10.10.2003

Gefährliches Spiel mit schwerem Wasser

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Gefährliches Spiel mit schwerem Wasser

DIE Internationale Atomenergiebehörde hat der Regierung in Teheran bis Ende Oktober Zeit gegeben, um nachzuweisen, dass sie kein geheimes Atomwaffenprogramm betreibt. Damit steht die UN-Behörde in einer Front mit den USA und der Europäischen Union, die dem Iran sogar mit dem Abbruch aller politischen und wirtschaftlichen Beziehungen droht. Die Europäer werden vor allem von der Sorge getrieben, dass Israel eine iranische Nuklearkapazität mit einem Präventivschlag ausschalten könnte, wie 1981 im Fall des Irak. Schon diese Befürchtung zeigt, dass Teheran in der Klemme ist. Das wird man bei den Bemühungen um eine Beilegung der Krise berücksichtigen müssen.

Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *

Die USA werden „die Entwicklung von Atomwaffen im Iran nicht dulden“. Diese unmissverständliche Erklärung, die Präsident George W. Bush am 18. Juni im Weißen Haus abgab, ist die deutlichste und härteste Drohung an die Adresse Teherans, seit Bush – in seiner berühmten Rede an die Nation vom 29. Januar 2002 – Iran, Irak und Nordkorea zur „Achse des Bösen“ erklärt hatte.

Kurz darauf warf die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) der iranischen Führung vor, Teile ihres Atomprogramms verdeckt zu betreiben, und die Europäische Union schloss sich der amerikanischen Forderung an, der Iran müsse sofort und bedingungslos das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag unterzeichnen, das unangekündigte Kontrollen vorsieht.

Ein direkter Konflikt zwischen den USA und dem Iran ist zweifelsohne eine konkrete Möglichkeit geworden, womöglich schon in den nächsten Monaten, vielleicht auch erst nach den Präsidentschaftswahlen in den USA – sofern man sich in Washington nicht grundsätzlich anders besinnt. Ob und wann es dazu kommt, wird von der aktuellen Lage abhängen.1

Die Entscheidung des Iran, ein Forschungsprogramm für den Bau einer Atombombe zu starten, fiel noch unter Schah Resa Pahlewi. Für die Vereinigten Staaten war der Iran damals – in der gespannten Atmosphäre der letzten Jahre des Kalten Kriegs – der wichtigste strategische Verbündete an der Südflanke der Sowjetunion. Deshalb hatten sie nichts gegen ein solches Projekt und haben es vermutlich sogar gefördert. Nach der islamischen Revolution im Iran wurde es jedoch eingestellt.

1982 besann man sich anders. Im Verteidigungskrieg gegen den Irak war der Iran durch ein Waffenembargo ins Hintertreffen geraten, sein Gegner verfügte über die modernste Rüstungstechnologie vorwiegend französischer und sowjetischer Provenienz. Bei der Entscheidung, das Atomprogramm wieder aufzulegen, spielten aber auch allgemeine strategische Erwägungen eine Rolle. Der Iran sah sich von Staaten umgeben, die Atomwaffen besaßen oder dabei waren, welche zu erwerben: die Sowjetunion und Israel, der Irak und Pakistan. Vor seiner Haustür lagen außerdem die Militärbasen der US-Luftwaffe und -Marine in der Golfregion. Auf diese Bedrohung glaubte die iranische Führung reagieren zu müssen, und auch heute wird ihre Rüstungspolitik wieder durch die militärstrategischen Gegebenheiten in der Region bestimmt.

Höchstwahrscheinlich plante der Iran nach 1982 neben der zivilen auch eine militärische Nutzung der Atomenergie. Trotz strengster Geheimhaltung gibt es Informationen, dass dieses Projekt gescheitert ist. Zudem hatte der Iran in der Zwischenzeit – wie alle Staaten in der Region, außer Israel – den Vertrag über die Nichtweitergabe von Nukleartechnologie (auch Atomwaffensperrvertrag genannt) unterzeichnet, der auch die Herstellung von Massenvernichtungswaffen untersagt.

Als 1997 die Reformer um Staatspräsident Mohammed Chatami die Regierung übernahmen, wurde das gesamte Atomprogramm einer erneuten Prüfung unterzogen – vor allem unter wirtschaftlichen Aspekten. Nach der islamischen Revolution von 1979 hatten alle ausländischen Ölkonzerne das Land verlassen, die USA verhängten ein Exportembargo (dem sich allein die französische Gesellschaft Total verweigerte). Es dauerte fast zehn Jahre, bis die iranische Förderquote wieder 4 Millionen Barrel pro Tag erreichte. Doch weil das Land aufgrund der wirtschaftlichen und demografischen Entwicklung mittlerweile einen deutlich höheren Inlandsverbrauch verzeichnet, kann es heute nur noch etwa 2 Millionen Barrel pro Tag exportieren. Zwar dürfte es seine Energieexporte dank der Erschließung neuer Erdgasvorkommen auf lange Sicht steigern können, doch im Hinblick auf die iranische Außenhandelsbilanz kann man die Atomenergie durchaus als eine sinnvolle Option ansehen.

Die Führung in Teheran mag glaubhaft versichern, dass man noch keine Atomwaffen hergestellt hat, aber sie glaubt zweifellos, dass der Iran dazu in der Lage sein sollte. Die Anschuldigungen der Vereinigten Staaten stützen sich auf eine eindrucksvolle Menge von Informationen und daraus abgeleiteten Annahmen, die die IAEO in einem Bericht vom 6. Juni 2003 vorgelegt hat.2 IAEO-Generaldirektor Mohammed al-Baradei warf den iranischen Regierungsstellen zwar vor, Teile ihres Atomprogramms verschleiert zu haben, ließ sich aber auch unter dem Druck der USA nicht zu der Aussage bewegen, der Iran habe den Atomwaffensperrvertrag verletzt.

Allerdings gewann er aus Informationen auf höchster Ebene (vor allem in Frankreich) eine Reihe von Hinweisen auf Aktivitäten, die für die Entwicklung eines militärischen Atomprogramms Sinn machen. Angeblich fanden sich sowohl Einrichtungen, in denen waffenfähiges Uran mit Hilfe der nötigen Zentrifugen hergestellt werden konnte, als auch Spuren der Anwendung von Plutonium. Und auch die Erzeugung von schwerem Wasser überstieg offenbar deutlich den Bedarf einer zivilen Nutzung in Reaktoren oder der chemischen Industrie.3

Nach Ansicht der US-Regierung wird der Iran binnen Jahresfrist in der Lage sein, waffenfähiges Nuklearmaterial zu erzeugen. „Wir schließen daraus“, erklärte US-Außenminister Colin Powell im März dieses Jahres in einem CNN-Interview, „dass eine Nation, die eigene Atomwaffen entwickeln will, alle dazu nötigen Vorkehrungen geheim halten kann, sogar gegenüber ausländischen Inspektoren oder Beobachtern.“4

Welche Folgen hätte es für die internationalen militärischen Kräfteverhältnisse, wenn der Iran Atomwaffen besäße? Das Land ist nach wie vor von Atommächten umgeben, und die Führung in Teheran nimmt nicht ganz zu Unrecht an, dass eines der Resultate – wenn nicht der Ziele – des jüngsten Krieges gegen den Irak die Einkreisung des Iran gewesen ist. Die USA haben inzwischen Truppen nicht nur am Golf, im Irak, in Pakistan und Afghanistan, sondern auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens stationiert – und sogar im Kaukasus.

In Teheran hat man nicht vergessen, wie sich der Krieg gegen den Irak (1980 bis 1988) entwickelte. Die Streitkräfte Saddam Husseins, der damals die Unterstützung des Westens genoss, verfügten über ein hochmodernes Arsenal und setzten unter anderem chemische Waffen ein. Diese Überlegenheit konnte das iranische Oberkommando nur durch die Zahl seiner Soldaten ausgleichen. Deshalb wurden immer neue Infanteriedivisionen in die Schlacht geworfen, um den Vormarsch des Gegners zu stoppen, Gegenoffensiven zu starten und die irakische Front aufzubrechen. Allerdings waren diese Vorstöße außerordentlich verlustreich. In eine solche Lage will die iranische Führung keinesfalls erneut geraten.

Und sie sieht neue Gefahren: Die Besetzung des Irak und die nachfolgenden Krisen könnten unmittelbare Auswirkungen auf den Iran haben. Falls die irakischen Kurden ihre Autonomiepläne durchsetzen könnten, bliebe dies natürlich nicht ohne Folgen für das iranische Kurdistan. Auch in den südöstlichen Grenzregionen des Iran herrscht wegen der neuen bürgerkriegsähnlichen Konflikte in Afghanistan eine gewisse Unruhe. Israel erklärt nach wie vor, dass es im Iran seinen gefährlichsten regionalen Gegner sieht, und neuerdings kommen auch aus Washington sehr offene und konkrete Drohungen.

Unter den denkbaren Konfliktszenarien ist die Konfrontation mit Israel offensichtlich die gefährlichste Variante. Die Machthaber in Teheran sind überzeugt, dass die Regierung Scharon nur auf die Gelegenheit wartet, die iranischen Atomanlagen zu zerstören – nach dem Vorbild von Ministerpräsident Menachem Begin, der 1981 mit einem Luftangriff den irakischen Reaktor in Tamus zerstören ließ. Die Verwundbarkeit des Iran ist aus Sicht Teherans also nur zu kompensieren, wenn auch das – besonders kleine – israelische Staatsgebiet verwundbar ist. Nach dieser Logik könnte sich der Iran nur durch eine eigene Abschreckungskapazität schützen.

Unterhalb dieser Schwelle hätte der Iran noch die Möglichkeit, eingeschworene Gegner Israels zu mobilisieren, die er durch Rekrutierung, Finanzierung und Ausrüstung unterstützen kann – wie etwa die militanten Gruppierungen im Libanon oder in Palästina. Aber mit solchen Manövern wäre die Gefahr einer Intervention der USA zugunsten Israels verbunden. Also erscheint es sinnvoller, ein nukleares Abschreckungspotenzial aufzubauen, das wahrscheinlich nur dazu dienen soll, die Nachbarstaaten von Atomschlägen gegen den Iran abzuhalten. Für diesen Zweck reichen Mittelstreckenraketen wie die Schahab-3, die mit einer Reichweite von 1 300 Kilometern das israelische Territorium erreichen kann. Die Einheiten der iranischen Revolutionswächter verfügen bereits über diese Waffe.5

Wie wird es mit der aktuellen Krise zwischen Iran und den USA weitergehen? Schwer vorstellbar ist, dass sich die US-Regierung auf einen Krieg nach dem Vorbild der Invasion im Irak einlässt. Der Iran wäre allein schon angesichts seiner territorialen Ausdehnung, seiner Bevölkerungszahl und seiner Ressourcen ein Gegner von ganz anderem Kaliber. Dieses Land zu erobern und zu besetzen würde die militärischen Kapazitäten selbst der Vereinigten Staaten übersteigen.

Die iranischen Streitkräfte sind allerdings schlecht ausgerüstet und überdies im Innern gespalten.6 Auf der einen Seite steht die traditionelle Armee, die nach der islamischen Revolution entmachtet wurde, aber im Krieg gegen den Irak ihre Loyalität gegenüber der neuen Regierung bewiesen hat. Auf der anderen Seite stehen islamische Milizen wie die Revolutionswächter (pasdaran), eine Truppe von wenigstens 100 000 Mann, die über Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge verfügt und eigene Rüstungsbetriebe unterhält.

Widerstand würde voraussichtlich aber auch die Bevölkerung des Iran leisten. Vielleicht mit Ausnahme der Kurden im Nordwesten und der Balutschen im Südosten, dürften alle Iraner genug Nationalgefühl besitzen, um jeder Invasion die Stirn zu bieten. Auch die Kräfte der demokratischen Opposition gegen das Regime der Mullahs, denen die USA wiederholt zweifelhafte Unterstützungsangebote gemacht haben, werden bestimmt für die Unabhängigkeit ihres Landes eintreten.

Denkbar wären allerdings Angriffe der US-Luftwaffe auf bedeutende Militäreinrichtungen, auf Forschungszentren und Versuchsanlagen, die dem iranischen Atomprogramm dienen. Der Iran würde dieser Herausforderung vermutlich auf mehreren Ebenen begegnen. Erstens könnte Teheran durch seinen Einfluss auf die Schiiten im Irak für eine Ausweitung des bewaffneten Widerstands sorgen. Zweitens könnte die Führung in Teheran aber auch ihre bislang negative Haltung gegenüber islamistischen Terrorgruppen korrigieren. In diesem Fall würden diese Gruppen ihre Anschläge wohl auf die Golfregion konzentrieren, wo sie auf Unterstützung in der schiitischen Bevölkerung zählen können, die in mehreren Golfstaaten die Bevölkerungsmehrheit stellt. Damit wären die Interessen der Vereinigten Staaten direkt bedroht.

Nicht zuletzt hätte das iranische Regime aber auch die Möglichkeit, die schiitischen Hasara in Afghanistan für seine Zwecke zu mobilisieren und die von den USA eingesetzte Regierung in Kabul zu destabilisieren. Sollte es wirklich zu einem Waffengang zwischen den USA und dem Iran kommen, wäre auf jeden Fall mit unabsehbaren Folgen zu rechnen.

deutsch von Edgar Peinelt

* Journalist, Autor von „Dernier Empire“, Paris (Grasset) 1996.

Fußnoten: 1 Siehe Paul-Marie de la Gorce, „Vorsorgliche Belagerung“, Le Monde diplomatique, Juli 2003, und Bernard Hourcade, „Iran, nouvelle identité d’une République“, Paris (édition Bélin) 2002. 2 „Implementation of the NPT safeguards in the Islamic Republic of Iran, Report of the General Director“, 6. Juni 2003 (www.fas.org/nuke/guide/iran/iaea0603.html). 3 „Latest Developments in the Nuclear Program of Iran, in Particular on the Plutonium Way“, Mai 2003 (http://projects.sipri.se/expcon/nsg_plenary03-f.htm). 4 „Iran Closes in on Ability to Build a Nuclear Bomb“, Los Angeles Times, 4. August 2003. 5 „Iran’s Search for Weapons of Mass Destruction“, Veröffentlichung des Center for Strategic and International Studies, 7. August 2003 (csis.org/burke/irans_search_wmd. pdf). 6 Bernard Hourcade, s. Anm. 1.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2003, von PAUL-MARIE DE LA GORCE