12.03.1999

Die Unruhen vom Oktober 1988 als Intifada gegen die eigene Regierung

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Die Unruhen vom Oktober 1988 als Intifada gegen die eigene Regierung

Von AKRAM ELLYAS *

WIR fürchten uns vor niemandem. Unsere einzigen Feinde sind die Kommunisten und die Gewerkschaften, und die haben wir im Griff. In Algerien kann es keine Intifada geben.“ Mit diesen Worten faßte im Januar 1988 ein hoher Vertreter des militärischen Geheimdienstes die innenpolitische Lage zusammen; seine Zuhörer waren Mitglieder einer palästinensischen Delegation.

Einige Monate später, am Abend des 4. Oktober, kam es zu äußerst gewaltsamen Unruhen. Die Gewalt steigerte sich am folgenden Tag und stürzte Algier und eine Reihe von anderen Städten tagelang ins Chaos. Eine solche Situation war seit der Unabhängigkeit noch nicht eingetreten. Als die Armee eingriff, um die Ordnung wiederherzustellen, gab es Hunderte Tote1 , Dutzende junge Menschen wurden nach ihrer Verhaftung gefoltert – eine traumatische Erfahrung für die ganze Gesellschaft.

Die blutigen Ereignisse blieben nicht ohne Wirkung auf die politische Landschaft. Nach 26 Jahren Alleinherrschaft des FLN wurde schließlich das Mehrparteiensystem eingeführt, es entstanden unabhängige Zeitungen, und Organisationen aller Art schossen aus dem Boden wie die Pilze. Außerdem entwickelten die westlichen Fernsehanstalten ein heftiges Interesse an Algerien. Dieses Tauwetter hielt an bis zum Januar 1992, als das Militär beschloß, die Parlamentswahlen abzubrechen, weil im ersten Wahlgang die Islamische Heilsfront (FIS) einen überwältigenden Sieg davongetragen hatte. Und damit nahm die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen den Machthabern und den Islamisten ihren Anfang.

Was die Aufstände von 1988 ausgelöst hat, ist bis heute äußerst umstritten2 , aber eines kann man festhalten: Die Ereignisse im Oktober lieferten den blutigen Beweis, daß die politischen Führer, gleich welcher Richtung, keine Ahnung hatten, was in der Bevölkerung vorging – so wie einst die französischen Kolonialherren nicht wahrnahmen, welche Veränderungen sich bei den von ihnen unterdrückten Völkern vollzogen. Als die Berater von Präsident Chadli Bendjedid beschlossen, die Menschen auf die Straße zu schicken, damit sie ihre Unterstützung für den Präsidenten zum Ausdruck brachten, erging es ihnen wie dem Zauberlehrling: In kurzer Zeit hatte die Menge, allen voran die Jugendlichen, die Straßen für sich erobert, auf der wie zufällig kaum Polizei zu sehen war – diese hatte wenige Tage zuvor die Waffen abgegeben. Und dann brach der Aufstand im ganzen Land los, mit dem Schlachtruf „Chadli – Mörder!“ attackierten die Demonstranten die Symbole der Staatsmacht.

Erst diese Revolte machte dem Regime, und vor allem den Militärs, deutlich, wie groß der Einfluß der islamistischen Bewegung in den Armenvierteln der Hauptstadt war. „Erst als die islamistischen Führer – von denen einige meiner Kollegen noch nie etwas gehört hatten – in den Moscheen zur Ruhe mahnten und diese Aufrufe gehört wurden, begriffen wir, daß wir zu einem Teil der Bevölkerung längst keine Verbindung mehr hatten“, meint ein früherer Minister. „Die damalige politische Führung erklärte, die Islamisten seien eine unbedeutende Gruppierung, und das, obwohl es seit 1986 auch eine bewaffnete Fraktion gab.“

Im Oktober 1988 ist eine Chance zur Demokratisierung vergeben worden. Präsident Chadli weigerte sich, zurückzutreten, und am 22. Dezember wurde er wiedergewählt, offiziell mit 70 Prozent der Stimmen – er war der einzige Kandidat. Heute kann man auch in Behördenkreisen die Ansicht hören, er habe damals nur 20 Prozent bekommen. „Den Militärs war klar, daß ein Riß durch die Gesellschaft ging und daß ihnen die Bevölkerung die Toten des Oktober nicht so leicht verzeihen würde“, erklärt ein Funktionär des Front des Forces Socialistes (FFS). „Sie waren wie gelähmt und konnten sich nicht entscheiden, Chadli aus dem Amt zu jagen. Damals hat Algerien den Weg eingeschlagen, der in die Gewalt führte.“

Es war der unkontrollierte Ausbruch von Gewalt, der mehr als alles andere jene Tage im Oktober geprägt hat. Ein Land, das im Verlauf von zwanzig Jahren kaum mehr als hundert Raubüberfälle erlebt hatte und in dem Schußwaffen, abgesehen von Jagdgewehren, nicht verbreitet waren, mußte nun wieder erleben, daß Menschen erschossen wurden und daß auf dem Land wie in den städtischen Ballungsräumen automatische Waffen in Umlauf kamen. „Der Oktober 1988 hat jene Gewalt, von der die Gesellschaft schon immer geprägt war, aus dem Schlummer geweckt, in den sie durch die Jahre nach der Unabhängigkeit versetzt werden konnte“, erklärt ein Soziologe. „Die Jugendlichen, die Verwüstungen in den Städten hinterließen, das Militär, das die Ordnung wiederherstellte, die Handlanger, die für die Folterungen zuständig waren, die Menschen, die die Gelegenheit nutzten, um die staatlichen Vorratslager zu plündern – sie alle gebrauchten Gewalt, eine Gewalt, die fortdauert. Es ist, als seien wir zu Formen des Umgangs zurückgekehrt, in denen allein das Prinzip der Stärke und die Ausübung von Gewalt zählen. Nach dem Oktober 1988 hätten wir uns eigentlich im Spiegel anschauen und einen Dialog beginnen müssen, um das Schlimmste zu verhüten. Aber wir haben es vorgezogen, uns Illusionen über die Demokratisierung zu machen, obwohl uns unterbewußt klar war, daß diese Ereignisse zweifellos nur ein Vorlauf waren, auf den sehr bald etwas viel Schlimmeres und Gewaltsameres folgen würde.“

Dieses Klima der latenten Gewalt hat im übrigen einige tausend Algerier veranlaßt, sich um die Wiedererlangung der französischen Staatsbürgerschaft zu bemühen. Obwohl diese Entwicklung eigentlich schon Anfang 1988 begann, gewann sie in den Tagen nach Wiedereinkehren der Ruhe deutlich an Umfang. Die französischen Konsulate, die normalerweise nur mit der Erteilung von Visa beschäftigt sind, waren völlig überfordert mit der Bearbeitung umfänglicher und problematischer Anträge auf Wiedereinbürgerung.3 „Ich wußte, daß ich die französische Staatsangehörigkeit bekommen konnte“, erklärt Ahmed, ein Lehrer, der Algerien 1992 verlassen hat. „Ich bin vor 1962 geboren, und mein Vater war bis zur Unabhängigkeit Franzose. Aber bis zum Oktober 1988 kam mir nie der Gedanke, die Wiedereinbürgerung zu beantragen, nicht einmal als 1986 mein Visum bewilligt wurde. Nach den Unruhen und dem plötzlichen und unerwarteten Aufstieg der Islamisten bekamen es meine Frau und ich dann doch mit der Angst zu tun. Wieder Franzosen zu werden war für uns eine Rückversicherung: Wir hatten damit französische Pässe und konnten damit das Land verlassen – zu einem Zeitpunkt. als alle europäischen Länder von den Algeriern ein Einreisevisum verlangten.“

Frankreich stellt sich taub

IN der gesamten algerischen Gesellschaft machte sich diese „Rückbesinnung auf Frankreich“ geltend. Der „algerische Frühling“ war nicht zuletzt die hohe Zeit der französischen Botschaft in Algier. Dort erschienen nun regelmäßig Künstler, Schriftsteller, Journalisten, aber auch Politiker und manchmal sogar Angehörige des Militärs. Die meisten wollten nur Erkundigungen wegen eines Visums einholen, andere versuchten ohne Umschweife, Einfluß auf die französische Algerienpolitik zu nehmen. „Seit dem Oktober 1988 hat Frankreich sich taub gestellt“, meint ein algerischer Diplomat. „Ab diesem Zeitpunkt begann die französischsprachige Führungsschicht sich auf die Argumentationslinie festzulegen, daß in ihrer Gesellschaft kein Nährboden für den Islamismus bestehe und daß es der FIS und ihren bewaffneten Einheiten niemals gelingen werde, das Regime ins Wanken zu bringen.“ Er sieht in dieser „Anpassungshaltung“ einen der Gründe, weshalb man in Paris auf den Sieg der FIS bei den Parlamentswahlen im Dezember 1991 überhaupt nicht vorbereitet war.

Nicht zuletzt hat der Oktober 1988 zahlreichen Mitgliedern der algerischen Führungsschicht deutlich gemacht, daß es um die Sicherheitslage weit schlechter bestellt war, als sie gedacht hatten. Offiziell wurde zwar erklärt, die Unruhen vom 5. Oktober seien „vorwiegend das Ergebnis interner Verschwörung, und nicht der Machenschaften ausländischer Kräfte“ gewesen4 , doch in privaten Äußerungen räumte man ein, daß einigen fremden Mächten diese Ereignisse Gelegenheit geboten hätten, die Abwehrkräfte und die Reaktionsfähigkeit des Landes zu prüfen. „Heute wissen wir, daß es während der Ereignisse im Oktober 1988 mehrfach zu Verletzungen unseres Luftraums gekommen ist“, berichtet ein ehemaliger hoher Offizier. „Das geschah vor allem in der Zeit, als unsere Truppen auf die Hauptstadt vorrückten. Damals waren unsere Überwachungssysteme gestört, weshalb auch die zivile Luftfahrt Startverbot hatte. Man darf auch nicht vergessen, daß die Palästinenser damals die Absicht hatten, in Algier ihren Staat auszurufen.5 Es deutete alles darauf hin, daß die Israelis Flugzeuge schicken würden, die den Ort bombardieren sollten, an dem der palästinensische Nationalrat tagen wollte.“

Aber diese Anzeichen von Gefahr wurden nicht zum Anlaß für konkrete Maßnahmen einer Neuorientierung genommen. Im Gegenteil: Die Entscheidung des Präsidenten Chadli Bendjedid, die Spionageabwehr (in der nach dem Oktober 1988 viele Führungskräfte entlassen wurden) neu zu organisieren, um sie besser kontrollieren zu können, hatte schwerwiegende Konsequenzen für die Zukunft. „Im Bereich der Geheimdienste geriet nach dem Oktober 1988 alles durcheinander“, erklärt der hochrangige Exoffizier. „Man war danach nicht immer in der Lage, den Einmischungen von außen angemessen entgegenzutreten. Das beste Beispiel sind die Auslandskontakte der FIS.“

Auch für andere gut informierte Beobachter steht außer Zweifel, daß eine Reihe von Attentaten, vor allem in den Jahren 1992 und 1993, keineswegs von den Bewaffneten Islamischen Gruppen verübt wurden. So hat die Ermordung von Spitzenkräften der Forschung, vor allem aus dem Bereich der Atomphysik, in den Medien erstaunlich wenig Beachtung gefunden, obwohl dadurch das algerische Atomprogramm erheblich zurückgeworfen wurde. „Der Oktober 1988 war wie eine Drogeninjektion“, meint ein Exilpolitiker. „Auf den ersten Schmerz folgt eine kurze, aber heftige Euphorie. Wir hatten das Gefühl, im dynamischsten Land der Welt zu leben. Aber das Ganze endete in einem Alptraum.“

dt. Edgar Peinelt

* Journalist, Algerien.

Fußnoten: 1 Laut offiziellen Angaben gab es 110 Tote, aber aus den Krankenhäusern Algeriens kamen andere Informationen: Dort nannte man die Zahl von 500 Toten und einigen tausend Verletzten. Bis heute hat kaum eine der Familien der Opfer irgendeine staatliche Wiedergutmachung erhalten. 2 Heute wird überwiegend die Ansicht vertreten, daß es damals unter den Vertrauten von Präsident Chadli Bendjedid den Plan gab, das Volk auf die Straße zu bringen, um auf diese Weise der Forderung nach politischen und wirtschaftlichen Reformen Nachdruck zu verleihen, gegen die sich der konservative Flügel des FLN sperrte. 3 Anwärter auf die doppelte Staatsbürgerschaft sind im wesentlichen die in Frankreich geborenen Algerier, die Ehegatten französischer Staatsbürger sowie alle Personen, deren Eltern in der Zeit der Kolonialherrschaft die französische Staatsangehörigkeit besaßen. 4 Siehe die Aufsatzsammlung „Octobre“, Algier (Éditions du Matis) 1998. 5 Ausgerechnet am 5. Oktober 1988 hatte der palästinensische Nationalrat in Algier den Palästinenserstaat ausrufen wollen. Die Proklamation erfolgte schließlich am 15. November 1988.

Le Monde diplomatique vom 12.03.1999, von AKRAM ELLYAS