10.10.2003

Was dem Euro fehlt

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Was dem Euro fehlt

DER schwache Dollar und der starke Euro stehen gegenwärtig unter der Dauerbeobachtung von Wirtschaftsexperten und Analysten. Aber warum ist die Stabilität einer internationalen Leit- und Reservewährung eigentlich so wichtig? Wie kommt es, dass diese Rolle dem Dollar zugefallen ist? Und was hieße es, wenn der Euro den Dollar tatsächlich ablösen würde? Denn obwohl die Leitwährung über wirtschaftliche Macht und Einflussmöglichkeiten entscheidet, ist mit ihr doch auch eine immense Verantwortung verbunden.

Von HOWARD M. WACHTEL *

Seit dem Zweiten Weltkrieg ist überall auf der Welt der Dollar die Leitwährung. Er hat die finanzielle Hegemonie der Vereinigten Staaten begründet. Wird ein starker Euro – als Speerspitze einer erweiterten Europäischen Union – diese Dominanz gefährden können? Diese Frage hat seit dem Irakkrieg und der Aufwertung des Euro gegenüber dem Dollar eine neue Dringlichkeit gewonnen.

Es ist nichts Neues, dass Europa auf verschiedene Weise die Dominanz des US-Dollars in Frage zu stellen versucht. Bereits 1967, während des Vietnamkriegs, wollte Charles de Gaulle die Flucht aus dem Dollar und die daraus resultierende Dollarschwäche für seine Absicht nutzen, die Weltwirtschaft wieder strikt an den Goldstandard zu binden. Auch dem Euro-Projekt hat man immer wieder nachgesagt, es ziele letztlich auf eine Schwächung des Dollars. Im Gefolge der wieder erwachten Ängste vor einer aggressiven, ausgreifenden imperialen Strategie der USA im Zusammenhang mit dem Irakkrieg wird diese Diskussion jetzt in Europa wieder belebt. Die Ambitionen für einen starken Euro haben erneut Spekulationen genährt, der Euro könnte sich als Alternative zum Dollar zur Reservewährung entwickeln, im globalen Finanzsystem zum Brückenkopf gegen die Dominanz der USA ausgebaut werden und auf diese Weise der US-amerikanischen Finanzmacht ein europäisches Potenzial entgegensetzen.

Dieser Problemkreis lässt sich nur analysieren, wenn man zunächst das Wesen einer Reservewährung verstanden hat und dann nach den Bedingungen fragt, unter denen der Euro als Reservewährung gegen den Dollar konkurrieren könnte.

Damit der Welthandel und das globale Finanzsystem sich so stetig und stabil entwickeln können, dass ein weltweites Wachstum möglich wird, bedarf es einer Währung, die allgemein verfügbar ist und in aller Welt akzeptiert wird. Ihre Hauptfunktion besteht darin, Liquidität sicherzustellen. Im 19. Jahrhundert hatte das britische Pfund Sterling diese Aufgabe inne.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Pfund dann schrittweise vom US-Dollar abgelöst, der seither die globale Reservewährung darstellt. Um zu erfassen, wie unabdingbar eine solche Reservewährung für eine prosperierende Weltwirtschaft ist, brauchen wir uns nur die Zwischenkriegszeit zu vergegenwärtigen. Damals war das britische Pfund nicht mehr imstande, Liquidität im globalen Maßstab zu gewährleisten, während der Finanzsektor der USA noch zögerte, eine Rolle zu übernehmen, die ihm von den Märkten eigentlich bereits zugeteilt war. Dieser zeitweilige Umstand – dass es keine internationale Reservewährung gab – war einer der Gründe für den Zusammenbruch des internationalen Handels in den 1930er-Jahren.

Eine nationale Währung wird für andere Länder dann zur Reservewährung, wenn sie sich dank ihrer überwältigenden ökonomischen und finanziellen Stärke innerhalb des globalen Finanz- und Handelssystems als bevorzugtes internationales Zahlungsmittel durchsetzt. Dann wird jedes Land bestrebt sein, diese Währung als Reserve zu halten, weil sie ein Zahlungsmittel darstellt, das in allen Ländern, mit denen man Handel treibt, gleichermaßen willkommen ist. Denn diese Länder sind ihrerseits auf eine Währung angewiesen, die ihnen als universale Zahlungsreserve dient.

Das Land, dessen Währung sich zu dieser universalen Zahlungsreserve entwickelt, gewinnt dadurch große Macht und Einflussmöglichkeiten. Aber es bürdet sich damit zugleich eine Riesenverantwortung auf. Nehmen wir als Beispiel die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, um zu illustrieren, welch subtile und vielfältige Einflussmöglichkeiten mit der Rolle der internationalen Reservewährung verbunden sind.

Versetzen wir uns zu diesem Zweck in die Lage eines Finanzministers, dessen Staat auf die Reservewährung Dollar angewiesen ist. Dieser Minister hat in erster Linie die Aufgabe, Dollars anzuziehen und zu akkumulieren, denn nur mit Hilfe dieser Devisenreserve kann er überall auf der Welt die benötigten Produkte einkaufen. Wie kann er nun an diese Dollars herankommen? Er kann – erstens – eigene Produkte an die USA verkaufen und dafür Dollars einnehmen, ein Weg, der den europäischen Ländern bis Mitte der 1950er-Jahre versperrt war. Eine zweite Möglichkeit besteht und bestand darin, dass US-Unternehmen ihre Dollars ins Land bringen und investieren: Hier liegt der Ursprung der modernen multinationalen Konzerne. Zum Dritten konnte der besagte Finanzminister US-Militärbasen und das dazugehörige Personal ins Land holen.1

Das waren die drei wichtigsten Methoden für Europäer, damals an Dollars heranzukommen. Über den Einfluss, der mit diesen Dollarzuflüssen verbunden war, brauchen wir uns nicht lange auszulassen. Es ist immer dieselbe Geschichte, die wir auch heute wieder vor allem in den Ländern der Dritten Welt beobachten, aber auch in den Transformationsländern, also in Mittelosteuropa, in Russland und in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

Liquidität und letzte Kredite

DIE Verpflichtungen, die sich für das Land der Reservewährung ergeben, sind zweifacher Art. Zum einen muss es bereit sein, für weltweite Liquidität zu sorgen: Die eigene Währung muss in ausreichender Menge zirkulieren, um die globalen Handels- und Finanzströme in Gang zu halten. Voraussetzung dafür ist ein stetiges und zuverlässiges Wachstum der eigenen Volkswirtschaft. Zum anderen muss es darauf vorbereitet sein, die Rolle des so genannten lender of last resort auszufüllen, das heißt als „letzter“ Kreditgeber für Länder einzuspringen, die zu Marktbedingungen keine Kredite mehr bekommen. Diese beiden Funktionen kann das Reservewährungsland nur erfüllen, wenn es – bei robustem eigenem Wirtschaftswachstum – seine Währung nach innen wie nach außen einigermaßen stabil halten kann. Wobei sich die innere Stabilität in einer akzeptablen Inflationsrate, die externe Stabilität dagegen in berechenbaren Wechselkursschwankungen gegenüber den Währungen anderer Länder ausdrückt. Wenn diese Stabilitätsbedingungen fehlen, werden andere Länder die betreffende Währung nicht mehr ohne weiteres als Devisenreserve halten, weil sie zu starken – inneren wie äußeren – Wertschwankungen ausgesetzt wäre.

Wenn der Euro dem Dollar als internationale Reservewährung Konkurrenz machen will, muss er also zunächst zwei Voraussetzungen erfüllen: Erstens muss der Wert des Euro nach innen und nach außen über einen längeren Zeitraum hinweg stabil bleiben, und zweitens müssen die Länder der Eurozone ein angemessenes ökonomisches Wachstum zustande bringen. An diesen Kriterien gemessen sind die Aussichten für den Euro, eine alternative Reservewährung zu werden, eher durchwachsen. Zwar steht die Eurozone, was die Inflationsgefahr betrifft, ganz gut da. Doch gerade die innere Geldwertstabilität ist zugleich ein wichtiger wachstumshemmender Faktor.

Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt hat die Mitgliedsländer auf die so genannten Maastricht-Kriterien festgelegt, die den Spielraum für die staatliche Haushaltspolitik der einzelnen Länder unangemessen stark einschränken. Die Europäische Zentralbank (EZB) legt den Stabilitätspakt dermaßen streng aus, dass sie insbesondere den beiden wichtigsten Volkswirtschaften der Eurozone, Frankreich und Deutschland, nicht die geringste fiskalische Flexibilität gestattet. Soll der Euro auf lange Sicht zur alternativen Reservewährung werden, brauchen die Länder der Eurozone ein kräftiges Wirtschaftswachstum, und das setzt voraus, dass die Maastricht-Kriterien grundlegend geändert werden.

Hier zeigt sich einmal mehr, dass die Einführung des Euro mit einer wirtschaftspolitischen Strategie einherging, die nicht auf ihre inneren Widersprüche hin durchdacht war. Die nationalen Regierungen mussten zwei der drei maßgeblichen Instrumente, mit denen sie das Wirtschaftswachstum beeinflussen konnten, ganz aus der Hand geben, nämlich die Geldpolitik und die Wechselkurspolitik. Und auch das dritte Instrument, die staatliche Haushaltspolitik, wurde durch die Begrenzung des jährlichen Haushaltsdefizits auf maximal 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in seiner Wirksamkeit eingeschränkt. Nach neueren Erkenntnissen über die Bedingungen ökonomischen Wachstums – sowohl von der monetaristischen wie von der keynesianischen Schule – sind derartige makroökonomische Beschränkungen aber nicht nur inkonsistent, sondern auch falsch. Hinzu kommt, dass es eine gewisse Zeit der „Bewährung“ braucht, bis die Finanzmärkte in der Lage sind, die Stabilität des Euro-Wechselkurses verlässlich einzuschätzen. Dies wird mit zunehmendem Alter des Euro korrigiert werden.

Jenseits dieser wirtschaftspolitischen Probleme gibt es zwei strukturelle Faktoren, die der Entwicklung des Euro zu einer alternativen Reservewährung im Wege stehen. Der erste hat mit dem Lender-of-last-resort-Standard zu tun: Die EZB ist nach ihrer gegenwärtigen Konstruktion nicht in der Lage, die Rolle des „letzten“ Kreditgebers wahrzunehmen. Die Kompetenz für die Kreditvergabe liegt nach wie vor bei den einzelnen Zentralbanken der Eurozone und ist entsprechend auf das jeweils eigene Land begrenzt. Solange es keine Instanz gibt, die als lender of last resort für die gesamte Eurozone auftreten könnte, hat der Euro nur begrenzte Aussichten, sich als Alternative zum Dollar zu profilieren.

Der zweite strukturelle Hemmfaktor ist die Tatsache, dass innerhalb der Eurozone die Reformen im grenzüberschreitenden Bankverkehr nur langsam vorankommen. Solche Transaktionen sind, zumal im Vergleich mit den US-Banken, nach wie vor umständlich, und die Banken verlangen für solche Geldbewegungen immer noch viel zu hohe Gebühren. Das liegt vor allem an veralteten Prozeduren und am erheblichen technologischen Vorsprung der US-Banken vor denen der Eurozone, den man durchaus mit dem Rückstand der Europäischen Union gegenüber den USA auf dem Gebiet der Militärtechnologie vergleichen kann.

Es mag paradox erscheinen, aber diese Lücke könnte geschlossen werden, wenn sich Großbritannien der Eurozone anschließen würde, denn in praktischer und technologischer Hinsicht sind die britischen Banken die Einzigen, die es mit den US-amerikanischen aufnehmen können. Doch die Briten haben sich nun einmal mit guten Gründen entschieden, außerhalb der Eurozone zu bleiben. Und selbst wenn sie beitreten würden, müssten zwei weitere Bedingungen erfüllt sein, damit der Euro konkurrenzfähig wird. Erstens müssten sich die Bankstrategien der übrigen Eurozonenländer an den Gepflogenheiten ihres britischen Partners orientieren, zweitens würde sich das Zentrum des europäischen Finanzsystems von Frankfurt nach London verlagern – und beides wäre für die gegenwärtigen Mitgliedsländer der Eurozone nicht akzeptabel. Zudem bliebe auch in diesem Fall noch das Lender-of-last-resort-Problem zu lösen.

Es gibt also noch viele Hindernisse, die der Entwicklung des Euro zu einer ernsthaften Alternative im Wege stehen. Aber es gibt andererseits auch gewichtige Faktoren, die den Euro in die Rolle der Reservewährung drängen. Da wäre zuallererst das andauernde Zahlungsbilanzdefizit der USA zu nennen, das sich inzwischen auf rund 500 Milliarden Dollar pro Jahr2 beläuft. Eine Trendwende ist einstweilen nicht absehbar. Diese Zahlungsbilanzlücke wäre nur durch weitere, vor allem aus der Europäischen Union und aus Asien stammende Kapitalzuflüsse in die USA zu schließen. Sollten sich diese Zuflüsse – wie in den letzten beiden Jahren geschehen3 – weiter vermindern, werden die Preise für US-Staatsanleihen fallen und die Zinssätze entsprechend steigen. Die US-amerikanische Volkswirtschaft würde damit in ernsthafte Turbulenzen geraten.

Das Szenario eines Preisverfalls der US-Staatspapiere und eines steigenden Zinsniveaus ist umso plausibler, als noch ein zweiter Grund hinzukommt, der die Kapitalanleger zur Flucht aus dem Dollar in den Euro bewegen könnte: Das Vertrauen in die politischen Entscheidungen, die in Washington getroffen werden, hat weltweit merklich nachgelassen. Das gilt nicht nur für die amerikanische Außenpolitik, die ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den Absichten der US-Regierung nährt, sondern auch für die Haushaltspolitik Washingtons, mit dem sich rasant vermehrenden Defizit von 450 Milliarden Dollar in diesem Jahr (was 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht) und künftig wahrscheinlich noch größeren Defiziten. Diese Zahlen lassen die Manager der großen ausländischen Anlagefonds befürchten, dass die Risiken auf den US-Märkten zunehmen und diese also bald nicht mehr das stabile Umfeld für Kapitalanlagen bieten werden wie noch vor wenigen Jahren.

Handelsbilanz und unechte Importe

NACH diesem Szenario wird der Zufluss von Auslandskapital in die USA zwar anhalten, aber nicht mehr mit demselben Schwung wie in den 1990er-Jahren. Und schon gar nicht in einem Umfang, der die Folgen der niedrigen Sparquote der US-Bürger für den einheimischen Kapitalbedarf kompensieren könnte. Wenn dieses Szenario eintrifft, ist mit steigenden Marktzinsen zu rechnen, und dann wird die US-Zentralbank (die Federal Reserve) mit ihrem geldpolitischen Arsenal nicht mehr viel gegen diesen Trend ausrichten können. Schließlich hat sie ihre Munition bereits verschossen, indem sie das von ihr kontrollierte Zinsniveau so weit herabgesetzt hat, dass eine weitere Senkung zur Deflation führen könnte.

Das bringt uns schließlich zu der Frage, ob die Verbilligung des Dollars gegenüber dem Euro das Defizit in der Handelsbilanz zwischen der Eurozone und den USA verringern wird, wodurch ja die US-Volkswirtschaft nicht mehr so stark von Kapitalzuflüssen aus dem Ausland abhängig wäre. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung wird meines Erachtens überschätzt. Es ist zwar richtig, dass ein gegenüber dem Euro sinkender Dollarpreis eine Zunahme der US-amerikanischen Exporte und einen Rückgang der Importe aus der Eurozone bewirkt. In begrenztem Maße wird dies auch geschehen, aber die Wirkung wird kaum spürbar sein und auf keinen Fall ausreichen, um den stark defizitären Trend in der US-Zahlungsbilanz umzukehren. Jenseits bestimmter Branchen – wie Landwirtschaft, Automobilproduktion, Tourismus – werden sich die Export-Import-Bilanzen kaum verändern.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens ist es allenfalls langfristig möglich, die Fertiggüterindustrie der USA neu zu orientieren, die ja schon seit Jahrzehnten nicht mehr auf den Export ausgerichtet ist. Die US-Unternehmen haben sich vor langer Zeit für eine Investitionsstrategie entschieden, die in aller Welt Produktionsstätten errichtet und von da aus die internationalen Märkte beliefert. Diese Unternehmen produzieren also nicht in den USA, um Produkte im Ausland zu verkaufen. Das Defizit in der Handelsbilanz der USA erklärt sich in Wahrheit sogar zu einem erheblichen Teil daraus, dass US-Unternehmen die in anderen Ländern gefertigten Produkte auf dem US-Markt verkaufen, was diese dann in der Handelsbilanz als Importe zu Buche schlagen lässt. Verlässliche Schätzungen beziffern den Anteil dieses Handels innerhalb von US-Unternehmen, die im Ausland produzieren und zu Hause verkaufen, auf 45 Prozent aller US-Importe. Die Konzerne sind auf diese Strategie festgelegt und werden sie auf keinen Fall ändern.

Ein zweiter Grund, der gegen eine Trendwende in der US-Handelsbilanz spricht, ist das Wirtschaftswachstum der Vereinigten Staaten, das auch künftig höher liegen wird als das der Eurozone. Das wird den Kauf von Produkten aus der Eurozone durch die USA begünstigen und umgekehrt den Kauf von US-Produkten durch die Länder der Europäischen Union hemmen.

Das heißt aber, dass die Bush-Administration ihre Strategie des schwachen Dollars auf eine falsche Prämisse gründet: Sie geht davon aus, dass sich das Handelsbilanzdefizit verringert, was wohl kaum in nennenswertem Umfang geschehen wird. Im Gegensatz dazu hatte Clintons Finanzminister Robert Rubin eine Politik des starken Dollars betrieben, weil ihm klar war, dass ein starker Dollar ausländisches Kapital anziehen würde.

Das beleuchtet ein weiteres Dilemma, das die Rolle des Reservewährungslandes mit sich bringt. Mit dieser Rolle sind nicht nur große Vorteile, sondern auch schwer zu erfüllende Verpflichtungen verbunden. Denn das betreffende Land nimmt auf den internationalen Märkten – auf dem globalen Basar – auch die Funktion eines buyer of last resort wahr. In dieser Rolle des Abnehmers von Exportprodukten der anderen Länder akkumuliert es gewaltige Zahlungsbilanzdefizite, die es nur ausgleichen kann, wenn es zugleich in der Lage ist, ausländisches Kapital zu importieren.

Fassen wir zusammen: Zwar ergibt sich durch die Verwundbarkeit der US-Währung für den Euro die historische Chance, den Dollar als Reservewährung herauszufordern. Voraussetzung ist aber, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt modifiziert wird, dass die Banken der Eurozone die Modalitäten des grenzüberschreitenden Zahlungsverkehrs reformieren und dass der technologische Abstand zum Bankensektor der USA und Großbritanniens verringert wird. Die jüngste Dollarschwäche, die Abkehr Washingtons vom „Multilateralismus“ sowohl in militär- als auch in finanzpolitischer Hinsicht und die unvernünftig hohen Haushaltsdefizite der USA haben das Interesse am Euro als einer potenziellen Reservewährung verstärkt.

Die von anderen Ländern gehaltenen Dollarreserven sind wertmäßig leicht zurückgegangen, auf den Finanzmärkten haben einige der großen Fonds ihre Portfolios leicht zugunsten von Euro-Anlagen umgewichtet, und auf dem Rohölmarkt wurden einige Verkäufe in Euro statt in Dollar fakturiert. Für die EU ergibt sich damit ein neues strategisches Ziel. Wenn sie die Öl exportierenden Länder dazu bewegen kann, sich in Euro statt in Dollar bezahlen zu lassen, wäre in der Konkurrenz um die Rolle der internationalen Reservewährung eine neue Front eröffnet. Entscheidend wird dabei sein, ob Russland seine Ölverkäufe künftig in Euro abrechnet. Die EU könnte diese Entscheidung dadurch beeinflussen, dass sie Moskau als Gegenleistung die langfristige Perspektive einer EU-Mitgliedschaft in Aussicht stellt.

deutsch von Niels Kadritzke

* Wirtschaftswissenschaftler an der American University (Washington, DC) und Mitarbeiter des Transnational Institute (Amsterdam). Autor u. a. von: „Street of Dreams – Boulevard of Broken Hearts: Wall Street’s First Century“, London (Pluto Press) 2003.

Fußnoten: 1 Siehe dazu auch Howard M. Wachtel, „The Money Mandarins: The Making of a Supranational Economic Order“, New York (Pantheon Books) 1986, S. 40–45. In diesem Buch wird auch der Versuch de Gaulles im Jahre 1967 analysiert, den Dollar zu destabilisieren. 2 Diese Zahl gilt für das Rechnungsjahr Juli 2002 bis Juni 2003. The Economist, 26. Juli 2003. 3 Dazu der demnächst erscheinende Beitrag „Tax Distortion in the Global Economy“, in: Lourdes Beneria (Hrsg.), „Global Tensions“, London (Routledge) 2003.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2003, von HOWARD M. WACHTEL