Holländische Tomaten für Sizilien
KNAPP vier Fünftel aller Güter und Waren, die in Frankreich von A nach B transportiert werden, rollen in Lkws über die Straßen – mit immer übleren Folgen für die Umwelt. Die Politiker beginnen zwar, durch Mautgebühren gegenzusteuern, aber das ändert an der strukturellen Bevorzugung des Straßenverkehrs gegenüber Schienen- und Wasserwegen nur wenig. Ein grundsätzliches Umdenken in der Verkehrspolitik im europäischen Maßstab wäre aber schon deshalb dringend nötig, weil sich sonst der Lastentransport auf den Straßen – auch im Zuge der EU-Erweiterung – in den nächsten zwanzig Jahren verdoppeln wird.
Von PHILIPPE BOVET *
Wer sich von Briançon in den französischen Alpen auf den Weg nach Paris machen will, kann sich einfach in den Nachtzug setzen, der allabendlich zwischen den beiden Städten verkehrt. Ein Eilbrief von Briançon in die französische Hauptstadt hat dagegen eine sehr viel kompliziertere Reise vor sich. Er wird am späten Nachmittag per Lkw nach Rognac nördlich von Marseille gebracht und von dort in der Nacht mit einem anderen Laster nach Paris. Das war nicht immer so. Noch bis in die 1980er-Jahre hinein hätte der Brief frühmorgens per Bahn in Paris ankommen können – bei minimaler Umweltbelastung. Doch dann beschloss die französische Bahn SNCF, Güter- und Personenverkehr zu trennen. Und nicht nur die Briefe wurden aus den Zügen verbannt: Wer mit der Bahn reist und den Gepäckservice der SNCF in Anspruch nimmt, sieht vielleicht bei einem Blick aus dem Zugfenster den Lkw über die Autobahn rollen, der seine Koffer an dasselbe Ziel bringt.
1974 hatte der Güterverkehr der SNCF mit 72,4 Milliarden Tonnenkilometern (Tkm)1 einen Rekordstand erreicht. Danach nahm das Transportvolumen stetig ab, bis 1993 auf 43,6 Milliarden Tkm. Im Jahr 2001 war zwar ein merklicher Anstieg auf 50,4 Milliarden zu verzeichnen. Doch die Rahmenbedingungen haben sich zuungunsten der Schiene verändert.
Die SNCF reagierte mit Investitionen in eigene Speditionen. Seither macht sich die SNCF selbst Konkurrenz und trägt dazu bei, dass der Güterverkehr sich noch mehr auf die Straße verlagert. Inzwischen hat sie sich zum größten Spediteur Frankreichs entwickelt. Jean Sivardière, von 1983 bis 1993 Mitglied des Verwaltungsrats der SNCF und heute Präsident des Verbraucherverbands Fédération nationale des usagers des transports, sieht die Ursachen in der Politik: „Von der Politik wurde die SNCF pausenlos aufgefordert, sich auf die profitabelsten Unternehmensbereiche zu konzentrieren. Sie sollte nach Möglichkeit nicht viel Geld in die klassischen Bahnstrecken investieren und sich ruhig verschulden, um den TGV zu finanzieren. Aber niemand dachte daran, etwas gegen die absolute Unterlegenheit der Bahn gegenüber ihren Konkurrenten auf der Straße und in der Luft zu unternehmen.“2
Kein Wunder, dass viele Unternehmen den Transport ihrer Güter nicht mehr über die Schiene abwickeln. Zum Beispiel werden von der Tageszeitung Le Monde montags bis samstags jeweils am frühen Nachmittag 360 000 Exemplare an die Kioske und Verkaufsstellen in Frankreich und Europa verschickt. Die Taktung der französischen TGVs und ihrer Anschlusszüge im Ausland ist eigentlich wie gemacht für die Auslieferung der Abendausgabe der Zeitung. Doch da es in den TGVs keine Frachträume mehr gibt, müssen die Zeitungsbündel in einem kleinen Abteil im Triebwagen verstaut werden. Gegenwärtig verschickt Le Monde daher nur 40 Prozent der Auflage via Schiene. René Cohendet, bei Le Monde für den Vertrieb zuständig, erklärt, warum: „Im Bahnhof von Toulouse dürfen keine Waren verladen werden. Deswegen werden die Zeitungen zuerst im TGV nach Bordeaux transportiert und von dort per Lkw nach Toulouse gebracht.“
Wegen des niedrigen Mineralölsteuersatzes und des schwachen Tarifschutzes in der Speditionsbranche wandern viele Unternehmen ins europäische Ausland ab. Damit wird die Verlagerung auf die Straße weiter angekurbelt. Als beispielsweise Danone im Frühjahr 2001 die Produktion von Keksen der Marke Lu ins Ausland verlagerte und zwei der zwölf französischen Produktionsstätten – darunter die in Evry – zumachte, bedeutete dies auch große Veränderungen für den Vertrieb des Unternehmens. 40 Prozent der Lu-Kekse werden in der Großregion Paris verkauft. Evry war also sehr günstig gelegen. Heute müssen die Kekskartons von Produktionsstätten an anderen Orten in der EU oder in Osteuropa nach Paris und Umgebung geschafft werden. Und natürlich setzen auch die Autohersteller bei ihrem Vertrieb auf die Straße. Renault etwa besitzt europaweit 25 Produktionsanlagen. Jeden Tag machen sich 3 000 Laster auf den Weg, um diese Fabriken zu beliefern. 1 200 weitere Lkws sind unterwegs, um den europäischen Vertragshändlern des Unternehmens fabrikneue Autos zu liefern.
Der internationale Handel macht allerdings nur einen kleinen Teil des Güterverkehrs auf Frankreichs Straßen aus. Vor allem der regionale Warentransport wird inzwischen vorwiegend über die Straße abgewickelt. Nach Angaben des Transportfachverbands Fédération nationale du transport routier legen 78 Prozent aller Lastwagen Strecken unter 150 Kilometer zurück. Das sind Transporte von Firma zu Firma oder auch Lieferungen an Händler und Verbraucher. Gerade im letzten Fall ist Schnelligkeit das entscheidende Verkaufsargument. Obwohl viele Fotoläden die Filme nicht selbst entwickeln, garantieren sie ihren Kunden inzwischen, dass ihre Fotos innerhalb von 24 Stunden fertig werden. „Wir haben allerdings festgestellt, dass nur knapp jeder dritte Kunde seine Bilder tatsächlich so schnell abholt“, berichtet Stéphane Ricquier, der bei der Beratungsfirma Orgaconsultants Fragen der Logistik bearbeitet.
Der gesamte Güterverkehr verursacht 34 Prozent der Kohlendioxidemissionen in Frankreich, der Straßenverkehr hat daran einen Anteil von 94 Prozent. Obwohl Schiffe für die gleiche Beförderungsleistung im Durchschnitt 20 Prozent weniger Treibstoff verbrauchen als Züge und 80 Prozent weniger als Lastwagen, werden nur 4 Prozent der Transporte auf dem Wasserweg abgewickelt – in Deutschland immerhin 13,7 Prozent, in den Niederlanden 42 Prozent. Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre kam die Binnenschifffahrt Frankreichs immerhin noch auf 14 Milliarden Tonnenkilometer im Jahr. Nach Angaben der Pariser Hafenbehörde ist es heute gerade noch die Hälfte.
Nur in der Nähe der Grenzen spielt der Güterverkehr zu Wasser noch eine nennenswerte Rolle. Weiter im Landesinnern ist dagegen kaum mehr ein Lastkahn zu sehen. „Man könnte den Schiffsverkehr auf der Seine ohne viel Aufwand verdreifachen oder vervierfachen, auf der Rhône wäre sogar das Siebenfache des jetzigen Verkehrsaufkommens denkbar“, argumentiert man beim Dachverband der französischen Natur- und Umweltschutzgruppen. Auch die Compagnie nationale du Rhône (die Aufsichtsinstanz über die Rhône von Lyon bis zum Mittelmeer) und die Pariser Hafenbehörde sind sich einig darin, dass Frankreichs Flüsse nicht genügend ausgelastet sind.
Dabei verfügt Frankreich über ein Wasserstraßennetz von 8 500 Kilometern. 2 000 Kilometer davon sind auch von großen Lastkähnen mit einer Zuladung von 1 000 Tonnen und mehr befahrbar. Im Vergleich zum Schienen- und Straßennetz ist das freilich nicht viel. Ein Nachteil ist auch, dass das Be- und Entladen der Schiffe relativ teuer ist, was auf kürzeren Strecken die positive Energiebilanz zunichte macht. Soll beispielsweise ein Container auf einem Lastkahn befördert werden, so wird ein Lkw für den Transport zum Hafen benötigt, dort muss der Container verladen und im Zielhafen wieder entladen werden, um die letzten Kilometer bis zum Empfänger wieder per Lkw zurückzulegen.
Eine Verlagerung des Transports von der Straße aufs Wasser wäre also nur denkbar, wenn die Binnenschiffahrt subventioniert und der Lkw-Verkehr verteuert wird. Damit käme auch das Prinzip der Langsamkeit wieder zu seinem Recht. Ein Lastwagen benötigt für die Strecke von Le Havre nach Paris zwar nur drei Stunden, ein Schiff auf der Seine dagegen an die dreißig Stunden – doch das muss gar kein Nachteil sein: „Den Unternehmen geht es nur selten um das Liefertempo an sich“, meint Stéphane Ricquier. „Wichtiger ist in der Regel, dass die bestellte Ware zum zugesagten Zeitpunkt geliefert wird.“
Christian Barrère, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Reims, kritisiert die Unternehmen: „Zuerst wird über Produktion und Standort entschieden, der Transport ist dann ein nachrangiges Problem.“3 Daran wird sich nur etwas ändern, wenn finanzieller Druck entsteht. Christian Brossier, im französischen Verkehrsministerium hauptverantwortlich für Straßen und Brücken, zeigt in einer 1999 durchgeführten Untersuchung, dass die Transportunternehmen über Gebühren und Steuern insgesamt höchstens 60 Prozent der für die Verkehrsinfrastruktur nötigen Summen aufbringen.4 Viele Experten verlangen daher eine Erhöhung der Maut auf den Autobahnen und Gebühren auch für die sonstigen Schnellstraßen und für Problemstrecken wie Bergpässe oder innerstädtische Straßen. Gerade in den Städten sind die Kosten für den Erhalt der Verkehrsinfrastruktur enorm hoch. Warum muss hierfür niemand zahlen, während jedes Zugticket auf Nahverkehrsstrecken besonders teuer ist?
In der französischen Verkehrspolitik ging es bisher noch immer nach der Devise: „Reicht das Straßennetz nicht, wird gebaut; reicht das Schienennetz nicht, denkt man erst mal nach.“5 Doch der Frachtsektor der SNCF bedarf dringender Investitionen in Personal und Material. Rasche staatliche Entscheidungen sind erforderlich, damit ein Teil des Güterverkehrs wieder von der Straße wegverlagert wird. In der Schweiz werden 60 Prozent der Briefe und Päckchen per Bahn transportiert, in Frankreich dagegen sind es bei den Briefen nur 0,5 Prozent (in Tkm). Die französische Post plant kurzfristig und nach rein ökonomischen Kriterien, die langfristigen Folgen für die Umwelt kommen in ihren Überlegungen nicht vor.
Vielleicht sollte man außer dem Gütertransport per Lkw auch noch andere Selbstverständlichkeiten in Frage stellen: Muss man wirklich Mineralwasser aus den Alpen in den Vogesen und Mineralwasser aus den Vogesen in den Pyrenäen verkaufen, oder in der Auvergne, wo es ebenfalls gutes Mineralwasser gibt? Und warum muss man lastwagenweise pflanzliche Abfälle aus öffentlichen und privaten Parks wegschaffen und anschließend düngerhaltige Erde hinschaffen, die auch per Kompostierung vor Ort herstellbar wäre?
Um den Güterverkehr auf den Straßen einzudämmen, setzt man in Frankreich neuerdings auf das Huckepackprinzip, das heißt, Laster samt Ladung werden von der Straße auf Züge verfrachtet. Die Ursachen des steigenden Güterverkehrs wird man so nicht beseitigen. Im Gegenteil – die Fahrer rechnen die im Zug verbrachte Zeit auf ihre vorgeschriebenen Ruhezeiten an und können, am Zielbahnhof angekommen, sofort weiterfahren. Die für 2015 geplante Huckepack-Zugverbindung Lyon–Turin würde nicht nur ungeheure Summen verschlingen. Sie würde auch nichts daran ändern, dass Tomaten weiterhin von den Niederlanden gen Süden und von Sizilien in Richtung Norden verschickt werden. Und dafür bohren wir Riesenlöcher in die Berge und schneiden die Landschaft in Stücke.
deutsch von Patrick Batarilo
* Journalist