Mohammed heißt jetzt Émile
AM 25. September 2003 beendete Frankreichs Innenminister Nicolas Sarkozy seine sicherheitspolitische „Tour de France“ vor einer Versammlung von 4 000 Polizistinnen und Polizisten. Viele Beamte aus Immigrantenfamilien werden unter seinen Zuhörern und Gesprächspartnern wohl kaum gewesen sein. Die französische Polizei, die doch als staatliche Institution gerade auch die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln sollte, tut sich schwer damit, diesem Anspruch gerecht zu werden.
Von MAURICE T. MASCHINO *
„In der französischen Polizei gibt es nur Franzosen. Woher sie stammen, interessiert keinen. Und in der Verwaltung spielt das auch keine Rolle“, erklärt ein hoher Beamter des Innenministeriums. Wenn sich jedoch in Führungspositionen lediglich ein Dutzend Franzosen maghrebinischer oder afrikanischer Herkunft finden, deutet das womöglich auf eine gewisse Diskriminierung hin. „Die Polizei ist offen für alle“, entgegnet unser Gesprächspartner, „es gibt bei uns keinen Rassismus, und jeder findet hier den seinen Fähigkeiten entsprechenden Platz. Wie in einer Großfamilie.“
Als wolle er uns überzeugen, dass diese Familie die Verdienste ihrer Mitglieder ungeachtet ihrer Herkunft zu würdigen weiß, greift er nach einer Akte: „Streifenpolizist Mohammed L. aus Marokko, nimmt spontan die Personalien eines Taschendiebs auf, obwohl er im Urlaub ist. Der aus Togo stammende Polizeibeamte Joseph C. überwältigt einen Amokläufer, der seine Kollegen mit einer Stichwaffe bedroht … Glauben Sie mir, die Solidarität unter Polizisten ist keine leere Floskel. Es mag vielleicht mal Spannungen geben, aber das ist ausgesprochen selten.“
Die Autorinnen von „Police et discrimination racial“1 zitieren in ihrer Studie einen Beamten aus dem Innenministerium: „Das französische System ist so von den Ideen des Egalitarismus und Universalismus durchdrungen, dass es für das Problem der Diskriminierung blind ist. Das ist absolut tabu.“ Bei den Polizisten kann man beobachten, wie sehr diese Ideologie verinnerlicht wurde: „Mein Vater war harki2 “, erzählt Abdelkader H. „Als meine Eltern nach Frankreich kamen, hatten sie nichts.“ Ihre Kinder haben inzwischen einiges erreicht: Ein Sohn ist Gendarm, ein anderer Hauptmann der kasernierten Polizei geworden. Abdelkader H. ist Polizeihauptkommissar im Norden. „Integrationsprobleme gibt es hier nicht“, sagt er, „es ist sogar einfacher, bei der Polizei Arbeit zu finden als in der Wirtschaft. Hier gibt es weniger Rassismus als anderswo. Solidarität steht an erster Stelle.“
Auch Rachid B. aus Marokko, der in einem sozial schwachen Viertel am Stadtrand von Paris arbeitet, ist ein glücklicher Polizist. Er hat es nie bereut, Ordnungshüter geworden zu sein: „Ich war auf der Suche nach einer angesehenen Stelle. Ich wollte respektiert werden. Das hat geklappt. Ich bin stolz auf meine Uniform.“ Auch auf seine Kollegen? „Anfangs haben sie mich auf die Probe gestellt. Die Älteren waren etwas abweisend, das ist normal, schließlich hatte ich mich zu integrieren. Ich habe meine Probe bestanden und wurde akzeptiert. Außerdem sehe ich auch nicht aus wie ein typischer Ausländer.“ Wenn er in Zivil ist, wird er trotzdem öfter kontrolliert als andere. Das amüsiert ihn. „Rasierter Schädel, ausgewaschene Jeans, abgewetzte Turnschuhe, da bleibt das nicht aus. Ich bin dann ganz stolz, wenn ich meine Polizeimarke vorzeige.“
Die meisten sind weniger optimistisch und beklagen sich beispielsweise über die Voreingenommenheit mündlicher Prüfer bei den Auswahlverfahren: „Weil ich in der Vergangenheit schon andere kleine Jobs hatte“, erzählt Francine aus Mali, „wollte mir die Prüferin partout unterstellen, ich sei keine zuverlässige Kandidatin: ‚Warum sollten wir Sie nehmen, wenn Sie ja doch nicht bleiben?‘.“ Ein Leutnant der kasernierten Polizei fragt Mimoun, wie er sich verhalten würde, wenn seine Einheit die Personalien maghrebinischer Straftäter überprüfen muss, und Krim, ob er es wagen würde, seinen Freunden zu erzählen, dass er bei der Polizei ist.
Nach einer in Lille und Marseille durchgeführten Untersuchung „sind die Auswahlmechanismen aufschlussreich. Formen von verbalem Rassismus kommen gegenüber Bewerbern mit nordafrikanischer Herkunft besonders oft vor. ‚Was würden Sie tun, wenn man Ihren Bruder verhaftet?‘, – ‚Würden Sie Ihre Uniform anbehalten, wenn Sie nach Hause gehen?‘ Wer mit der Antwort zögert, ist draußen.“3
Nicht alle Polizeischüler werden mit offenen Armen empfangen. „Ich heiße eigentlich Mohammed“, sagt Émile D., Major in einer südfranzösischen CRS. „Ich habe einen französischen Namen angenommen.“ Das hat nichts geändert. „Ich hatte ausgezeichnete Noten und die besten Chancen, aufzusteigen. Nur unser Kommandant hatte etwas dagegen. Sie haben mich so schikaniert, dass ich fast den Dienst quittiert hätte.“
Das war in den Siebzigerjahren, doch an der Situation hat sich kaum etwas geändert – obwohl es viele Polizisten ausländischer Herkunft gibt, obwohl die Gewerkschaften die Entwicklung aufmerksam verfolgen und obwohl es seit 1986 neue Verhaltensregeln gibt. „Die Vorurteile halten sich hartnäckig“, sagt Josyane aus Martinique. „Am stärksten sind die Araber betroffen. Man hält sie für falsch und verschlagen. Sie sind unbeliebt. Wenn einer von den Antillen kommt, dann meinen die Kollegen, der könne sowieso nur tanzen und singen.“
Die Mehrheit dieser Polizeibeamten fühlt sich nicht integriert. „Wenn jugendliche Straftäter überprüft werden sollen“, erzählt Kader aus Algerien, „rasten meine Kollegen aus. Alle haben Angst – natürlich kann es passieren, dass man mit Flaschen und Steinen beworfen wird, sich zwanzig Rowdys auf einen stürzen –, aber diese Angst macht sie wütend. ‚Scheiß Araber!‘, Oder: ‚Wir haben keinen Bock mehr auf die Kanaken!‘. Sie vergessen, dass auch ich einer bin. Wenn sie wieder einen klaren Kopf haben, entschuldigen sie sich manchmal: ‚Mit dir hat das nichts zu tun.‘ “
Die helle Haut, das glatte Haar und sein akzentfreies Französisch „machen“ Kader fast zum Europäer. „An meinem ersten Tag im Kommissariat wurde ich ungläubig angestarrt. Sie hatten mit einem Nordafrikaner gerechnet, dunkelhäutig, mit krausem Haar– entsprechend war ihre Laune.“ Und nun stand vor ihnen einer, der aussah wie sie. Jemand mit einem Englischdiplom. Jemand, der mit glänzenden Noten von der Polizeischule gekommen war. Der ihnen, wenn sie über einem Polizeibericht brüteten, gern mit einer Formulierung auf die Sprünge half oder ihre Fehler verbesserte.
Der falsche Anhänger am Halskettchen
SEIT drei Jahren arbeitet Kader in einem Kommissariat am südlichen Stadtrand und ist immer auf der Hut: Wenn ein Einsatz in einem „Problemviertel“ ansteht, ist er jedesmal mit von der Partie. Aber als einmal der Dienststellenleiter vertreten werden musste, fiel die Wahl nicht auf ihn: „Ich war der Erfahrenste. Doch man beauftragte einen jungen Kollegen – frisch von der Polizeischule – einen Bretonen.“ Wie sehen Kaders Pläne für die Zukunft aus? Er will sich für die höhere Polizeilaufbahn bewerben: „Je weiter man in der Hierarchie aufsteigt, desto mehr wird man respektiert. Auf unterer Ebene werden wir bestenfalls geduldet.“
Feindselige Gesten gehören zum Alltag. Malika, dreißig Jahre alt und seit zehn Jahren Polizistin, erlebt sie seit ihrer Schulzeit: „Es kam vor, dass mir beim Sport mein Kettchen mit Fatmas Hand als Anhänger aus dem Hemd rutschte. Jedesmal verlangte der Sportlehrer, dass ich es abnehme. Zu den Mädchen, die Kettchen mit Kreuzen trugen, sagte er nichts.“ Ihre Vorgesetzten behandelten sie später nicht besser. „An der Polizeischule wie am Arbeitsplatz durchläuft man drei Phasen“, sagt Sabine aus dem Senegal. „Zunächst ist man beschämt wegen der erstaunten Blicke, die man erntet. Dann kommt die Phase, in der man sich ein dickes Fell zulegt. Aber der Schutz ist nie perfekt. Zuletzt läuft es nach dem Motto: Dulden oder sich wehren.“
„Die Kollegen beklagen sich eher selten“, sagt ein Gewerkschaftsvertreter. „Die Vorgesetzten sehen das nicht gern, sie haben nur ihre Karriere im Kopf und wollen keine Scherereien.“ Wer rassistisches Verhalten meldet, macht sich unbeliebt. In der Abteilung wird daraus dann gleich eine Staatsaktion. Die Gruppe mauert, und der Betreffende ist noch mehr isoliert. Und man wird obendrein als paranoid abgestempelt.
Gäbe es mehr Polizisten nordafrikanischer, schwarzafrikanischer oder antillischer Herkunft – vor allem in gehobenen Positionen –, wären sie vielleicht bei den Vorgesetzten besser angesehen und würden von ihren Kollegen mehr akzeptiert. Sie wären keine Ausnahmeerscheinungen mehr.
Als 1998 im Rahmen von Beschäftigungsprogrammen Jugendliche zu „Adjoints de Sécurité“ (ADS), so genannten Hilfssheriffs, ausgebildet werden sollten, musste die Polizei dem damaligen Innenminister Jean-Pierre Chevènement versprechen, sich stärker für Jugendliche aus Immigrantenfamilien zu öffnen. Die Absolventen des ADS-Programms sollten danach die Chance bekommen, sich für den Polizeidienst zu bewerben. Trotz einer breiten Aufklärungskampagne waren die Ergebnisse wenig ermutigend: „Die Polizei war nicht bereit, junge Leute aufzunehmen, die nicht dem üblichen Bewerberprofil entsprachen – viele sind Kinder von Polizisten und haben schon eine fertige Ausbildung“, erläutert Karim Zeribi, damals ein enger Mitarbeiter des Innenministers. „Die Gewerkschaften reagierten zurückhaltend, die einfachen Beamten erst recht; sie fühlten sich sofort zurückgesetzt: Sollten etwa diese angelernten Hilfssheriffs in Uniform dieselbe Arbeit leisten wie sie? Auch die jungen Leute, vor allem aus den sozial schwachen Stadtrandgebieten, waren nicht besonders angetan: ihre eigenen Erfahrungen mit der Polizei ließen sie zurückschrecken. Auf beiden Seiten dominierten Vorurteile.“
Einige versuchten es dennoch. Und sie erlebten eine Enttäuschung: Nach einer Ausbildung von nur wenigen Wochen, in denen sie eher eintönige Tätigkeiten ausüben durften – als Wachleute vor Ministerien oder Kulturdenkmälern, als Fahrer, Mechaniker, Autowäscher oder zum Aufräumen angestellt – fühlten sie sich als Lückenbüßer ausgenutzt, wie einer von ihnen es ausdrückte. „Wer schon eine Ausbildung gemacht hatte, kam damit zurecht“, erklärt Jean-Pierre Raynaud, Generalsekretär der Polizeigewerkschaft. „Alle anderen standen hinterher wieder mit leeren Händen da.“
Schätzungen zufolge werden 50 bis 60 Prozent der 15 000 ADS-Absolventen (Stand 1. Januar 2003) in den Polizeidienst übernommen. Den Anteil der jungen Leute, die aus dem Maghreb oder Schwarzafrika kommen, beziffert ein vor drei Jahren vorgelegter Bericht der Generalinspektion der französischen Polizei auf 5 Prozent.
Vergeblich versuchte die Polizeigewerkschaft Innenminister Nicolas Sarkozy für ein Projekt zu gewinnen, an dem viele junge Leute Interesse haben könnten: „Wir haben dem Minister die Gründung einer ins Schulsystem integrierten staatlichen Schule für Sicherheitsberufe vorgeschlagen. Das wäre doch etwas für Jugendliche, die in den normalen Schulen nicht zurechtkommen und sich vom Polizeiberuf angezogen fühlen. Ausgestattet mit einem richtigen Ausbildungsvertrag, würden sie ein Stipendium bekommen und sich zum Dienst in der Polizei verpflichten. Das Projekt ist dem Minister vor einigen Monaten erneut vorgelegt worden, bisher haben wir aber noch keine Reaktion von ihm.“
Die Polizisten werden in ihrer Aus- und Fortbildung nicht darauf vorbereitet, die Mentalität ihrer Kollegen und Mitbürger ausländischer Herkunft besser zu begreifen. Es bleibt jedem selbst überlassen, sich privat mit dem Islam und arabischer Kultur zu beschäftigen. Eine professionelle Sensibilisierung für die Begegnung mit Angehörigen aus Immigrantenfamilien findet nicht statt. So wird nicht vermittelt, den scheinbar Fremden anzuerkennen und damit auch sein Anderssein zu akzeptieren. So ist niemand vor Diskriminierungen gefeit. Man spricht mit den jungen Polizeianwärtern nicht darüber, man warnt sie nicht. Aus Gleichgültigkeit. Aus Furcht, auf Ablehnung zu stoßen. „Die Ausbildungsleiter hoffen, dass die Beamten zu sehr Staatsbürger sind, um diskriminierendes Verhalten an den Tag zu legen.“3
Heute wird darauf weniger denn je geachtet, weil es nur noch darum geht, „Quote zu machen“: mehr Kontrollen, mehr Überprüfungen, mehr Verhaftungen vorweisen zu können. „Man will Ergebnisse von uns sehen“, sagt Kader. „Stoff für die Statistik. In meinem Viertel führte die Kriminalitätsbekämpfungseinheit jede Woche vierzig Personenkontrollen durch. Gegenwärtig sind es hundert. Wer ist davon betroffen? Natürlich die Nordafrikaner und die Schwarzen!“
deutsch von Christian Hansen
* Journalist, Autor von „Oubliez les philosophes“, Brüssel (Complexe) 2001.