Was ist Putin?
Die Gier der russischen Elite zerfrisst das ganze Land. Das ist kein Fehler des Systems, sondern das System selbst von Tony Wood
Die Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen haben einen Tiefpunkt erreicht. Der niedrige Ölpreis und die Sanktionen, mit denen die USA und die EU auf die Krise in der Ukraine reagiert haben, verbreiten bereits düstere Stimmung in Russlands Wirtschaft. Seit Mitte 2014 ist der Wert des Rubels um gut ein Drittel gesunken. Und der Kreml hat mit seinen selbstzerstörerischen Entscheidungen alles noch schlimmer gemacht. Aber Wladimir Putin ist im Lande populärer denn je.
Eine erstaunliche Diskrepanz ist zwischen der inneren und der äußeren Reputation der russischen Regierung entstanden: zwischen der wachsenden neoimperialen Popularität zu Hause und dem Pariastatus auf internationaler Ebene. Während westliche Medien in die Rhetorik des Kalten Krieges zurückfallen, kommt eines der wenigen unabhängigen Meinungsforschungsinstitute in Russland zu dem Ergebnis, dass 85 Prozent der Bevölkerung die Annexion der Krim befürworten.1
Ob dieser Konsens stabil bleibt, wird sich in den kommenden Monaten zeigen, wenn sich Rezession und Inflation fortsetzen und der Handlungsspielraum des Regimes angesichts der internationalen Isolation weiter schrumpfen sollte. Zwar endet die Amtszeit des Präsidenten erst 2018, aber Putins Machtposition scheint heute nicht mehr so unerschütterlich zu sein wie noch vor einem Jahr. Niemand weiß, ob das System Putin durch den Druck von außen zusammenbrechen oder von innen heraus erodieren wird – oder ob keines von beidem passiert. Die Prognosen über die Zukunft des Putinismus hängen davon ab, wie man das gegenwärtige Regime einschätzt.
Seit Putins Amtsantritt vor 15 Jahren hat das System, das sich unter seiner Ägide herausgebildet hat, unterschiedliche Etiketten verpasst bekommen. Die Kremlideologen sprachen von „souveräner“ oder „gelenkter“ Demokratie.2 Wissenschaftler und Journalisten operierten mit Begriffen wie „wettbewerbsorientierter Autoritarismus“, „virtuelle“ oder „Scheindemokratie“, „Militokratie“ oder „Mafiastaat“.
Die Präsidentschaft von Medwedjew (2008 bis 2012) brachte den Begriff „Tandemokratie“ hervor. Dieses Zwischenspiel schien kurzzeitig die Chance einer Liberalisierung zu eröffnen, aber kaum hatte Putin das Präsidentenamt wieder übernommen, traten als Reaktion auf die Massenproteste im Winter 2011/2012 die autoritären Züge des Systems noch deutlicher hervor.
In all diesen Bezeichnungen kommen unterschiedliche Aspekte des Regimes zum Ausdruck: seine autoritären Tendenzen (Unterdrückung von Dissidenten, immer mehr Geheimdienstleute im Staatsapparat); die Aushöhlung demokratischer Rituale wie Wahlen; die straffe Kontrolle der Medien; die endemische Korruption und die engen Verflechtungen zwischen staatlicher Bürokratie und organisierter Kriminalität. All das ist in den Augen der meisten westlichen Beobachter neu. Der gängigen Darstellung zufolge wurde in der Jelzin-Ära (1991–1999) eine turbulente und keinesfalls vollkommene Demokratie etabliert, während unter Putin eine antidemokratische Wende eingesetzt habe, in der einige sogar eine Rückkehr zum Staatssozialismus erkennen wollen.
Tatsache ist, dass Putin von einer „Vertikalen der Macht“ gesprochen hat, die das fast anarchische Tohuwabohu der 1990er Jahre ablösen sollte. Er sorgte für eine klare Kommandostruktur, indem er die Regionalgouverneure dem Kreml unterstellte und in sämtlichen Verwaltungsstrukturen schrittweise Kader seiner Partei „Einiges Russland“ (JR) platzierte. Diese Zentralisierung der Macht schien sich auch in der Wirtschaft durchzusetzen, wo der Staat alles tat, um Schlüsselbranchen wie die Öl- und Gasindustrie wieder unter seine Kontrolle zu bringen. 2004 standen von Putin ernannte Leute an der Spitze von sieben Großkonzernen, die 40 Prozent des BIPs produzierten. In der Entstehung dieser „Kreml GmbH“ sahen viele den Beleg für eine Wende weg vom marktwirtschaftlich organisierten Kapitalismus und hin zu einer Art Staatskapitalismus.3
Bei allen Debatten über das Wesen des Regimes spielt die Figur des Präsidenten eine herausragende Rolle. In einem Land, in dem die politische Macht extrem konzentriert und zutiefst personalisiert ist, gewinnen die Vorlieben und Launen der „Ersten Person“4 – im Staat – eine überdimensionale Bedeutung. Das erklärt das Interesse für Putins Karriere: seine Jugend in Leningrad, seinen Dienst als KGB-Offizier in der DDR ab 1985, seine Tätigkeit in der Stadtverwaltung seiner Heimatstadt St. Petersburg, seinen raschen Aufstieg innerhalb der Jelzin-Regierung, der im August 1999 in seine überrasche Ernennung zum Ministerpräsidenten mündete. Seitdem beherrscht Putin unangefochten die politische Szene. Das ist für viele Beobachter so faszinierend, dass sie ihn als Ursache wie auch als Inbegriff für die Schwächen und Defizite des Landes darstellen. An Silvester 1999 verkündete Präsident Jelzin über das russische Fernsehen seinen sofortigen Rücktritt und die Ernennung von Putin zum Interimspräsidenten. Dieser Moment wird häufig als der Wendepunkt gesehen, an dem die „fieberhaften 1990er Jahre“ durch die „stabilen nuller Jahre“ abgelöst wurden – an die Stelle von Jelzins unberechenbarem Improvisieren trat die von Putin verkörperte kalte Berechnung.
Für die Freunde alles, für die Feinde das Gesetz
Ökonomisch folgte auf den postsowjetischen Zusammenbruch, der im August 1998 in der drastischen Abwertung des Rubels kulminierte, eine erste Erholung und ein auf gestiegene Ölexporte gestützter Wirtschaftsboom. In der Medienlandschaft setzte sich statt eines unsteten, pluralistischen Wildwuchses eine dumpfe Einheitsmeinung durch. Und doch gibt es zwischen dem System Jelzin und dem System Putin einige tiefere Kontinuitäten.
Politisch war die „gelenkte Demokratie“ der nuller Jahre keine Kehrtwende, sondern das Reifestadium des Jelzin-Systems. Das Problem eines zersplitterten Parlaments löste Jelzin, indem er das „Weiße Haus“ im Oktober 1993 von Panzern beschießen und die Verfassung im Sinne einer präsidentiellen Übermacht umschreiben ließ. Diese neue Verfassung wurde im Dezember durch eine manipulierte Volksabstimmung abgesegnet.
Jelzin hatte jedoch vorher die demokratische Zuständigkeit des Parlaments umgangen, als er entscheidende Gesetze, die das postsowjetische Wirtschaftssystem etablierten, per Präsidialerlass durchsetzte – speziell die von westlichen Beratern ausgearbeiteten Privatisierungsdekrete. 1995 und 1996 konnten einige wenige Oligarchen über die berüchtigten „Kredite für Aktien“-Deals in gigantischem Maßstab in die Öl- und Erzförderung einsteigen. Im Gegenzug brachten die von ihnen erworbenen Zeitungen, Radiosender und TV-Stationen antikommunistische Propaganda unters Volk. Sie trugen dazu bei, dass sich Jelzin an der Macht halten konnte, wobei auch die großzügige Finanzhilfe aus dem Westen und Wahlfälschungen eine Rolle gespielt haben. In Tschetschenien unternahm Jelzin alles, um die dortigen Unabhängigkeitsbestrebungen zu ersticken. 1994 begann er einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung, der aber erfolglos blieb, so dass Moskau 1996 dem Abzug der russischen Truppen zustimmen musste. Auf allen Ebenen setzte Putin fort, was Jelzin begonnen hatte. Im Nordkaukasus befahl er im Herbst 1999 (noch als Regierungschef) eine brutale „Antiterror-Operation“, die das Bestreben nach tschetschenischer Unabhängigkeit im Keim ersticken sollte. Am Ende setzte Putin mit Achmat Kadyrow einen kremltreuen Diktator ein.
Kaum im Präsidentenamt, nutzte Putin die autokratischen Strukturen, um die Herrschaft Moskaus über die Provinzen zu festigen. Dabei schaltete er die traditionellen regionalen Eliten aus, indem er seine Gefolgsleute an die Spitze der sieben neu gegründeten Föderationskreise (okrug) stellte. Fünf der neuen Okrug-Gouverneure waren ehemalige Militärs. Die Steuerreformen dienten dazu, die Einnahmen der Regierung in Moskau auf Kosten der Regionen zu erhöhen. Zwischen 2001 und 2008 stieg der Anteil der Zentralregierung am Steueraufkommen von 50 auf 70 Prozent. 2004 wurde die Autonomie der Regionen weiter beschnitten, als Putin die Wahl der Okrug-Gouverneure und Bürgermeister abschaffte (was 2012 zum Teil wieder rückgängig gemacht wurde).
Jelzin hatte das nationale Parlament, die Staatsduma, in seinen Befugnissen beschränkt, nachdem es 1998 im Zuge der Rubelkrise rebelliert hatte. Putin brachte die Duma vollends unter Kontrolle, indem er das Parteiensystem ausdünnte, sodass er es 2007 nur noch mit vier Parteien zu tun hatte. Davon sind „Einiges Russland“ und „Gerechtes Russland“ Geschöpfe des Kreml, während die beiden anderen – die Kommunistische und die Liberal-Demokratische Partei – keine echte Opposition darstellen. Die bescheidene Rolle der Duma brachte ihr Vorsitzender Boris Gryslow 2003 auf den Punkt: „Das Parlament ist nicht der Ort für politischen Streit.“ Als seine größte Errungenschaft feiert das Putin-System seine bjesalternativnost. Doch alles, was diese „Alternativlosigkeit“ möglich machte – die übermächtige Rolle des Präsidenten, die Umgehung aller demokratischen Kontrollen und der Einsatz gewaltsamer Methoden – entstand bereits unter Jelzin.
Deutlicher scheinen die Unterschiede zwischen den 1990er und den nuller Jahren im Bereich der Wirtschaftspolitik, zumindest auf den ersten Blick: Jelzin hat ein radikales Programm marktliberaler Reformen und umfassender Privatisierungen durchgesetzt, um das staatssozialistische System abzuschaffen, während Putin bemüht war, die Rolle des Staats wieder auszuweiten. Aber auch dieses Bild muss korrigiert werden.
Der Putinismus wurde von Anfang an durch zwei gleichzeitige Impulse gesteuert, wobei der eine neoliberalen Prinzipien entspringt und der andere im alten Staatsdirigismus wurzelt. Unter Putin wurden seit 2000 reihenweise Maßnahmen durchgesetzt, die den Einflussbereich des Privatkapitals ausweiten und keineswegs beschränken sollten. Einige Beispiele: 2001 wurde die Einkommensteuer auf pauschal 13 Prozent festgesetzt; 2002 folgte ein unternehmerfreundliches Arbeitsgesetz; 2002 und 2003 wurden Steuernachlässe für Unternehmen beschlossen; 2005 wurde der Spielraum für privatwirtschaftliche Aktivitäten in den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen und Wohnungsbau ausgeweitet und vieles mehr. Zugleich wollte die Regierung aber dem Staat die Kontrolle über die wichtigsten Ressourcen sichern – speziell über die Exportprodukte Erdöl und Gas. Die großen strategischen Wirtschaftsbereiche blieben dem Staat direkt oder indirekt unterworfen, während die übrigen Branchen, vom Bankensektor über die Bauindustrie bis zum Groß- und Einzelhandel, privaten Unternehmen überlassen wurden. In der Putin’schen Wirtschaftspolitik setzt freilich die „staatliche“ Komponente keineswegs staatliches Eigentum voraus: Große Privatunternehmen, die sich regierungskonform verhalten, werden weitgehend in Ruhe gelassen. Das gilt etwa für den sibirischen Ölgiganten Surgutneftegas – nicht aber für Yukos, den Konzern des unbotmäßigen Oligarchen Michail Chodorkowski, den Putin im Jahr 2004 zerschlagen hat.5 Und selbst staatliche Rohstoffgiganten wie Rosneft und Gazprom sind wie Privatunternehmen organisiert statt wie Staatskonzerne sowjetischen Stils, denn sie sollen in erster Linie Dividenden erwirtschaften und an die Aktionäre auszahlen, von denen der Staat nur der größte ist.
Beide Aspekte von Putins Wirtschaftspolitik – die Liberalisierung ebenso wie die staatliche Lenkung – respektieren das private Gewinnstreben und setzen insofern auf das in den 1990er Jahren etablierte kapitalistische Modell. Obwohl Putin 2000 versichert hatte, die Oligarchen würden „als Klasse aufhören zu existieren“, ist deren Zahl massiv angestiegen: In der Forbes-Liste der Milliardäre war 2000 noch kein einziger Russe vertreten, 2007 waren es schon 87 und 2014 sogar 111.
Soziale Ungleichheit ist ein konstantes Merkmal der Putin-Ära. Die in den 1990er Jahren entstandenen Einkommens- und Vermögensunterschiede haben sich in den nuller Jahren verstetigt und weiter vertieft. Das Wirtschaftsmodell ist dabei das gleiche geblieben, nur haben unter Putin andere Personengruppen profitiert. Die mächtigsten Oligarchen der Jelzin-Ära hatten ihre Vermögen vor allem im Banken- und Finanzsektor und in der Medienbranche gemacht. Aber mit der Rubelkrise 1998 verloren Leute wie Boris Beresowski, Wladimir Gusinski und Wladimir Potanin an Einfluss, und der danach einsetzende Preisanstieg für die Rohstoffe kam vor allem denen zugute, die sich in diesen Sektor eingekauft hatten. Die typischen Oligarchen der Putin-Ära sind Leute wie Wladimir Bogdanow, dessen Surgutneftegas der zweitgrößte russische Öl- und Gaskonzern ist, Alexei Mordaschow, Mehrheitseigner des Stahlkonzerns Serverstal, oder Michail Prochorow, Miteigentümer des Metallkonzerns Norilsk Nickel.6
Von diesen Oligarchen zu unterscheiden sind zum einen die „Staatsoligarchen“, also Regierungsfunktionäre, die dank ihrer Vorstandsposten bei Staatskonzernen in die Klasse der Superreichen aufgestiegen sind, und zum anderen die Mitglieder von Putins Entourage, die über Unternehmensbeteiligungen und Vermögenswerte von 10 bis 15 Prozent des russischen BIPs verfügen.7
Die Oligarchen der Jelzin-Ära haben nicht nur Staatseigentum erbeutet, sondern auch weite Bereiche des Staatsapparats privatisiert, was damals „Übernahme des Staats“ genannt wurde. Unter Putin lief es umgekehrt, weil sich Staatsfunktionäre reihenweise private Unternehmen aneigneten, sodass man von einer „Übernahme der Wirtschaft“ sprechen könnte. Beide Prozesse bedeuteten eine Verlagerung der Gleichgewichte zwischen verschiedenen Fraktionen derselben Elite.
Staat und Wirtschaft waren schon seit den frühen Jelzin-Jahren eng verzahnt. Die riesigen privaten Reichtümer gingen auf Einnahmen zurück, die letztlich aus dem staatlichen Bereich kamen, und zwar mittels Privatisierungen, Banklizenzen, Regierungsaufträgen, Steuer- und Handelsprivilegien oder Gewinnen aus Arbitragegeschäften. Aus solchen parasitären Quellen stammten die Vermögen der Oligarchen, die in den 1990er Jahren das Sagen hatten und sich dank ihrer rasch aufgehäuften Reichtümer politische Macht in einem von privaten Interessen durchsetzten Staatsapparats erkaufen konnten. 1996 beschrieb das der Oligarch Oleg Beresowski in einem Interview: „Meiner Meinung nach gehören Macht und Kapital im Allgemeinen untrennbar zusammen. Was vorteilhaft für das Kapital ist, ist selbstverständlich vorteilhaft für das ganze Land.“
Unter Putin wirkten die Einflüsse zwischen Regierung und Wirtschaft in umgekehrter Richtung. Er setzte neue Regeln, an die sich die Oligarchen zu halten hatten, und beförderte mehrere seiner Hauptverbündeten an die Spitze von Staatskonzernen. Aber die Grenze zwischen den beiden Sphären blieb durchlässig, und für beide galten weiterhin dieselben Zielvorgaben. „Ich sehe mich nicht getrennt vom Staat“, bekannte 2008 Oleg Deripaska, der Mann an der Spitze des weltgrößten Aluminiumproduzenten Rusal.
Bei einer solchen Verschmelzung von Profit und Macht ist die Empörung über Angriffe der Regierung gegen Privatunternehmen – wie sie im Westen 2003 nach der Verhaftung von Chodorkowski aufkam – im Grunde völlig unsinnig. Denn bei allen Konflikten zwischen der Regierung und einzelnen Kapitalisten, die wir seit dem Ende der Sowjetunion erleben, ging es um die Frage, wem bestimmte Vermögenswerte zufallen sollen, und nicht etwa um das Profitprinzip als solches. Das Jelzin-System wurde erfunden, um dieses Prinzip durchzusetzen, das Putin-System wurde errichtet, um es zu bewahren. Und das Resultat ist das Regime, das wir heute haben.
Im Dezember 2010 sickerten Informationen durch, Putin lasse sich an der Schwarzmeerküste bei Sotschi ein 74-Hektar-Anwesen bauen, mit pseudo-neoklassischem Palazzo, Amphitheater, Sportanlagen und drei Hubschrauberlandeplätzen – skandalös, aber keine Überraschung. Auf Blogs und über Twitter waren bereits mehrfach Luftaufnahmen von riesigen Villen aufgetaucht, die Regierungsmitgliedern und gut vernetzten biznesmeny gehören. So wird dem Gazprom-Chef Alexei Miller ein 30 Hektar großes Anwesen in der Nähe von Moskau zugeschrieben, das der Volksmund „Millerhof“ nennt. Das Besondere an dem Sotschi-Fall war also nicht, dass Regierende so enorme Reichtümer zusammenraffen, sondern dass ein Whistleblower aus dem Inneren der Elite die Existenz von „Putins Palast“ enthüllte.
Die erklärte Putin-Gegnerin Masha Gessen behauptet, dass das „ganze Gebäude auf diesem einen Mann“ ruhe, dessen pathologische Züge angeblich das ganze System prägen. Und Karen Dawisha sieht in Putin die zentrale Figur eines „kleptokratischen Tributsystems“, dem der Präsident und seine engsten Freunde ihre gigantischen illegalen Vermögenswerte verdanken.8
Kein Zweifel, die Gier der russischen Elite ist unstillbar, und sie zerfrisst das ganze Land. Die Korruption bringt immer neue Metastasen hervor, die sich in fast allen Lebensbereichen ausbreiten. Staatsbedienstete aller Ebenen pressen der Bevölkerung illegale Zahlungen ab, von den kleinen Summen, die der Verkehrspolizist verlangt, bis zu monatlichen Zahlungen von 1 000 Dollar, die Inspektoren der Gesundheits- oder der Brandschutzaufsicht kleinen Geschäftsleuten „auferlegen“. Bei politischer Korruption sind ganz andere Summen im Spiel: Mitte der nuller Jahre soll eine Gesetzesänderung rund 200 000 Dollar gekostet haben, für ein eigenes maßgeschneidertes Gesetz war eine halbe Million fällig. Nach Untersuchungen der Indem-Stiftung9 stieg die Summe der von Unternehmen gezahlten Bestechungsgelder zwischen 2001 und 2005 von 34 Milliarden auf 318 Milliarden Dollar – 2005 war das ein Sechstel des damaligen BIPs.
Die Allgegenwart der Korruption zeigt sich auch darin, dass die entsprechenden Wörter in den alltäglichen Sprachgebrauch eingewandert sind. Die meisten Russen können mühelos den Unterschied zwischen raspil, otkat und wsnos erklären. Raspil („absägen“) steht für Einnahmen aus betrügerischen Abmachungen mit dem Staat; otkat sind Schmiergelder und wsnos regelmäßige Barzahlungen. Smotriatschije („Beobachter“) nennt man Staatsbedienstete, die ein waches Auge auf bestimmte Geschäftsbereiche geworfen haben, die poljany („Felder“), was an die alte Praxis des kormlenie („Füttern“) erinnert, also an die notorische Selbstbereicherung der zaristischen Beamten zulasten der ortsansässigen Bevölkerung.
Die Korruption ist so weit verbreitet, dass ihre Ursachen nicht ausschließlich bei Putin und seiner Umgebung liegen können. Man sollte die Schuld nicht bei einzelnen Kleptokraten suchen, sondern die Elite als Ganze betrachten und die Mechanismen untersuchen, die ihr die beschriebene Selbstbereicherung ermöglichen. Das versucht Alena Ledeneva, die für ein Buch Interviews mit 42 Apparatschiks und biznesmeny geführt hat.10 Sie alle bezeichnen die Regierungsform des heutigen Russland schlicht als sistema. Und dieses System umfasst praktisch alles, was die Elite beschäftigt, vom kleinen Kompromiss bis zum großen Raubzug, von wichtigen Staatsdingen bis zum Austausch persönlicher Gefälligkeiten. Auch die sogenannte manuelle Kontrolle fällt unter diesen Begriff: etwa wenn der Kreml unter Umgehung der institutionellen Hierarchien ein bestimmtes Gerichtsurteil durchsetzt; oder wenn die Elite sich bestimmte Privilegien wie die migalki verschafft, also jene Blaulichter auf ihren Limousinen, die sie einschalten, um sich durch den Moskauer Verkehr zu pflügen.
Entscheidend für das Funktionieren des „Systems“ ist aber vor allem die Verbindung aus formellen Regeln und informellen Praktiken, die es den Mitgliedern der Elite ermöglicht, offizielle Ressourcen zu privaten Zwecken zu nutzen (und umgekehrt). Zum Beispiel können Staatsfunktionäre auf ganz legale Instrumente zurückgreifen (Steuerprüfungen, Insolvenzregeln, formelle Eigentumsübertragungen), um sich Unternehmen, Banken oder Ölfelder anzueignen. Selbst bei ihren kriminellen Machenschaften verhält sich die russische Elite also strikt legalistisch, ganz nach dem Motto: „Für unsere Freunde geben wir alles, für unsere Feinde gibt es das Gesetz.“
Konglomerat korrupter Netzwerke
Die Verwischung der Grenzen zwischen formeller und informeller Autorität ist auch an den Seilschaften zwischen einzelnen Mitgliedern der Eliten erkennbar. Die russische Elite wird oft als eine Ansammlung rivalisierender Clans beschrieben – es gibt „die Petersburger Anwälte“, „die Tschekisten“ (ehemalige KGBler) oder „Silowiki“ (Geheimdienstler und Militärs, die unter Jelzin und Putin in bedeutende politische Positionen kamen). Aber die Grenzen zwischen diesen Fraktionen sind fließend und subjektiv. In den unterschiedlichen Analysen können dieselben Leute durchaus in verschiedenen Gruppen auftauchen. Beschreibungen wie „Putins Planeten“ oder „die Kreml-Türme“ (in Erinnerung an die Zarenherrschaft) oder „ständiges Politbüro“ sind suggestiv, aber doch zu schematisch.
Wahr ist wohl, dass es sich bei der russischen Elite um ein Konglomerat aus ganz verschiedenartigen Netzwerken handelt. Putins engste Mitarbeiter sind mit ihm durch persönliche Beziehungen verbunden. Zum innersten Zirkel gehören vor allem ehemalige Kollegen aus seiner KGB-Zeit und aus den frühen 1990er Jahren in St. Petersburg: zum Beispiel Sergei Iwanow, der Stabschef des Präsidentenamts, Wiktor Iwanow, Chef der Drogenbekämpfungsbehörde, und Nikolai Patruschew, Putins Nachfolger an der Spitze des Geheimdienstes FSB und derzeit Vorsitzender des russischen Sicherheitsrats.
Zu einer zweiten Gruppe hat Putin weniger enge persönliche Beziehungen. Zu seinen „nützlichen Freunden“ zählen die Mitglieder der Datschen-Kooperative Osero, die Putin mit sieben anderen 1996 gegründet hat, und seine alten Judopartner Gennadi Timtschenko sowie Boris und Arkadi Rotenberg. Timtschenko ist Mitgründer der Firma Gunvor, die sich schnell von einer Klitsche zum viertgrößten Ölhandelskonzern der Welt entwickelt hat; die milliardenschweren Rotenberg-Brüder sind Banker, die unter anderem lukrative Bauaufträge für die Olympischen Spiele von Sotschi erhielten. Alle drei stehen auf der ersten von den USA beschlossenen Sanktionsliste.All diese mit Putin verbandelten Leute stehen ihrerseits im Zentrum ihrer eigenen privaten und beruflichen Netzwerke, die weitere Freunde, Partner und Verwandte umfassen. Dmitri Patruschew, der Sohn von Nikolai, ist Chef der russischen Landwirtschaftsbank; Putins Cousin Igor war Vizepräsident der Master Bank und steht heute an der Spitze eines obskuren Fonds für die „Förderung und Entwicklung der Industrie in den Regionen“; ein Neffe des Präsidenten namens Michail sitzt im Aufsichtsrat des Versicherungskonzerns Sogaz. Andrei Fursenko, ehemals Erziehungsminister und heute Berater im Präsidentenamt, ist der Bruder von Sergei Fursenko, der ebenfalls zu Putins Datscha-Kooperative gehört und heute Direktor einer Gazprom-Tochter ist.
Die russische Elite ist also weniger eine Ansammlung von Clans oder eine große Clique, sondern ein Geflecht von Bündnissen und Interessengruppen, das sich über das ganze Land erstreckt, ein Netz von Linien, die sich von der „Vertikale der Macht“ aus vielfach und in alle Richtungen verzweigen.
Hinter der westlichen Sanktionspolitik steht hingegen die Vorstellung von Putin als der zentralen Figur einer „Kleptokratie“ oder irgendwelcher „finsteren Machenschaften“. Sie pickt sich einzelne Individuen heraus und bestraft sie für die Raffgier des Regimes – sie meint, durch die Bestrafung bestimmter Personengruppen das Regime insgesamt treffen und disziplinieren zu können.
Man will uns glauben machen, Putin und seine Umgebung seien eine einsame Klasse von Betrügern – als wäre die übrige russische Elite nicht von denselben Motiven angetrieben und in denselben Instrumenten und Methoden geübt. Darüber hinaus sollen wir – und das ist das viel Wichtigere – die größeren Zusammenhänge der Profitmacherei in Russland ausblenden. Die aber beruht auf den kapitalistischen Prinzipien, die in den 1990er Jahren durchgesetzt wurden – mit enormen Kosten für die Bevölkerung und unter großem Beifall des Auslands. Dieses System anzugreifen, hat der Westen jedoch keinerlei Interesse.
Der 2014 produzierte Film „Leviathan“ von Andrei Swjaginzew spielt in einer Kleinstadt auf der Halbinsel Kola. Der korrupte Bürgermeister macht einen nächtlichen Besuch bei Nikolai, dem er die Wohnlizenz entzogen hat. Sturzbetrunken lässt er sich von seinem Chauffeur vorfahren und brüllt Nikolai an: „Du solltest imstande sein, die Macht anzuerkennen.“ Daraufhin erklärt der Moskauer Anwalt, den Nikolai zu Hilfe geholt hat, der Bürgermeister habe kein Recht, in eine Privatwohnung einzudringen. Woraufhin dieser Nikolai anschreit: „Du hast keinerlei Rechte und wirst nie welche haben!“
„Leviathan“ gilt als schonungsloses Porträt von Putins Russland und dem Machtmissbrauch seiner Entourage. Der Film zeigt, wie die „Vertikale der Macht“ funktioniert, die es noch dem kleinsten lokalen Funktionär erlaubt, alle Machtmittel für seine privaten Ziele einzusetzen. Wenn jemand sich traut, der willkürlichen Obrigkeit entgegenzutreten, wird sein Leben zerstört. Die düstersten Facetten des Films sind die Fragen, die er nicht beantwortet. Warum sind Nikolai und andere Opponenten derart machtlos gegenüber einem Liliputdiktator, der nicht einmal bedrohlich wirkt? Warum ist das System, das dieser Bürgermeister repräsentiert, so mächtig?
Auf die Frage, was das System Putin zusammenhält, geben viele Beobachter eine naheliegende Antwort: Es sei Putin selbst – dank einer Kombination von autoritärem Charisma, Ölexporten, nationalistischer Demagogie, Manipulation der Medien und Wahlbetrug. Eine andere Antwort lautet, einer kriminellen, vorwiegend aus dem KGB rekrutierten Elite sei es gelungen, den Staatsapparat zu erobern und die Bevölkerung für ihren antidemokratischen Kurs zu gewinnen. Aber da wird ein Symptom fälschlich zu einer tieferen Ursache erklärt. Der Putinismus ist kein korruptes, diktatorisches System, das einer hilflosen Bevölkerung aufgezwungen wurde. Er ist vielmehr in die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Gegebenheiten des modernen Russlands eingebettet und wird von diesen ebenso geformt, wie er umgekehrt das heutige Russland formt.
Der Leviathan, von dem Swjaginzews Film handelt, ist der Staatsapparat. Ein Einzelkämpfer – wie Nikolai – legt sich mit einem umfassenderen Mechanismus an: mit dem Kapitalismus unter den postsowjetischen Bedingungen. Die Folgen der Ukrainekrise haben den Spielraum, der dem Putin-System bleibt, stark eingeschränkt. Aber selbst im Fall einer Entmachtung Putins könnte dieses System einfach den Namen wechseln, ohne dass sich in der Substanz viel ändern würde.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Tony Wood ist Redakteur der New Left Review in London.
© London Review of Books; Le Monde diplomatique, Berlin