10.10.2003

Zwischen Hammer und Amboss

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Zwischen Hammer und Amboss

MITTE September hat der russische Präsident Wladimir Putin die Staatspräsidenten der Kaukasusrepubliken und Zentralasiens zu einem Treffen in Jalta eingeladen, um über Pläne für eine gemeinsame Freihandelszone zu sprechen. Jenseits der ökonomischen Aspekte des Projekts hofft Russland auf diese Weise seinen Einfluss in der Region wieder zu verstärken. Wie Putin zu diesem Zweck politische Kontrahenten in aktuellen Konflikten gegeneinander ausspielt, zeigt beispielhaft seine Politik gegenüber den Gegnern Abchasien und Georgien.

Von MATHILDE DAMOISEL und RÉGIS GENTÉ *

„Perle des Schwarzen Meeres“ wurde das Land früher genannt. Das idyllische Abchasien war zu Sowjetzeiten allenfalls durch die vielen Touristen gefährdet. Nun, zehn Jahre nach dem Krieg 1992/93 gegen Georgien, herrscht in dem kleinen Paradies im Kaukasus ein ungewisser Frieden: Abchasien muss als selbst ernannter Staat noch ohne die Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft auskommen.

Bei den Sezessionskämpfen starben 10 000 Menschen. Die meisten der 200 000 Georgier, die aus dem Land flohen, leben bis heute in Notlagern, ohne auf Rückkehr hoffen zu können. Auch bei den Abchasen sind die Wunden nicht verheilt, man sieht viele Menschen, die vom Krieg gezeichnet sind, und die öffentlichen Einrichtungen funktionieren offenbar noch immer nicht. Ein Zehntel der etwa 180 000 Einwohner ist heute auf internationale Hilfe angewiesen.

Auch zehn Jahre nach dem Ende der Kämpfe haben Georgien und Abchasien ihren Konflikt nicht beigelegt. Als Michail Gorbatschow 1989 allen Mitgliedstaaten der Sowjetunion empfahl, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, war Abchasien nur eine autonome Republik innerhalb Georgiens. Seinen früheren Status als Sowjetrepublik hatte das Land 1931 unter Stalin verloren. Am 18. März 1989 forderte die nationale Bewegung Aidgylara (Einheit), das Land solle „nicht länger Teil der Republik Georgien sein“.

In Tbilissi reagierte man sofort auf diesen Versuch einer Sezession. Tatsächlich bilden die Georgier auch in Abchasien die größte ethnische Gruppe.1 Georges Scharaschidse, Professor am Pariser Institut für orientalische Sprachen und Kulturen (Inalco), erklärt die Gewaltbereitschaft beider Seiten aus einem „pathologischen Geschichtsbewusstsein, das man bei sämtlichen Völkern der UdSSR antrifft“2 . Sehr bald wurde auf öffentlichen Kundgebungen die Forderung nach der Unabhängigkeit Abchasiens laut. Am 9. April 1989 gingen sowjetische Truppen gewaltsam gegen eine Demonstration vor und töteten dabei 21 junge Leute.

Damit war der Bruch zwischen Georgien und seiner Teilrepublik vollzogen, die Interessen beider Seiten erwiesen sich als unvereinbar. Die Abchasen bestanden auf ihrer Unabhängigkeit und lehnten auch eine Föderation mit Georgien ab, während die Georgier ihrerseits die Emanzipation vom Sowjetsystem mit der Verteidigung ihrer territorialen Integrität gleichsetzten.

Am 6. Januar 1992 wurde der wegen seiner autoritären und nationalistischen Politik heftig umstrittene georgische Staatspräsident Swiad Gamsachurdia durch einen Staatsstreich entmachtet. Im März rief ein Übergangsparlament Eduard Schewardnadse, den letzten sowjetischen Außenminister unter Gorbatschow, nach Tbilissi zurück und wählte ihn zum Präsidenten. Im Juli 1992 wurde Georgien als unabhängige Republik in die Vereinten Nationen aufgenommen und erhielt seine ersten Kredite von der Weltbank. Die Anhänger Gamsachurdias gaben allerdings keine Ruhe, überdies kam es auch in Südossetien, der zweiten autonomen Republik innerhalb Georgiens, zu bewaffneten Konflikten. Diese labile innenpolitische Lage nutzte der abchasische Oberste Sowjet, um am 23. Juli – in Abwesenheit der georgischen Abgeordneten – die Verfassung von 1925 wieder in Kraft zu setzen, also den 1931 abgeschafften rechtlichen Zustand wiederherzustellen.

Der offene Krieg begann am 14. August 1992. Unter dem Vorwand, eine Eisenbahnlinie sichern und Geiseln befreien zu wollen, marschierte die georgische Nationalgarde in Abchasien ein. Ziel dieser Operation war eindeutig die Niederschlagung der „Separatisten“. Die Kampfhandlungen dauerten bis zum 27. September 1993. Unterstützt durch Freiwilligenverbände der „Konföderation der kaukasischen Bergvölker“ (darunter ein Bataillon des Tschetschenenführers Schamil Bassajew) und ein Regiment der 104. russischen Fallschirmjägerdivision konnten die abchasischen Truppen die Hauptstadt Suchumi zurückerobern. Fast die gesamte georgische Bevölkerung floh aus Abchasien. Das war nicht unbedingt eine „ethnische Säuberung“, lief aber doch auf eine deutliche „demografische Korrektur“ hinaus.

Georgien geriet in die Defensive.3 Am 9. Oktober 1993 erklärte Präsident Schewardnadse den Beitritt seines Landes zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), ohne das Parlament einzuschalten – ein Schritt, den er zuvor immer wieder abgelehnt hatte. Damit hoffte er, die militärische Unterstützung Russlands zu gewinnen.

Für Moskau bedeutete dies einen Sieg, denn das ungebärdige Georgien verzichtete vorläufig auf seine Politik der Abkehr von Russland und der Westorientierung. Der russischen Regierung passte die Abchasienfrage gut in ihr Konzept, das „benachbarte Ausland“ im Griff zu behalten. Zwar hatte Moskau im Grunde „keine Kaukasusstrategie“, wie Silvia Serrano von der „Forschungsstelle postsowjetische Staaten“ am Inalco in Paris meint, doch aus der Summe seiner teils vernünftigen, teils unrealistischen Interessen – zu denen auch geopolitische Absichten gehören – ergebe sich doch der Wille, die Region unter russischer Aufsicht zu halten.

Moskau gewährte den abchasischen Separatisten Beistand, um über ein Druckmittel gegen Georgien zu verfügen. Manchen russischen Politikern und Militärs gilt das Land – der „Sperrriegel zum Kaukasus“ – als sicherheitspolitische Schlüsselregion: Der georgische Korridor ist zugleich Tor zum Schwarzen Meer und Schutzzone gegen die Türkei und den Iran.

Russland hat allerdings, seit es Abchasien 1810 zu seinem Protektorat gemacht hat, deutlich gezeigt, wie gleichgültig ihm dieses kleine Volk war. Die Abchasen haben das nie vergessen. Doch um sich gegen Georgien zu behaupten, muss sich die selbst ernannte Republik an Russland halten. Dass ein Zusammenleben mit den Georgiern „unmöglich geworden“ sei, glaubt nach den traumatischen Kriegserfahrungen die Mehrheit der Bevölkerung. Die Kämpfe im Mai 1998 und im September/Oktober 2001 haben gezeigt, dass allein die Russen militärische Sicherheit gewährleisten können.

Dafür baut Russland seinen Einfluss in Abchasien aus. Mit Rückendeckung der höchsten Moskauer Kreise wird immer mehr russisches Kapital in das Mobiltelefonnetz, in touristische Anlagen und selbst in die Landwirtschaft investiert: So lässt ein großer Schokoladenhersteller auf 10 000 Hektar Haselnüsse produzieren. Und trotz heftiger Proteste aus Tbilissi wurde im Dezember 2002 die Eisenbahnstrecke von Sotschi nach Suchumi wieder in Betrieb genommen.

Russland fällt bei einer künftigen Konfliktregelung immer deutlicher die Schlüsselrolle zu. Cyrille Gloaguen, ein ehemaliger UN-Militärbeobachter in Abchasien, meint dazu: „Sobald man im Kreml eine Lösung beschließt, wird sie in wenigen Wochen durchgesetzt sein, auch gegen heftigen abchasischen Widerstand.“

In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Feindschaft zwischen Georgien und Abchasien weiter verschärft. An beiden Ufern des Inguri will man von den vorgefassten Meinungen nicht lassen. In den Augen der Abchasen bleibt Georgien der Aggressor. Und die georgische Gesellschaft zeigt keinerlei Neigung, den abchasischen Anspruch auf nationale Identität zu akzeptieren. Man akzeptiert nicht einmal die Existenz eines abchasisch-georgischen Problems: In Tbilissi spricht man nur vom „Verlust“ eines Stücks Territorium, das unbedingt „zurückkehren“ müsse.

Der georgische Philosoph Paata Sascharieschwili, eine wichtige Figur in dem informellen Dialog zwischen Vertretern der georgischen und der abchasischen Zivilgesellschaft, erklärt dazu: „Wir müssen einsehen, dass der Konflikt mit Abchasien nicht nur aus dem Krieg von 1992/93 resultiert, sondern viel tiefere Wurzeln hat. Solange wir die abchasischen Wünsche nicht verstehen und unsere Verantwortung für den Ausbruch des Krieges nicht eingestehen, wird es keine Lösung geben.“

Die Last der Geschichte wiegt schwer. Seit den Zeiten der Sowjetherrschaft sehen sich die Abchasen als verfolgte Minderheit. Als ihre Republik 1931 Georgien zugeschlagen wurde, mussten sie das Verbot ihrer Sprache, die Unterdrückung ihrer Kultur und die massive Ansiedlung von Georgiern und Russen hinnehmen. Diese Ära der „Georgianisierung“ ist im kollektiven Gedächnis noch immer lebendig. Die Entstalinisierung rückte manches zurecht, doch die Abchasen befürchten auch heute noch, dass man ihnen keine eigene Identität zugestehen will.

Tatsächlich werden die Abchasen noch immer gern als die „Gäste“ Georgiens bezeichnet. Man sieht sie als ein Bergvolk, das erst vor einigen Jahrhunderten aus dem Nordkaukasus an die Schwarzmeerküste wanderte – als ginge es um die Frage, wer zuerst da war. Mit der Beschwörung der Vergangenheit umgeht man die eigentlich drängenden Fragen, nämlich wie stabile Staaten entstehen und dauerhafte Lösungen erzielt werden können.

Das Schicksal Abchasiens bleibt ungewiss, solange Russland den Konflikt als Druckmittel gegen Georgien einsetzt. Dass dem so ist, bestätigte sich jüngst wieder bei der Neuregelung der Energieversorgung Georgiens durch russische Konzerne. Vor allem der über 25 Jahre laufende Vertrag über Gaslieferungen, den Tbilissi am 21. Juli unterzeichnet hat, macht Georgien energiepolitisch völlig von Moskau abhängig.4 Auch wenn 2005 auf Schewardnadse ein prorussisch orientierter Präsident folgen sollte, wird sich an den Grundlinien des Konflikts kaum etwas ändern. „Es ist zu befürchten, dass eine Lösung in weiter Ferne liegt“, meint Silvia Serrano von Inalco, „eben weil Moskau nicht alle Trümpfe in der Hand hält.“

Den Abchasen kommt diese Situation nicht ungelegen. Suchumi, zwischen dem russischen Hammer und dem georgischen Amboss, fordert die Unabhängigkeit und steuert eine „Assoziation“ mit der Russischen Föderation an. Wer immer den erkrankten Präsidenten Wladislaw Ardzinba 2004 ablöst, kann nur auf Kurs bleiben.

Zudem sind die staatlichen Strukturen auf abchasischem Gebiet nicht sehr ausgeprägt, und die Clans und alten Seilschaften aus sowjetischen Zeiten verfügen immer noch über erheblichen Einfluss. Auch mafiose Interessen stehen einer Lösung des Konflikts im Wege. Entlang der Waffenstillstandslinie des Inguri ist ein Niemandsland entstanden, in dem abchasische und georgische Schmuggler in bestem Einvernehmen ihre Geschäfte mit gestohlenen Autos, Benzin, Zigaretten und anderen Gütern abwickeln.

Was können in dieser Situation die UN-Militärbeobachter in Georgien (Unomig) und die „Gruppe der Freunde des UN-Generalsekretärs“5 ausrichten? Heidi Tagliavini, Georgien-Sonderbeauftragte von Kofi Annan, sieht auch zehn Jahre nach Beginn des Konflikts noch keine Lösung, doch sie stellt immerhin fest: „Mittlerweile hat sich die Situation trotz Schwierigkeiten stabilisiert, und wir haben immerhin die Unomig.“

Gestützt auf das so genannte Boden-Papier, das eine Aufteilung der Hoheitsrechte zwischen Abchasien und Georgien im Rahmen eines Bundesstaats vorsieht, versucht die internationale Gemeinschaft weiterhin, die territoriale Integrität Georgiens zu bewahren – eine Lösung, die für Suchumi nicht akzeptabel ist. „Dieses Papier soll nur ein Ausgangspunkt sein“, erklärt Heidi Tagliavini. „Das Wichtigste ist, überhaupt Verhandlungen einzuleiten.“

Am 6. und 7. März 2003 trafen sich die Präsidenten Russlands und Georgiens in Sotschi zu Gesprächen über die Abchasienfrage. Die wichtigsten Punkte der von Putin und Schewardnadse unterzeichneten Vereinbarung sind: die Rückkehr georgischer Flüchtlinge in das Gebiet von Gali, die Wiedereröffnung der Eisenbahnlinie von Sotschi über Suchumi nach Tbilissi und die Modernisierung des Wasserkraftwerks am Inguri. Doch dieses als Fortschritt bezeichnete Dokument ist nicht viel mehr als eine Liste der aktuellen Probleme, vor allem was die Situation der Flüchtlinge aus Gali angeht. Das Treffen in Sotschi hat vor allem gezeigt, mit welchen Methoden Moskau die Bemühungen der Vereinten Nationen hintertreibt und eine umfassende politische Lösung des Konflikts erschwert.

deutsch von Edgar Peinelt

* Dokumentarfilmerin („Soukhoumi, rive noire“, Film über die jüngste Geschichte Abchasiens); Journalist in Tbilissi.

Fußnoten: 1 Nach Abschluss der Volkszählung von 1989 wurde die Bevölkerungszahl auf 525 000 beziffert, davon 46 Prozent Georgier, 18 Prozent Abchasen, 15 Prozent Armenier, 15 Prozent Russen und 3 Prozent Griechen. 2 „L’Empire et Babel: les minorités dans la perestroïka“, Le Genre humain, Nr. 20, Paris (Gallimard-Seuil) 1989. 3 Siehe Jean Radvanyi, „Georgien auf dem Weg in die Moderne“, Le Monde diplomatique, Januar 1996. 4 Überdies hat der russische Konzern Unified Energy System (UES) am 6. August die 75 Prozent Anteile der US-Firma AES Corp. an der AES Telasi übernommen, die für die Stromversorgung der georgischen Hauptstadt zuständig ist. 5 Zu dieser Gruppe gehören Frankreich, Russland, Deutschland, Großbritannien und die USA.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2003, von MATHILDE DAMOISEL und RÉGIS GENTÉ