Das blaue Pferd der Freiheit
Italien schließt die letzten Psychatrien. Eine Ortsbesichtigung in Triest von Mathilde Goanec
Verrückt soll sie machen, heißt es in Triest über die „Bora“. Jedes Jahr fegt dieser eisige Nordwind durch die Stadt, pfeift zwischen den klassizistischen Bauten auf der Piazza dell’Unità d’Italia hindurch und zaust die Baumkronen des Parco di San Giovanni. Die kleinen grünen Pavillons im Park sind die letzten Spuren der psychiatrischen Anstalt, in der jahrelang 1 200 „Verrückte“ eingesperrt gewesen waren und die der damalige Direktor Franco Basaglia Anfang der 1970er Jahre schließen ließ. Zur Feier des Tages bauten Patienten, Pfleger und Künstler damals ein riesiges blaues Pferd aus Pappmaché und schoben es gemeinsam aus dem Park. Das Pferd stand für die Rückkehr ins normale Leben. Es war der Appell für eine andere Psychiatrie.
1978 wurde das Experiment auf das ganze Land ausgeweitet. Die intellektuelle und politische Öffnung jener Zeit führte zu einem Gesetz, das die Schließung aller psychiatrischen Krankenhäuser anordnete. Es dauerte viele Jahre, bis das Gesetz vollständig umgesetzt war: Die letzte Einrichtung schloss erst Mitte der 1990er Jahre.
Das Grauen der psychiatrischen Kliniken im Italien der 1930er Jahre hat Mauro Bolognini 1975 in seinem Film „Per le antiche scale“ geschildert. Von französischen und britischen Modellen, die bereits Alternativen zum Wegsperren samt Anschnallen, eiskalten Bädern und Elektroschocks entwarfen, war man noch weit entfernt. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren noch mehr als 110 000 Personen in geschlossenen Anstalten untergebracht.
Franco Basaglia, der Initiator dieses Wandels, war eine Leitfigur der Antipsychiatrie in Europa.1 Er wurde 1924 in Venedig geboren und saß gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wegen seiner Kontakte zu einer antifaschistischen Gruppe mehrere Monate im Gefängnis. Diese Erfahrung wurde prägend für seinen Kampf gegen das Wegsperren. Er war von der Institutionenkritik Michel Foucaults und vom Antikolonialismus Frantz Fanons beeinflusst, wollte sich aber nicht der Antipsychiatrie zurechnen lassen. Um der sozialen und normativen Kontrolle der Patienten ein Ende zu setzen, genügte es ihm nicht, die psychiatrischen Kliniken infrage zu stellen. Obwohl er ähnliche Ansichten hatte wie der französische Psychiater Félix Guattari, der die „institutionelle Psychotherapie“ konzipierte, predigte Basaglia, der auch nicht viel von Psychoanalyse hielt, die Zerstörung und Überwindung der psychiatrischen „Anstalt“.
Weg mit den weißen Kitteln
Nach ersten Erfahrungen mit einer „offenen Klinik“ in Gorizia setzte Basaglia das Ende der geschlossenen Anstalt in Triest durch. Mit einigen Mühen gelang es, die Hierarchie auf den Kopf zu stellen: Die Ärzte zogen ihre weißen Kittel aus und gaben Verantwortung an die Krankenpfleger ab, die sich nicht mehr auf die bloße Funktion des Aufsehers beschränkten. Sozialarbeiter und „Fachkräfte für soziale Rehabilitation“ wurden eingestellt und Arbeitskollektive geschaffen, in denen die Patienten für ihre Tätigkeit entlohnt wurden. Das alles, um „die Krankheit in Klammern zu setzen“. Basaglia bestritt nicht die psychopathologischen Befunde, war aber überzeugt, dass „eine therapeutische Beziehung nur mit einem freien Geisteskranken möglich ist“.
Heute noch kommen Betreuer und Selbsthilfegruppen aus der ganzen Welt nach Triest, um zu verstehen, wie eine solche Psychiatrie möglich ist. Anstelle der Anstalt entwarf Basaglia, von einem geradezu visionären Regionalpräsidenten unterstützt, nach dem angelsächsischen Modell von Maxwell Jones2 Zentren für psychische Gesundheit in der Stadt. Dieses System funktioniert bis heute: Die vier Zentren von Triest mit seinen gut 200 000 Einwohnern sind rund um die Uhr geöffnet und verfügen über jeweils sechs oder sieben Betten. In ganz Italien, wo inzwischen die meisten Patienten ambulant betreut werden, gibt es derzeit durchschnittlich 9,8 Psychiatriebetten auf 100 000 Einwohner, etwa ein Zehntel im Vergleich zu Frankreich (laut Eurostat 88,2 im Zeitraum von 2000 bis 2010) – in Deutschland kommen sogar 120 Betten auf 100 000 Einwohner.
Ins Gambini-Zentrum, ganz in der Nähe der Hauptgeschäftsstraße von Triest, kommen Personen mit psychischen Problemen zur Therapie und zum Essen; um eine Fürsorgerin, einen Psychiater oder eine Psychologin zu konsultieren; um an Aktivitäten und Gesprächsgruppen teilzunehmen. Niemand bleibt hier länger als ein, zwei Wochen, und auch das nur zur Krisenintervention. Die Patienten leben so weit wie möglich zu Hause bei ihren Familien oder in nichtmedizinischen Gemeinschaften oder Wohnungen. Eine psychiatrische Notaufnahme gibt es nach wie vor im allgemeinen Krankenhaus.
Die Atmosphäre ist entspannt: Keine Tür ist verschlossen, alles ist hell, sauber, einladend. Nur acht Betten. Zwang (wie Anbinden ans Bett oder an einen Stuhl) ist verboten. Die italienischen Gesetze erlauben die Zwangsbehandlung nur in Ausnahmesituationen, als Ultima Ratio, und begrenzen sie auf maximal eine Woche. „Unserer Meinung nach macht das Krankenhaus eindeutig noch kränker“, erklärt Mario Colucci, Psychiater und Koautor eines Buchs über Basaglia.3 „Aber es kann immer eine Krise geben, zum Beispiel bei einem Schizophrenen mit einer akuten Psychose. Wenn er in die Notaufnahme kommt, muss er sofort spüren, dass das kein Gefängnis ist, dass er in diesen Wänden keinen Feind hat und bald wieder rauskommen wird. Das ist entscheidend, damit er die Behandlung annehmen kann.“ Dafür ist auch viel Arbeit zur Nachbehandlung in der häuslichen Umgebung nötig, die Integration in gemischte Werkstätten für Kranke und Gesunde sowie eine Sensibilisierung der Ordnungskräfte. Die „De-Institutionalisierung“ war mit dem Tod von Basaglia im Jahr 1980 noch nicht abgeschlossen. Heute gibt es andere Formen der sozialen Rehabilitation. Die Wirtschaftskrise und die konservative Grundstimmung in Italien erschweren die Bildung der Arbeitskollektive, die entscheidenden Pfeiler des Projekts. Das Dezernat für psychische Gesundheit experimentiert mit „individuellen Budgets“: Betroffene bekommen eine bestimmte Summe bewilligt, wenn sie sich verpflichten, eine Ausbildung zu machen oder eine berufliche oder künstlerische Tätigkeit aufzunehmen. „Ob ein Kranker zu einem Ausgeschlossenen wird, hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab: den Gesetzen, den ökonomischen und sozialen Verhältnissen, der Klassenzugehörigkeit. Basaglia hatte die politische Dimension stets im Blick, und die ist bis heute ein wesentlicher Faktor“, versichert Barsaglios Biograf Pierangelo Di Vittorio.
Therapeut für freie Patienten
Auch die Weltgesundheitsorganisation erkennt die in Triest geleistete Arbeit an. Schließlich traten bislang keine nennenswerten Probleme auf, weniger als 10 Prozent der Patienten werden zwangseingewiesen, die (in Italien ohnehin niedrige) Suizidrate hat sich zwischen 1990 und 2011 halbiert. Es gab alledings auch schon ganz andere Einschätzungen. „Viele ausländische Ärzte haben damals gesagt, Italien hätte seine Kranken im Stich gelassen“, berichtet der Medizinhistoriker Jean-Christophe Coffin. „In den 1970er Jahren behauptete zum Beispiel die radikale Linke, eine Einschränkung der Tätigkeit öffentlicher Krankenhäuser würde de facto die Rolle des Staates zurückdrängen. Das ist ein Irrtum, denn Basaglia wandte sich gegen die Anstalt, nicht gegen die Betreuung.“ Lucien Bonnafé, französischer Psychiater und aktiver Kommunist, hatte an Basaglia einiges zu kritisieren. Aber er stimmte mit ihm darin überein, dass die Organisation der Behandlung von psychisch Kranken verbessert werden und die Ausgrenzung der „Verrückten“, die oft mit den Armen gleichgesetzt würden, aufhören müsse: „Eine ähnliche Ambivalenz findet man sogar in Italien, denn Basaglia und die kommunistische Stadt Parma [wo er eine Zeit lang praktizierte] hatten ein kompliziertes Verhältnis, jedenfalls schwieriger als in Triest, wo der damalige Bürgermeister Christdemokrat war.“
Heutzutage nehmen zahlreiche italienische Gemeinden ihre Gesundheitsaufgaben aus Geldmangel oder politischer Zurückhaltung nur noch unzureichend wahr. In Mailand oder Rom sind manche psychiatrische Zentren nur ein paar Stunden am Tag geöffnet. Das treibt Patienten, die in eine psychopathologische Krise geraten, oft auf die Straße oder in die allgemeine Notaufnahme. Andere Regionen schieben ihre Kranken in Privatkliniken ab, ohne Rücksicht darauf, ob sie sich das überhaupt leisten können.
Überlebt hat auch ein dunkler Fleck, eine Erinnerung an die Anstalten der Vergangenheit: die psychiatrischen Abteilungen der Haftanstalten (Ospedale psichiatrico giudiziario, OPG). Im Maßregelvollzug für psychisch kranke Straftäter stehen die Häftlinge unter der doppelten Aufsicht von Justiz- und Gesundheitsbehörden. In den letzten sechs Einrichtungen dieser Art sind fast 800 Personen interniert. Eine 2010 eingesetzte Untersuchungskommission beschrieb die Zustände in den OPG als „selbst für ein wenig zivilisiertes Land unwürdig“. 2013 wurde ein Gesetz angenommen, das die Abschaffung der OPG vorsieht.
An ihre Stelle sollen möglichst bald „geschlossene Anstalten zur Gewährleistung von Sicherungsmaßnahmen“ treten. Die landesweite Bewegung Stop OPG begrüßt das Gesetz, warnt jedoch vor der Einrichtung vieler kleiner psychiatrischer Vollzugskliniken, die „sauber und bunt sind, aber Gefängnisse bleiben, wenn man dort rechtlose Personen aufnimmt, die ohne Prozess von der Allgemeinheit getrennt werden“. Die neuen Einrichtungen dürften, fordert Stop OPG, nicht mehr dem Justizministerium unterstellt sein und höchstens 30 Personen aufnehmen – und „Sicherungsmaßnahmen“ dürften nicht mehr unbegrenzt verlängert werden.
Um auch die OPG zu schließen, muss die Behandlung der Kranken im Mittelpunkt stehen, nicht der Wunsch, die Gesellschaft vor den „Verrückten“ zu beschützen, was früher die erste Aufgabe der Psychiatrie war. Basaglia sagte schon 1968: „Wo liegt die Verantwortung? Wenn jemand das Krankenhaus verlässt und dann von allen abgewiesen wird, von seiner Familie, seinen Freunden, dem Arbeitgeber, von einer Wirklichkeit, die ihn ausstößt, als wäre er zu viel, was kann er dann anderes tun, als sich selbst oder irgend jemanden umbringen, der für ihn die Gewalt verkörpert, die man ihm antut?“
Der in Triest geglückte Versuch löst diese Widersprüche wenigstens zum Teil: „Ich lehne es ab, eine ‚soziale Besonderheit‘ unserer Region in Betracht zu ziehen“, betont Giovanna Del Giudice, die in Triest als Psychiaterin gearbeitet hat und bei Stop OPG mitmacht. „Ich habe in Cagliari auf Sardinien gearbeitet, wo die Situation wirklich desolat war. 2004 gab es im OPG der Provinz 74 Patienten. Als ich 2009 dort wegging, waren es noch 43. Heute sind es nur noch 10. Das hat ein aufgeklärter Regionalpräsident möglich gemacht, der die Stärkung der psychischen Gesundheit in den Vordergrund gerückt hat.“
Nach Aussagen eines Abteilungsleiters im Innenministerium schätzen die Behörden, dass es nur bei 8 Prozent der internierten Personen Probleme geben würde, wenn man sie freiließe. Die offizielle Schließung der Vollzugskliniken könnte im April dieses Jahres endlich stattfinden. Das Ende der Anstalt bedeutet ein Abenteuer.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Mathilde Goanec ist Journalistin.