Großer Knall für ein paar Dollar mehr
WÄHREND die Vereinigten Staaten vor allem Nordkorea und Iran vorwerfen, an geheimen Atomwaffenprogrammen zu arbeiten, entwickeln die US-Strategen ihre eigenen Nuklearwaffen zügig weiter: Treffgenauer sollen sie sein, weniger Kollateralschäden verursachen und vor allem unterirdische Bunker und Waffenarsenale zuverlässig zerstören können. Es gab Zeiten, da wollte man in den USA die Kosten für Militär und Verteidigung lieber senken und betonte den grundsätzlichen Unterschied zwischen konventionellen und atomaren Waffen. Heute gilt für viele: Je fließender der Übergang zwischen nuklearen und konventionellen Waffen, umso größer der Abschreckungseffekt.
Von PASCAL BONIFACE *
Im August fand auf einem Militärstützpunkt in Nebraska eine Arbeitskonferenz statt, die vom für die US-Atomwaffen verantwortlichen US Strategic Command organisiert worden war. Thema waren die Entwicklung und Beschaffung der nächsten Generation von Nuklearwaffen. Eingeladen waren über 150 hochrangige Spezialisten, darunter Regierungsmitglieder, Vertreter der drei wichtigsten US-Atomforschungsinstitute (Los Alamos, Sandia und Lawrence Livermore), hohe Offiziere der US Air Force und des US Strategic Command, Industrievertreter sowie Verteidigungsexperten. Abgeordnete des Kongresses waren nicht zugelassen.1
Ziel des exklusiven Brainstormings war ein Programm zur Diversifizierung der nuklearen Optionen. Die amerikanischen Militärplaner träumen von Hochpräzisionswaffen mit geringer Strahlungsintensität, die in der Lage sind, tief im Boden angelegte Schutzbunker und Waffendepots zu zerstören.2 Bislang registrierte das Pentagon nur Raketenarsenale und Bomberflotten von Ländern, die eine Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten darstellen könnten. Seit neuestem jedoch interessieren sich die Militärplaner auch für unterirdische Kommandozentralen und Abschussrampen für Massenvernichtungswaffen. Über 1 400 Anlagen dieser Art – in 70 Ländern – haben sie schon ausgemacht.3 Drohte die Hauptgefahr während des Kalten Kriegs noch von den sowjetischen Atomwaffen, so sind es nun die Bunker der „Diktatoren“, die den US-Verteidigungspolitikern den kalten Schweiß auf die Stirn treiben.
Das Problem ist nur, wie sich im Falle von Atomschlägen auf solche Anlagen die „Kollateralschäden“ eindämmen lassen. Also strebt man bei den US-Streitkräften nach neuartigen Raketensystemen, die „unsere Fähigkeit verbessern, Angriffen durch Abschreckung zuvorzukommen“, wie es Keith Payne formuliert. Der ehemalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium, der seit Mai 2003 für das National Institute for Public Policy arbeitet, ist der Auffassung, dass „solche Waffen potenzielle Gegner vom Bau unterirdischer Anlagen abhalten könnten“.4
Das wäre allerdings das erste Mal, dass Aufrüstungspläne ein Land, gegen das sie sich richten, von dessen militärischen Anstrengungen abhalten würden. Die Geschichte der Militärstrategie lehrt vor allem eines: Solche Erwartungen wurden noch stets enttäuscht. Die beschleunigte Aufrüstung der Vereinigten Staaten, die von den schwächeren Ländern als aggressiv wahrgenommen wird, veranlasst die potenziellen Gegnern fast automatisch zu verstärkten Anstrengungen, den Rüstungsvorsprung aufzuholen.
Keith Payne steht mit seiner Sicht der Dinge nicht allein da. Auch Pentagon-Sprecher Michael Shavers meint, Washington müsse seine Nuklearstrategie an die neue Gefahrenlage anpassen. In dieselbe Kerbe schlägt der Leiter des Sandia-Forschungsinstituts, Paul Robinson: je fließender der Übergang zwischen nuklearen und konventionellen Waffen, umso größer sei der Abschreckungseffekt. Die neue Strategie müsse für präventive Militärschläge und Strafaktionen auch den kombinierten Einsatz von konventionellen und Atomwaffen vorsehen.5
Längst vergessen scheint, dass sich George W. Bush einmal für den einseitigen Abbau des amerikanischen Atomwaffenarsenals stark gemacht hat. „Waffen, die wir nicht mehr brauchen“, hatte er am 23. Mai 2000 im Wahlkampf erklärt, „sind kostspielige Überbleibsel aus überwundenen Konflikten.“6
In den amerikanischen Atomforschungslabors, die bis vor kurzem noch befürchteten, ihre Forschungsprogramme abspecken zu müssen, stoßen die neuen Pläne des Pentagon denn auch auf helle Begeisterung. Mit Unruhe reagieren dagegen die Befürworter von Abrüstungsschritten, die freilich in Washington schon lange nichts mehr zu sagen haben.
Die sich abzeichnende Nuklearstrategie kommt durchaus nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Schon Präsident Clinton hatte im September 1996 per Präsidentenerlass die 1978 gegebene Zusage revidiert, keine Atomwaffen gegen Nichtnuklearstaaten einzusetzen. Im Januar 2002 legte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld dem Kongress eine „Nuclear Posture Review“ zur amerikanischen Atomwaffenpolitik vor. Dieses Planungspapier plädierte, eingebettet in neue strategische Überlegungen, für eine Erneuerung des US-Atomarsenals. Die Vereinigten Staaten, so die Begründung, müssten sich auf eine breite Palette nicht durchweg vorhersehbarer Gefahren einstellen. Im vorhandenen Arsenal fehlen nach Einschätzung des Pentagon insbesondere solche Waffentypen, die ausreichend zielgenau und durchschlagskräftig sind, um unterirdische Einrichtungen zu zerstören.
Unumgänglich sei daher die Beschaffung von neuem Militärgerät, das bei minimalen „Kollateralschäden“ auch tief verbunkerte Ziele zerstören kann. Der Bericht zählte 1 400 unterirdische Zielobjekte auf, die mit der Penetrationskraft konventioneller Waffen nicht zerstört werden könnten. Um die künftige Einsatzfähigkeit vorhandener Langstreckensysteme zu gewährleisten und neue Nuklearsprengköpfe zu entwickeln, sei eine Wiederaufnahme der Atomtests womöglich das beste Mittel.
Da es schon seit geraumer Zeit keinen großen sowjetischen Feind mehr gibt, brauchten die Verantwortlichen des Pentagon einen Ersatz, um ihre weiteren Planungen rechtfertigen zu können. In der Nuclear Posture Review waren sieben Länder genannt, gegen die eine neue Generation taktischer Atomwaffen zum Einsatz kommen könnte: Russland, China, Irak, Iran, Nordkorea, Libyen und Syrien.7
Der bekannte Abrüstungsbefürworter Jonathan Schell8 kommt angesichts dessen zu dem Schluss: „Die neue Politik von Bush geht eindeutig davon aus, dass sich die Verbreitung von Atomwaffen nicht durch Verträge, sondern am besten durch einen amerikanischen Angriff verhindern lässt.“9 Diese Strategie ist Besorgnis erregend, und dies gleich aus drei Gründen: Erstens stellt sie die klassische Abschreckungsdoktrin radikal in Frage und setzt stattdessen auf den Überraschungseffekt präemptiver Erstschläge; zweitens untergräbt sie das ohnehin schon wacklige Abrüstungskontrollregime; und drittens leistet sie paradoxerweise der Verbreitung von Atomwaffen Vorschub.
Die Versuchung, Atomwaffen mit konventionellen Waffen gleichzusetzen und entsprechend einzusetzen, ist keineswegs neu. Von Anfang an gab es hier zwei entgegengesetzte Konzeptionen. Die Befürworter einer politischen Herangehensweise betonten stets, das Besondere an Atomwaffen sei gerade die beabsichtigte Wirkung, den Gegner so einzuschüchtern, dass sich ihr Einsatz erübrigt. Die Gegenposition sah in ihnen lediglich besonders wirkungsvolle Waffen, mit der Folge, dass sie ihren Einsatz nicht ausschließen wollten.
Für die Eisenhower-Regierung in den 1950er-Jahren war das US-Atomwaffenpotenzial so wichtig, weil es ein „Gegengewicht“ gegen die konventionelle Überlegenheit der Sowjets bildete. Atomwaffen, so die damalige Auffassung, „machen einen größeren Knall für weniger Dollars“ (a bigger bang for less bucks).10 In dieselbe Richtung zielte die „Flexible Response Strategy“ der 1960er-Jahre, die den Einsatz von taktischen Atomwaffen ausdrücklich vorsah. Auch die Neutronenbombe, die in den 1980er-Jahren eine Zeit lang im Gespräch war, jedoch über das Planungsstadium nicht hinauskam, war eindeutig für den realen Militäreinsatz konzipiert. Doch obwohl die US-amerikanische Strategiediskussion die politischen und militärischen Aspekte eines Atomwaffeneinsatzes nicht strikt auseinander gehalten hat (im Gegensatz zur französischen Doktrin der Force de Frappe), hat eine Regierung in Washington noch nie ernsthaft erwogen, nukleare Waffen als Erste einzusetzen.
Was heißt Abschreckung? Abschreckung ist die ausdrückliche Androhung des Einsatzes von Atomwaffen – die mit Sicherheit irreversible Schäden anrichten würden –, um einen potenziellen Gegner von einem Angriff mit konventionellen oder atomaren Waffen abzuhalten. Der Begriff der Abschreckung ist also untrennbar verbunden mit der Möglichkeit eines atomaren Erstschlags. Das Prinzip „No First Use“, das den Einsatz nur als Antwort auf einen Angriff mit Atombomben zulässt, lehnen die Vertreter der Abschreckungsdoktrin konsequenterweise ab. Die USA wie Frankreich wollten mit ihrer Abschreckungspolitik auch einem konventionellen Angriff der Sowjetunion vorbeugen.
Anders lagen die Dinge allerdings mit Blick auf die Nichtnuklearstaaten. Bereits 1978 hatte sich Washington verpflichtet, Atomwaffen nicht gegen Länder einzusetzen, die selbst keine besitzen. Als 1994 der Atomwaffensperrvertrag von 1968 verlängert wurde, haben alle fünf offiziellen Atommächte diese Zusage bekräftigt.11 Dabei handelte es sich gewissermaßen um ein Zugeständnis an die Nichtnuklearstaaten, die im Gegenzug auf den Erwerb von Atomwaffen verzichteten. Mit ihren neuen Aufrüstungsplänen stellen die Vereinigten Staaten diese Abmachungen nun ernsthaft in Frage.
Schlimmer noch, die neue Militärdoktrin eröffnet Washington nicht nur die Möglichkeit, Atomwaffen gegen Nichtnuklearstaaten einzusetzen, sondern auch gegen ein Land, das die Vereinigten Staaten gar nicht angegriffen hat. Nach dieser Doktrin reicht es aus, dass die USA ihre eigene Sicherheit bedroht sehen, und schon wäre in ihren Augen ein „Präventivschlag“ gerechtfertigt, obwohl er völkerrechtlich nicht durch die Notwehrklausel des Artikels 51 der UN-Charta gedeckt ist. Der Irakkrieg hätte ein schnelleres und besseres Ende genommen, wenn zielgenaue Atomwaffen zu Beginn des Konflikts Saddam Hussein in seinem Bunker hätten ausschalten können, argumentieren heute die Befürworter eines Doktrinwechsels. Solche Äußerungen hatte es im Übrigen schon nach Ende des Golfkriegs von 1990/91 gegeben.12
Die praktische Gleichsetzung von nuklearen und konventionellen Waffen war bislang aus guten Gründen tabu. Mit dem Tabubruch riskieren die heutigen Dr. Strangeloves in Washington, dass tatsächlich eine Atombombe gezündet wird. Hoffen sie etwa, den komplexen und völlig verfahrenen Nahostkonflikt mit einigen Mini-Nukes lösen zu können? Man braucht kein Sicherheitsexperte zu sein, um bei einer solchen Perspektive unruhig zu werden, selbst wenn man die Gefahr von „Fehltreffern“ erfolgreich verdrängt.
Am 6. August dieses Jahres jährte sich der Atombombeneinsatz gegen Hiroshima zum 58. Mal. Aus diesem Anlass erklärte der Bürgermeister der Stadt, Tadatoshi Akiba, dem Atomwaffensperrvertrag drohe das Aus nicht etwa wegen der Haltung Nordkoreas, sondern vor allem wegen der Atompolitik der Vereinigten Staaten.13 In der Tat würden die Pläne Washingtons das seit zehn Jahren bestehende Verbot jeder Forschungsarbeit an Atomwaffen mit einer Sprengkraft von weniger als fünf Kilotonnen zur Makulatur machen. Allem Anschein nach träumen die Vereinigten Staaten von einer Politik des präventiven Nuklearschlags, die für den Einsatz von Atomwaffen dasselbe vorsieht, was die im Irak praktizierte Politik der „präventiven Notwehr“ im konventionellen Bereich vorgemacht hat.14
Des Weiteren stellt sich die Frage, ob die Entwicklung einer neuen Atomwaffengeneration nicht das Ende des Atomtest-Moratoriums bedeutet, das die Vereinigten Staaten 1992 verkündeten. Im Augenblick ist davon noch nicht die Rede. Washington hat das Teststoppabkommen von 1995 zwar nie unterzeichnet, sich aber auf seine Einhaltung verpflichtet.
Im Mai 2002 sagten die USA gegenüber Russland zu, die Zahl der nuklearen Sprengköpfe von 6 000 auf rund 2 000 zu reduzieren. Es war ein trügerisches Versprechen. In Wirklichkeit haben die US-Militärs nach wie vor das Recht, 10 000 Sprengköpfe vorrätig zu halten, die im Bedarfsfall innerhalb weniger Tage zu reaktivieren sind.15 Washington verweigert sich heute allen neuen Abrüstungsverhandlungen, obwohl das Konzept der „Arms Control“ eigentlich eine US-Erfindung ist.
Die Rüstungsbegrenzungsverhandlungen der 1960er- und 1970er-Jahre waren eine Reaktion auf den zunehmend beunruhigenden, weil strategisch destabilisierenden und finanziell ruinösen Rüstungswettlauf. Diese Verhandlungen hatten durchaus nicht zum Ziel, den Wettlauf zu beenden, sondern sollten ihn durch bilaterale Abkommen lediglich in geordnete Bahnen lenken (Salt I und Salt II). So wuchsen die Waffenarsenale der beiden Supermächte auch in den 1980er-Jahren weiter an, wenn auch nicht mehr ganz so schnell wie zuvor. Anfang der 1990er-Jahre ging man dann von der Rüstungsbegrenzung zur Abrüstung über: Die Mittelstreckenraketen wurden abgebaut, die strategischen Waffen reduziert (Start-Abkommen)16 , Chemiewaffen wurden generell verboten und die konventionellen Streitkräfte in Europa verringert.
In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre war es mit dem Abrüstungsdrang der USA vorbei. Sie weigerten sich, das Teststoppabkommen zu unterzeichnen, und kündigten den ABM-Vertrag über Raketenabwehrsysteme von 1972, sie lehnten ein Verbot von Antipersonenminen ab und sperrten sich gegen ein rechtlich bindendes Zusatzprotokoll zur Biowaffenkonvention.
Auf diese Weise versucht Washington, frühere Verpflichtungen loszuwerden und neue Verpflichtungen erst gar nicht einzugehen, erwartet zugleich aber von allen anderen Ländern das Gegenteil. Abrüstung ist damit nicht mehr Verhandlungssache, sondern ein Prinzip, das den Schwächeren oder Besiegten von den Stärkeren aufgenötigt wird.
Vor dem nicht nur potenziellen, sondern höchst realen Atomwaffenprogramm Israels haben die Vereinigten Staaten wie die internationale Gemeinschaft stets die Augen verschlossen. Indien und Pakistan wurden zwar jahrelang, zumal nach den Atomtests von 1998, unter Druck gesetzt, ihr militärisches Nuklearprogramm einzufrieren, doch de facto hat sich Washington mit der Tatsache arrangiert, dass die beiden Länder längst zum Kreis der Nuklearstaaten gehören. Allerdings verstoßen die drei genannten Staaten, da sie den Atomwaffensperrvertrag nie unterzeichnet haben, auch nicht gegen gemachte Zusagen.
Die US-amerikanischen Aufrüstungspläne werden also die Verbreitung von Atomwaffen nicht stoppen können, sondern dürften dieser im Gegenteil eher Vorschub leisten. Der Irakkrieg und die neue US-Militärdoktrin können potenzielle Nuklearstaaten nur zu einem Schluss drängen: Man tut besser daran, sich vor amerikanischen Militärschlägen zu schützen und die Möglichkeiten eigener Vergeltungsmaßnahmen auszubauen, als die einmal eingegangene Verpflichtung, keine Massenvernichtungswaffen zu erwerben, brav einzuhalten.
Nordkorea hat offiziell eingeräumt, Nuklearkapazitäten zu besitzen, und lehnt jede internationale Kontrolle ab – und die Vereinigten Staaten reagieren mit diplomatischen Mitteln. Der Irak bestritt den Besitz von Atomwaffen, akzeptierte unbeschränkte Kontrollmaßnahmen und wurde bekanntlich zum Ziel einer Militärintervention. 2005 soll eine Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags stattfinden. Besonders friedlich wird es da wohl nicht zugehen.
deutsch von Bodo Schulze
* Leiter des Institut de Relations Internationales et Stratégiques (Iris) in Paris; neueste Buchveröffentlichung „La France contre l’Empire“, Paris (Robert Laffont) 2003.