russland gestartet, die erstmals im Juli 2013 sichtbar wurde. Bei den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Beendigung des Koreakriegs würdigte man nicht nur die damalige Unterstützung durch die Sowjetunion, sondern betonte auch die „generationenübergreifende“ Freundschaft zwischen beiden Ländern.

Dabei hatte Moskau nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 die privilegierten Beziehungen zwischen den Bruderländern“ kurzerhand beendet: Für russische Energielieferungen und Chemieprodukte zur Düngerherstellung verlangte man fortan Weltmarktpreise. Die aber konnte Nordkorea nicht bezahlen, was einer der Gründe für den wirtschaftlichen Niedergang und die Hungersnot Ende der 1990er Jahre war.

Unter der Führung Putins erfolgte dann um die Jahrtausendwende ein neuer Anlauf: Im Februar 2000 wurde ein neuer Freundschafts-, Nachbarschafts- und Kooperationsvertrag unterzeichnet, im Juli desselben Jahres besuchte der russische Präsident die nordkoreanische Hauptstadt. 2002 reiste Kim Jong Il zum Gegenbesuch nach Moskau, und 2011 traf er sich mit dem damaligen russischen Präsidenten Medwedjew im sibirischen Ulan-Ude.

Transsibirische Eisenbahn bis nach Südkorea

Zwei Großprojekte wurden in dieser Zeit beschlossen: eine Gaspipeline, die russisches Gas durch nordkoreanisches Gebiet nach Südkorea bringen soll, und eine Bahnverbindung zwischen der russischen Grenzstadt Chassan und der nordkoreanischen Sonderwirtschaftszone Rason.2 Das zweite Projekt ist Teil des umfassenderen Plans, die Streckenführung der Transsibirischen Eisenbahn bis nach Südkorea zu verlängern. Diese neue Verbindung würde die Lieferzeit für Waren, die derzeit noch über den Suezkanal transportiert werden, um zwei Drittel verkürzen.

Die erste Etappe des Bahnprojekts wurde bereits im September 2013 abgeschlossen: Dank Moskauer Finanzierungshilfe in Höhe von 340 Millionen Dollar konnten 54 Schienenkilometer wieder instand gesetzt werden. Seitdem kann Russland den Hafen von Rason als Containerterminal nutzen, was den Hafen von Wladiwostok etwas entlastet. Russland will außerdem in den Bergbausektor des Nachbarlands einsteigen. Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, soll fast die Hälfte des gesamten nordkoreanischen Schienennetzes – insgesamt 7 000 Kilometer – modernisiert werden.

Die vorgesehene Pipeline und die „transkoreanische“ Bahnstrecke sind nicht nur eine große finanzielle Herausforderung. Sie werfen auch komplexe Sicherheitsfragen auf, vor allem für Südkorea. Obwohl die Regierung in Seoul dem Projekt bislang nicht zugestimmt hat, scheint sie auch nicht gänzlich abgeneigt zu sein. Dafür spricht etwa, dass Vertreter des staatlichen südkoreanischen Eisenbahnunternehmens Korail im April 2014 an einer internationalen Konferenz über den eurasischen Eisenbahntransport teilgenommen haben. Inzwischen haben Korail, der Stahlproduzent Posco und die Hyundai-Reederei sogar die Hälfte der russischen Anteile des russisch-nordkoreanischen Gemeinschaftsunternehmens übernommen, das die Bahnlinie zwischen Chassan und Rason betreibt.

Als Zeichen ihres guten Willens hat die russische Regierung im April 2014 Nordkorea 90 Prozent seiner alten Schulden aus sowjetischen Zeiten erlassen, was 10,9 Milliarden Dollar ausmacht. Die verbleibenden 10 Prozent sollen für Energieprojekte in der Volksrepublik verwendet werden.

Das bislang recht überschaubare Handelsvolumen (2013 waren es 100 Millionen Dollar) könnte sich bis 2020 verzehnfachen. So hat Russland beispielsweise seit 2013 Erdöl im Wert von 36 Millionen Dollar nach Nordkorea exportiert – ein Anstieg um 58,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dabei haben Moskau und Pjöngjang vereinbart, ihre bilateralen Handelsbeziehungen in Rubel abzuwickeln, um die Abhängigkeit vom Dollar zu reduzieren.

Russland hat weder die Absicht noch die Mittel, China als wichtigsten Partner Nordkoreas abzulösen. Doch die Rückkehr auf das koreanische Spielfeld könnte durchaus geopolitische Bedeutung gewinnen, weil der Kreml damit über einen weiteren Trumpf im Konflikt mit Washington verfügt. Da Russland für eine Einigung über die nukleare Abrüstung Nordkoreas auf dem Weg des Dialogs eintritt, blockiert es in gemeinsamer Front mit China jede Resolution des UN-Sicherheitsrats, die Pjöngjang unter starken Druck setzen würde. Moskau will ebenso wie Peking das Gleichgewicht auf der koreanischen Halbinsel wahren.

Die Nordkorea-Frage gehörte bislang zu den wenigen, bei denen Russland und die USA kooperiert haben. Und auch was die atomare Entwaffnung Nordkoreas und die Unterzeichnung des Nonproliferationsabkommens betrifft, war man sich durchaus einig. Bei den Verhandlungen mit den beiden Koreas, China, Japan und den USA hat Russland die Rolle des Verteidigers von Nordkorea den Chinesen überlassen. Aber in schwierigen Situationen ist Moskau mehrfach als Mediator eingesprungen – wie 2007 bei der Affäre um die Delta Asia Bank von Macao, die von Washington beschuldigt wurde, nordkoreanisches Geld zu waschen.

Angesichts der Sanktionen der USA und der EU gegen Russland könnte Moskau allerdings versucht sein, diese „Neutralität“ aufzugeben und sich der Position Pekings anzunähern.3 Mit dem Ergebnis, dass Russland und China gemeinsam dagegen opponieren, Nordkorea durch Isolierung zur Aufgabe seines Atomprogramms zu zwingen.

Fußnoten: 1 Vgl. Michael Klare, „Kurs auf den Pazifik. Obamas Militärstrategie setzt neue Prioritäten“, Le Monde diplomatique, März 2012, und Shi Ming, „Rasseln ohne Säbel. Im Konflikt mit Japan überschätzt China seine Kräfte“, Le Monde diplomatique, Mai 2013. 2 Vgl. Patrick Maurus, „Einkaufen in Nordkorea. Unter Kim Jong Un erlebt das Land einen bescheidenen Aufschwung“, Le Monde diplomatique, Februar 2014. 3 Georgy Toloraya, „A tale of two peninsulas: How will the Crimean crisis affect Korea“, 13. März 2014: www.38north.org.

Aus dem Französischen von Richard Siegert

Philippe Pons ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 09.04.2015, von Philippe Pons