Das Scheitern der USA nicht einfach abwarten
Die USA haben Tatsachen geschaffen: Ihr Einmarsch im Irak erfolgte ohne UN-Mandat und ohne die Zustimmung der meisten arabischen Länder in der Region. Es bleibt offen, ob sie damit am Ende Erfolg haben werden – die jüngsten Anschläge dürften nur der Auftakt großer Probleme sein. Aber selbst das proklamierte Maximalprogramm Washingtons, die umfassende Demokratisierung der gesamten Nahostregion, steckt voller Widersprüche. Amerika täte gut daran, die politischen und sozialen Bewegungen in der Region zu berücksichtigen, und die arabischen Länder täten gut daran, Modernisierung und Demokratisierung in die eigenen Hände zu nehmen.
Von HICHAM BEN ABDALLAH EL ALAOUI *
EINE Spruchweisheit besagt, dass man sich seine Wünsche gut überlegen sollte, denn sie könnten in Erfüllung gehen. Die USA haben im Irak anscheinend bekommen, was sie wollten: einen schnellen militärischen Erfolg, der Saddam Husseins Regime und allen von ihm womöglich ausgehenden Gefahren ein Ende machte. Und einen Brückenkopf für ihren Feldzug zur Demokratisierung und Neuordnung des Nahen Ostens.
Eine Tatsache steht außer Zweifel, und wir sollten sie anerkennen und als Herausforderung annehmen: Die Strategie der US-Regierung mag uns nicht passen, aber Washington hat wenigstens eine, und zwar eine sehr ehrgeizige. Und sie nutzt ihr gewaltiges Machtpotenzial, um die gewünschten Ziele durchzusetzen. Wenn uns die Politik der Bush-Regierung nicht gefällt, sollten wir unsere eigene Strategie entwickeln und unsere ganzen Kräfte für unsere eigenen Ziele mobilisieren. Aber dabei haben wir die unbestreitbare Tatsache anzuerkennen, dass die globalen Machtverhältnisse von großer Ungleichheit geprägt sind. Denn obwohl die meisten Staaten der Welt gegen diesen Krieg waren, konnten sie ihn doch nicht verhindern.
Die arabischen und muslimischen Länder machen dabei eine besonders traurige Figur: Sie konnten sich dem US-amerikanischen Vorhaben nicht entgegenstellen, und sie schaffen es nicht einmal mehr, eine geschlossene Haltung zur Verteidigung ihrer Interessen einzunehmen. An die Stelle siegesgewisser panarabischer Parolen ist längst die ernüchternde Einsicht getreten, dass unsere Länder in politischer, sozialer und militärischer Hinsicht schwach und hinfällig sind. Solange wir diese Atrophie nicht überwinden, werden andere den Lauf der Welt bestimmen. Mit dem Entschluss, den Irak zu erobern, haben die Vereinigten Staaten neue Verhältnisse geschaffen. Damit müssen nicht nur sie sich nun auseinander setzen, sondern auch wir. Man kann nur hoffen, dass die arabischen Staaten die Gelegenheit nutzen, die neue Ordnung mitzugestalten – zum Nutzen ihrer Völker.
Auch im Sinn eines liberalen, pragmatischen und demokratischen arabischen Nationalismus sind im Nahen Osten einige Veränderungen dringend geboten. Das gegenwärtige Bild ist eher düster.
Es dominieren die Regime von starken Männern und Einheitsparteien, die unfähig sind, die offenkundigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den Ländern zu lösen, sich aber allen demokratischen Reformen verweigern. Zugleich wächst der Einfluss fundamentalistischer und dschihadistischer Gruppen; immer häufiger stehen sich weltliche Diktatoren und islamische Fundamentalisten in erbitterter Feindschaft gegenüber. Keine Bewegung – ob sie von den Machthabern, den Eliten oder von ganz unten ausging – konnte bisher eine Entwicklung zum Besseren herbeiführen.
Der Schrecken, den diese instabilen Staaten und ihre aggressiven inneren Gegner verbreiten, sollte Grund genug sein, sich für einen Wandel innerhalb der arabischen Gesellschaften einzusetzen. Seit dem 11. September 2001 steht dieses Problem im Westen an der Spitze der Prioritätenliste. Der Nahe Osten scheint Europa als Nabel der Weltpolitik abgelöst zu haben: Die Weichenstellungen, die über die Zukunft der Welt entscheiden, sollen offenbar in dieser Region vorgenommen werden.
Dabei ist der Nahe Osten nicht als Arena für einen „Kampf der Kulturen“ vorgesehen, sondern als die Region, in der ganz neue Rahmenbedingungen für Ausgleich und weltweite Zusammenarbeit entstehen, zu denen Demokratie, Volkssouveränität, nationale Unabhängigkeit und das Recht auf nationale Selbstverteidigung gehören müssen. Aber damit steht auch das Problem der „präventiven“ Intervention auf der Tagesordnung – die Frage also, wer das Recht hat, über Gewaltmittel zu verfügen und diese begrenzt oder umfassend einzusetzen oder mit deren Einsatz zu drohen, um seine Ziele zu erreichen.
Natürlich bleiben alle möglichen Antworten auf diese Frage umstritten. Auch der Versuch der USA, diese historische Entwicklung nachhaltig zu beeinflussen, ist bei all seiner Waghalsigkeit nicht frei von Widersprüchen. Es kann durchaus sein, dass die angestrebten Ziele am Ende dramatisch verfehlt werden.
Washington hatte eine Reihe von Gründen für die Intervention im Irak angeführt, die sich als wenig stichhaltig erwiesen: die allgemeine Gefahr, die vom Regime der Baath-Partei unter Saddam Hussein ausgegangen sei, dessen Beziehungen zu al-Qaida, die Massenvernichtungswaffen. Die internationale Gemeinschaft war davon nicht zu überzeugen, auch in den USA haben diese Behauptungen längst jede Glaubwürdigkeit verloren. Im Übrigen mussten auch die Falken in der US-Regierung inzwischen einräumen, dass es sich eher um taktische Argumente als um beweisbare Vorwürfe handelte.
Alles deutet darauf hin, dass die Eroberung des Irak vor allem als erster Schritt auf dem Weg zu einer Neubestimmung der geopolitischen Rolle der USA zu sehen ist. Das Konzept dazu gab es schon lange vor dem 11. September 2001 – doch erst danach konnte sich die US-Regierung der Unterstützung der Bevölkerung für einen weltweiten Kampf gegen den Terrorismus sicher sein. Als im September 2002 die neue „Nationale Sicherheitsstrategie“ (NSS) der USA vorgestellt wurde, meinte der US-amerikanische Publizist William Pfaff, es handele sich implizit um „die Abkehr der USA von jener modernen Ordnung der Staaten, die seit dem Westfälischen Frieden von 1648 die internationalen Beziehungen regelte […] – mit dem Ziel, die bestehenden Prinzipien staatlicher Legitimität abzulösen“.1 Im Rahmen dieser Strategie erklärten sich die USA für legitimiert, „unilateral zu entscheiden, ob ein Staat in der Zukunft zur Bedrohung werden kann, […] und daraufhin einen Präventivschlag gegen ihn zu führen, wenn nötig auch einen ,Regimewechsel‘ herbeizuführen“.2 Die von Pfaff kritisierte NSS postuliert eine US-amerikanische Vorherrschaft in allen Weltregionen und das Recht zu „präventivem“ Eingreifen mit dem Ziel, „feindlichen Handlungen ihrer Gegner zuvorzukommen“ und potenzielle Feinde von einer militärischen Aufrüstung abzubringen, mit denen diese das Machtpotenzial der USA „zu übertreffen oder zu erreichen hoffen“.
Gemäß dieser Strategie steht im Nahen Osten ein radikaler Kurswechsel an: Sind erst die politischen und wirtschaftlichen Grundsätze der USA erfolgreich eingeführt, hofft man auch die entsprechenden moralischen, kulturellen und gar religiösen Wertvorstellungen durchsetzen zu können. Die Eroberung des Irak soll den islamischen Fundamentalismus eindämmen, die Unterstützung für den palästinensischen Widerstand schwächen und am Ende die Palästinenser – wie die Araber insgesamt – zur Annahme eines Friedensplans bewegen.3 Außerdem wollen sich die USA entscheidenden Einfluss innerhalb der Organisation Erdöl exportierender Länder (Opec) verschaffen, was stabile Rohölpreise und die Rolle des Dollars als globale Leitwährung garantieren würde.
Das sind kühne, geradezu missionarische Vorhaben. Nicht zuletzt von Kennern wie Bernard Lewis und Fouad Ajamai hat man sich in Washington überzeugen lassen, dass der Niedergang einer arabischen Welt, die zu Reformen aus eigener Kraft nicht fähig ist, zu immer schlimmeren Formen von antiamerikanischem Terrorismus führen werde. So galt nach dem 11. September die Parole, man müsse, um Extremisten vom Schlage der al-Qaida den Zugriff auf Massenvernichtungswaffen zu verwehren, Regime wie das irakische vernichten und einen Wandel in der politischen Kultur des Nahen Ostens herbeiführen. Damit war die Strategie der Vorwärtsverteidigung als defensives Konzept legitimiert.
Tatsächlich geht die größte Gefahr von Atomwaffen aus. Deren Herstellung erfordert industrielle und wissenschaftliche Ressourcen, die nur an wenigen Orten vorhanden und relativ leicht zu überwachen sind. Chemische und biologische Waffen haben sich in der Praxis als weniger schlagkräftig erwiesen, zudem kann ihr Einsatz die eigene Seite gefährden. Aber sie sind viel einfacher herzustellen und zu verbreiten. Mit Hilfe des Sammelbegriffs „Massenvernichtungswaffen“ kann die US-Regierung im Grunde jedes arabische oder islamische Land zur potenziellen Gefahr erklären, das eine chemische oder pharmazeutische Industrie besitzt: Aus solchen Anlagen, und seien sie noch so bescheiden, könnten schließlich eines Tages Terroristen ihre Waffen für Anschläge auf die USA und ihre Verbündeten beziehen. Für die Staaten des Nahen Ostens bedeutet dies: Allein die Tatsache, dass sie ein bestimmtes Entwicklungsniveau erreicht haben, macht sie zu einer Bedrohung – es sei denn, sie schließen sich ohne Wenn und Aber dem US-amerikanischen Lager an.
Darüber hinaus haben die USA mit ihrer Forderung nach Einstellung von Nuklearprogrammen eine neue aggressive unilaterale und „präventive“ Doktrin der Rüstungskontrolle formuliert, durch die das alte, international anerkannte System der Verträge über die Nichtweitergabe (non-proliferation) von Atomwaffen hinfällig wird: Nach den Maßgaben der „Weiterverbreitungs-Abwehr“ (active counter-proliferation) dürfen eigentlich nur noch die USA und ihre engsten Verbündeten über Atomwaffen verfügen und sie als Druckmittel verwenden.
Noch beunruhigender ist die Tatsache, dass die neue Strategie militärische Gewalt als probates Mittel zur Erreichung politischer Ziele vorsieht, nach dem Motto: „Eine andere Sprache verstehen sie nicht.“ Den Staaten, die sich nicht fügen wollen, verordnen die USA einen „Regimewechsel“, notfalls mit Gewalt und unter Missachtung des Völkerrechts.
Ein derart aggressives Konzept – das innerhalb der internationalen Gemeinschaft weitgehend auf Ablehnung stößt – setzt in extremem Maß auf die Effektivität der Militärtechnologie. Die US-amerikanische Öffentlichkeit, die auf eigene Verluste in einem Krieg stets außerordentlich sensibel reagiert, hat sich zu der neuen Strategie erst bekehren lassen, als ihr glaubhaft gemacht wurde, dass eine echte Bedrohung bestehe und die Chancen für einen Sieg gut stünden. Den Verfechtern dieses aggressiven Unilateralismus war durchaus klar, dass ihnen niemand ihr Unternehmen abkaufen würde – „ohne die Katalysatorwirkung einer Katastrophe in der Art von Pearl Harbour“4 . Die traumatisierenden Ereignisse des 11. September brachten ihnen dann die notwendige Zustimmung.
So viel fanatischer Eifer erregt Angst und Besorgnis sogar in den traditionellen Kreisen des außenpolitischen Establishments, die in Washington kaum noch Gehör finden. Jeder begreift, welche Gefahr eine Destabilisierung der gesamten arabischen Welt birgt. Lawrence Eagleburger, Außenminister unter George Bush sen., erklärte sogar: „Wenn George W. Bush wirklich beschließt, seine Truppen gegen Syrien und den Iran marschieren zu lassen […], dann muss man ihn meiner Meinung nach des Amtes entheben.“5
Nicht nur Iran und Syrien sind ins Visier genommen worden, auch Saudi-Arabien gerät immer mehr in die Kritik. In den USA streiten sich Traditionalisten und Neokonservative über die Einschätzung dieser drei Staaten. Die Vertreter traditioneller Außenpolitik halten einen Militärschlag gegen Teheran für abenteuerlich und setzen darum auf Unterstützung des innenpolitischen Wandels. Sie wollen die Beziehungen zu den gemäßigten Kräften pflegen, um langfristig eine Reform des politischen Systems zu unterstützen, eine Verhandlungslösung in der Nuklearkrise zu erreichen, die Öllieferungen nicht zu gefährden und – nicht zuletzt – besser mit den Schiiten im Irak zusammenzuarbeiten. Den Neokonservativen dagegen fehlt sogar die Geduld für Verhandlungen mit den „nicht ganz so fundamentalistischen“ iranischen Geistlichen – in ihren Augen wäre es „naiv“, sich auf deren Zusicherungen zu verlassen, keine Atomwaffen bauen zu wollen. Die Zeichen stehen also auf Sturm.
Syrien soll nach dem Willen der Bush-Regierung jede Unterstützung für militante Palästinensergruppen und für die libanesische Hisbollah einstellen. Während die Traditionalisten bereit sind, Präsident Assad im Gegenzug gewisse Garantien in Bezug auf den Libanon, den Golan und den Fortbestand des baathistischen Regimes zu geben, suchen die Falken offenbar die Konfrontation. Sie warfen Damaskus sogar vor, die Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins zu verstecken –wenn nicht gar ihn selbst. Obwohl Syrien schon mit dem Lob bedacht wurde, „im Kampf gegen al-Qaida zu den verlässlichsten Partnern der CIA“ zu gehören6 , sind im Irak stationierte US-Truppen im Juli bei einer Kommandoaktion auf syrisches Gebiet vorgerückt.
Auch am Beispiel Saudi-Arabien lassen sich die grundsätzlichen Gegensätze zwischen Traditionalisten und Neokonservativen studieren. Der einen Fraktion geht es vor allem ums Öl: Sie sehen die USA nach wie vor als Schutzmacht Saudi-Arabiens, so wie es 1945 in einem Vertrag zwischen dem Königshaus und Präsident Roosevelt festgelegt wurde, der den USA eine billige und verlässliche Versorgung mit saudischem Öl sicherte. Die Gegenseite will Riad härter angehen. Sie wirft den Saudis nicht nur die Unterstützung palästinensischer Kämpfer und radikalislamischer Gruppen vor, sondern sieht sie auch in die Anschläge vom 11. September verwickelt: die Staatsführung habe von der Verschwörung gewusst und sie finanziert. Es sei kein Zufall, dass Bin Laden und die meisten der Attentäter aus Saudi-Arabien stammten. Die strenge Glaubensrichtung des wahhabitischen Islam, an der in den Zeiten des Kalten Krieges niemand Anstoß nahm, nehmen die Neokonservativen heute als so gefährlich wahr, dass sie die Monarchie auffordern, sich von ihrer Legitimität stiftenden Staatsreligion loszusagen.
Arabische Demokratie wagen
SOLCHE Rundumschläge und ihre absehbaren Folgen machen den Vertretern einer gemäßigten außenpolitischen Linie erhebliche Sorgen. In den USA wie in vielen anderen Ländern befürchtet man, dass von einer Ausweitung der Krise auf die gesamte Nahostregion vor allem radikalislamische Gruppen profitieren werden. Doch die Hardliner halten an ihrer Vorstellung vom reinigenden Gewitter in der Region fest: Vielleicht werde es anfangs unerwünschte Folgen geben, solche Reaktionen seien aber auch geeignet, den undemokratischen Charakter der Regime und Gesellschaften, die Terroristen hervorbringen, deutlich hervortreten zu lassen. Die USA würden damit gezwungen, „in einer längeren Zeitspanne der Vorstöße und Gegenangriffe“7 die Auseinandersetzung konsequent weiter zu führen – bis endlich im gesamten Nahen Osten eine demokratische Kultur durchgesetzt sei.
Wird sich der Irakkrieg als „historischer Wendepunkt“ erweisen, was immer man darunter verstehen mag? Besetzung und Wiederaufbau des Irak sind ja nur der Anfang. Und es gibt in der Geschichte genügend Beispiele dafür, wie schwierig es ist, unter einem Besatzungsregime Vertrauen herzustellen, neue Institutionen zu schaffen und unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zum Aufbau einer multiethnischen Gesellschaft zu bewegen.
Die gegenwärtigen Bemühungen der USA sind kaum legitimiert: Keine relevante Gruppe innerhalb des Irak hat die US-Invasion gewünscht, die Mehrheit der Staaten der Welt lehnte sie ab. Das Besatzungsregime im Irak hat es mit einer völlig zerstörten Infrastruktur zu tun, und die Amerikaner und ihre Alliierten müssen den Irakern und der Welt nun beweisen, was sie zu leisten vermögen. Auf diese Nachkriegssituation waren sie in keiner Weise vorbereitet. Selbst die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – was ja die Einrichtung neuer Institutionen von der Ortspolizei bis zum nationalen Justizwesen einschließt – überfordert die Fähigkeiten der Armee. In Washington ging man offenbar davon aus, man könne einfach den intakten Staatsapparat des Baath-Regimes übernehmen.
Die Zerstörungen im Irak und die hochfliegenden Pläne der USA erfordern einen enormen Aufwand an Kosten und Arbeitskraft. Und solange Washington auf seiner Führungsrolle im Irak beharrt, wird es diese Last allein tragen müssen. Die Hälfte der kampffähigen US-Streitkräfte ist heute im Irak stationiert, die jährlichen Kosten der Besatzung werden auf 60 Milliarden US-Dollar geschätzt. Es wird Jahre dauern, bis die Einkünfte aus der Erdölförderung diese Kosten decken können. Nun könnte es die USA extrem teuer zu stehen kommen, dass sie sich auf diplomatischer und politischer Ebene so selbstgewiss gegeben haben. Solange Washington den politischen Kurs allein bestimmen will, wird niemand bereit sein, sich an den Folgekosten des Krieges zu beteiligen: Ohne eine breitere Legitimationsbasis wird man nicht vorankommen.
Die Verbündeten – vor allem die geschmähten Staaten des „alten Europa“ – wollen von weiteren Truppenentsendungen bislang nichts hören. In ihrem verzweifelten Bemühen, wenigstens symbolisch die Last des Nachkriegs auch mit einem „Land der Dritten Welt“, nach Möglichkeit einem muslimischen, zu teilen, kamen die USA wieder einmal auf die Türkei zurück. Der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz erläuterte bei dieser Gelegenheit seine Vorstellung von Demokratie, als er den türkischen Militärs den Vorwurf machte, sie hätten das türkische Parlament nicht genügend unter Druck gesetzt, um dessen Zustimmung zur Entsendung von Truppen zu erzwingen.
Dass die Angriffe auf die Besatzungstruppen nicht aufhören, lässt die Beteiligung anderer Länder erst recht geboten erscheinen, aber dadurch ist sie zugleich noch schwerer zu erlangen. Das Ergebnis der Intervention wird vor allem vom Verhalten der wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte im Irak selbst abhängen. Mit ihren Bemühungen, das Heft in der Hand zu behalten, haben die Amerikaner bislang nur die Wut verstärkt, die sich am Zusammenbruch von Infrastruktur und Sozialsystemen entzündet hat. Bei Razzien von US-amerikanischen Stoßtrupps und an Straßensperren kommen immer wieder ganze Familien ums Leben. Kein Tag vergeht ohne Demonstrationen und Aufrufe zur Beendigung des Besatzungsregimes.
Lokal gewählte Repräsentanten wurden von den Besatzungsbehörden abgesetzt; ersatzweise trommelte man in aller Eile einen irakischen „Regierenden Übergangsrat“ zusammen. Viele Iraker, vor allem die Schiiten, nehmen eine abwartende Haltung ein, andere lassen ihre grausame Wut an Kollaborateuren aus. Niemand weiß, welches Ausmaß der bewaffnete Widerstand noch annehmen wird und wer tatsächlich dahinter steckt, aber ganz sicher sind es nicht nur die letzten Getreuen Saddam Husseins. Allgemeine Einigkeit besteht jedoch darüber, wie die entscheidenden Fragen lauten: Gelingt der Wiederaufbau der Infrastruktur und können die sozialen Grundbedürfnisse befriedigt werden? Wird die staatliche Macht wieder in die Hände von Irakern gelegt? Und können die verschiedenen ethnischen, tribalen, regionalen und religiösen Gruppen mit einer angemessenen Interessenvertretung rechnen?
Die Kurden, die im Norden bereits seit 1991 eine Selbstverwaltung praktizieren, dienen sich den USA als Bündnispartner an und vermeiden bislang alle Forderungen, die diese Entente stören könnten. Die Sunniten dagegen, die ihre Vormachtstellung verloren haben, verharren in ihrer Abwehrhaltung. Weltlich orientierte Christen und Muslime fürchten eine zunehmende Islamisierung. Die Schiiten, die 60 Prozent der Bevölkerung ausmachen, haben von einer neuen politischen Ordnung das meiste zu gewinnen: Sie sind die Unterdrückung durch das baathistische Regime losgeworden und sollten die US-Intervention eigentlich als positive Entwicklung begrüßen. Mit ihnen müssen die USA zusammenarbeiten, wenn ihr Vorhaben gelingen soll.
Auch der Widerstand ist auf die Unterstützung durch die Schiiten angewiesen. Sollte es zu diesem brisanten Bündnis kommen, könnten sich die USA nur dadurch zur Wehr setzen, dass sie das Land in Schutt und Asche legen – womit auch ihre ganze moralische und politische Legitimation vernichtet wäre. Andererseits droht die Spaltung des Irak, falls die Schiiten eine Vormachtstellung gewinnen. Dann würden sich Sunniten, Christen und laizistische Iraker zu einem Gegenbündnis zusammenschließen, und die Kurden würden erneut ihre volle Autonomie anstreben. Erfolg oder Scheitern der US-amerikanischen Pläne hängt also davon ab, ob die Schiiten bereit sind, eine genau austarierte Balance zwischen Unterstützung, Zurückhaltung und Feindseligkeit einzuhalten.
Als Zwischenstation zu einer geeinten irakischen Nation ist der von den USA eingesetzte Regierungsrat gedacht, ein abhängiges Gremium, in dem die Schiiten über die Mehrheit verfügen. Doch denen geht das alles zu langsam: Die Ajatollahs in Nadschaf, der heiligen Stadt des schiitischen Islam, haben bereits klar gemacht, dass ihnen die Präsenz der US-Armee wenig behagt. Ajatollah Ali Sistani, der höchste Würdenträger im Rat der Religionsgelehrten von Nadschaf (hausa al-ilmija) ist seit jeher für eine Machtübernahme durch die Schiiten: In einer Fatwa hat er gefordert, ohne Einmischung der USA einen Ausschuss zu bilden, der eine Verfassung zu erarbeiten hat, die dann einem Plebiszit unterwerfen werden soll. Die „Oberste Versammlung der islamischen Revolution in Irak“ (Sciri), von dem aus dem Exil zurückgekehrten Ajatollah Mohammed Bakir al-Hakim bis zu dessen Ermordung am 29. August 2003 geführt, verfügte sogar über einen „bewaffneten Arm“ – die Al-Badr-Brigade. In den Jahren des Baath-Regimes residierte die Sciri im Iran, nun hat sie Vertreter in die Übergangsregierung entsandt. Weniger friedlich gibt sich die Bewegung von Muqtada al-Sadr, die ihre Gefolgschaft vor allem unter der Jugend und in den ärmeren Schichten findet. Bei seinen Auftritten verliest er Grußadressen aus dem Iran, fordert eine staatliche Ordnung nach iranischem Vorbild und sogar eine „islamische Armee“. Er wettert gegen Amerika, Saddam, den Kolonialismus und die „feigen“ Mitglieder des Übergangsrates. Den gewaltsamen Widerstand zu predigen vermeidet er bislang – der Rat der Gelehrten würde dies nicht billigen.
Noch herrscht keine Klarheit über das künftige Kräfteverhältnis zwischen weltlichen und religiösen Kräften innerhalb der schiitischen Gemeinschaft. Werden die Schiiten für die Demokratie optieren oder für die Theokratie? Wie werden sich ihre Beziehungen zu den anderen irakischen Bevölkerungsgruppen und den US-Institutionen entwickeln? Die USA könnten ungewollt den islamischen Fundamentalismus fördern, wenn sie zu sehr auf das Bündnis mit den Schiiten bauen.
„Saddam City“, das Armenviertel von Bagdad, wird inzwischen „Sadr City“ genannt, weil es von den Leuten des Muqtada al-Sadr kontrolliert wird, die über „dicke Bündel von Diaren“ aus US-amerikanischen Quellen verfügen. Ihr Beitrag zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung sieht so aus: Sie rufen dazu auf, Kinos niederzubrennen, sie stürmen Läden, in denen Alkohol verkauft wird, sie verprügeln Männer, die keinen Bart tragen; sie fordern, dass alle Frauen, auch Christinnen, den Schleier tragen und dass unverschleierte Frauen und „Sünderinnen“ mit dem Tod zu bestrafen seien.8
Solche Szenen erinnern natürlich fatal an frühere Entwicklungen im Iran und in Afghanistan. Würde der Herrschaft Saddams ein Regime von Ajatollahs folgen, wäre nicht nur die staatliche Einheit des Irak gefährdet. Auch die schiitischen Fundamentalisten in der Region hätten Oberwasser, was für Washington ein politisches Debakel wäre. In der Schiitenfrage wird die Kluft deutlich, die sich für die USA zwischen ihrem Anspruch, den Irak zu demokratisieren, und der realpolitischen Notwendigkeit auftut, bis zum Schluss die Kontrolle zu behalten. Aber was können die USA den Schiiten schon abschlagen? Und die müssen, um die Besatzer in Schwierigkeiten zu bringen, nichts weiter tun, als nichts zu tun.
Dass es wesentlich einfacher ist, eine Armee zu besiegen, als eine Nation zu schaffen, hat sich in Afghanistan wie auf dem Balkan mit bedauerlicher Deutlichkeit gezeigt. Umso schwieriger dürfte es sein, für kulturellen Wandel in einer ganzen Region zu sorgen. Die Neokonservativen begründen ihren imperialen Anspruch mit der politischen Kultur in den arabischen Staaten und der Besorgnis, diese bringe extremistische Strömungen hervor.9 Aber eine Wende zum Besseren – die auch viele Araber wünschen – ist durch einen Eroberungsfeldzug allein nicht zu bewirken. Die USA selbst erklären, dies sei nur der erste Schritt. Völker sind komplexe, plurale Gebilde, die meist sehr hartnäckig auf ihrer kulturellen Eigenheit bestehen. Mit Patentrezepten aus Übersee dürfte dagegen wenig auszurichten sein.
Politische Klugheit und moralische Fantasie sind gefragt, um im Nahen Osten die dringend gebotene Demokratisierung zu erreichen. Dazu gehört, dass solche Kräfte gestützt werden, die sich seit jeher für diese Ziele eingesetzt und dafür ihr Leben und ihre Freiheit riskiert haben: Dissidenten, Journalisten, Gewerkschafter, Frauen- und Bürgerrechtsvereinigungen, aber auch islamische Reformer, die gegen alle extremistischen Positionen die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie behaupten. Man muss lernen, islamische Bewegungen differenziert zu betrachten: Nicht alle sind gewaltbereite Dschihadisten, viele könnten in der Politik ihres Landes eine ähnliche Rolle spielen wie etwa die Christdemokraten in Europa.
Auf islamische Reformbewegungen setzen
EINE ausländische Macht, die im Namen der Demokratie in der Region interveniert, darf den Dialog mit diesen Kräften nicht ablehnen, deren Beiträge zu politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lösungen unverzichtbar sind. Nur mit solchen „Truppen“ kann der dschihadistische Islam zurückgedrängt und der Kampf für die Demokratie gewonnen werden. Sie – und nicht die Expertenzirkel in Washington – sollten zu Protagonisten einer Reformbewegung im Nahen Osten werden. Doch die USA zeigen kein Interesse an der Zusammenarbeit mit den Reformkräften, sondern stützen deren Gegner, die autoritären Machthaber. Im Namen des „Kriegs gegen den Terrorismus“ unterstützt man die Unterdrückungsapparate noch der übelsten Regime. Die Verhängung willkürlicher Gefängnisstrafen gegen angebliche „Islamisten“ wird überall geflissentlich übersehen.
Solange aber Massenverhaftungen und Folter an der Tagesordnung sind, darf man von den arabischen Reformern nicht erwarten, dass sie an ein ehrliches Engagement der USA für die Demokratie glauben oder gar die Politik der Eroberungen billigen. Die Besorgnis Washingtons über die Zukunft der arabischen Kultur und sein Kampf gegen etwaige Massenvernichtungswaffen könnten den gemäßigten arabischen Nationalisten allenfalls glaubhaft erscheinen, wenn man zugleich die bedingungslose Unterstützung von Israels aggressiver Politik aufgäbe und einen Friedensplan vorlegte, der die palästinensische Empörung über die andauernde Besatzung und Besiedlung ebenso berücksichtigt wie das israelische Sicherheitsbedürfnis.
Schon wegen der historischen Wurzeln des neokonservativen Programms scheint eine solche Wende in der US-amerikanischen Politik höchst unwahrscheinlich. Wenn aber, wie sich jetzt abzeichnet, im Rahmen der Nahoststrategie der USA für die Post-Saddam-Ära den Palästinensern neues Unrecht zugefügt wird, werden viele Araber daraus schließen, das ganze Manöver diene nur dazu, die intransigente Haltung Israels zu stärken. Um sie zu überzeugen, dass es die USA mit ihrem Eintreten für die Volkssouveränität ernst meinen, darf die irakische Demokratie nicht im Gewand einer neuen Tyrannei daherkommen. Wenn sie gegenüber einer Region, die sie reformieren zu wollen behauptet, dieses Minimum an Respekt nicht aufbringen, werden die politischen und moralischen Widersprüche ihrer Politik nicht länger das Geheimnis von Expertenzirkeln und wohlwollenden Medien in Washington bleiben, sondern vor den Völkern des Nahen Ostens offenkundig werden.
Im Irak wäre die perfekte Lösung aus Sicht der Vereinigten Staaten die möglichst rasche Etablierung eines stabilen, ungeteilten, demokratischen und nicht theokratischen Staates, der ohne Besatzungsregime auskommt. Nur ein solches Resultat könnte als Beitrag zur Sicherheit im Mittleren Osten und in der Welt gefeiert werden und auch den US-amerikanischen Interessen dienen. Nur so könnte die neokonservative Strategie aufgehen und ihr Kriegsziel erreichen: Die USA hätten einen neuen Stützpunkt in der arabischen Welt, um ihre geopolitischen Interessen zu verfolgen und die Demokratisierung voranzutreiben.
Allerdings ist diese Variante teuer und kaum realisierbar. Die USA müssten noch mehr eigene Tote in Kauf nehmen und enorme Summen aufbringen – während das Wahlvolk zu Hause die Folgen von Haushaltskürzungen zu spüren bekommt. Alle anderen denkbaren Entwicklungen würden ein Scheitern ihrer Politik bedeuten, sind aber aus heutiger Sicht eher wahrscheinlich: der Zerfall der staatlichen Einheit des Irak, zunehmende Verelendung, Widerstand und Unruhen, Fortdauer der Besatzung, Machtübernahme durch Fundamentalisten oder auch ein neues autoritäres Regime.
Für die arabische Welt wäre es sehr gefährlich, mit verschränkten Armen das Scheitern der USA abzuwarten. Denn während die Besatzung des Irak andauert, könnten andere arabische und Entwicklungsländer zum Ziel eines verordneten „Regimewechsels“ werden. Deshalb müssen diese Staaten selbst politische und moralische Initiativen ergreifen. Auf die alten internationalen Strukturen, die noch aus der Zeit des Kalten Krieges stammen – die UNO, die Arabische Liga, die Bewegung der Blockfreien –, ist nicht länger Verlass. Die USA haben einen ersten Präzedenzfall „präventiver“ Intervention geschaffen, der bald weltweit Schule machen könnte.
Um dies zu vermeiden, brauchen wir neue Strukturen internationaler Solidarität, die sich nicht auf die traditionellen diplomatischen Formen beschränken. Ein Bündnis unabhängiger Staaten müsste sich dafür einsetzen, dass zwischenstaatliche Konflikte unter Beachtung des internationalen Rechts geregelt und „präventive“ Militäraktionen, die dieses Recht verletzen, verurteilt und in keiner Weise (etwa durch Überflugrechte, Stationierungsabkommen etc.) gefördert werden.
Diese Staaten müssten sich allerdings selbst auf demokratische Reformen verpflichten, auch wenn deren Resultat ein „Regimewechsel“ auf eigene Verantwortung wäre. Es geht nicht um ein neues Staatenbündnis, sondern um ein Forum der demokratischen Selbsterneuerung – was in der muslimischen Welt auch die Selbsterneuerung des Islam einschließt.
Mit dem „Sieg“ der USA im Irak sind wir in der arabischen Welt alle herausgefordert. Erweist sich der Irak nicht wie geplant als stabile Basis und Ausgangspunkt einer Demokratisierung des Nahen Ostens, dann haben die USA eine Schlappe erlitten und sind noch mehr Gefahren ausgesetzt. Aber auch die Aussichten auf Reformprozesse in der arabischen Welt werden damit weiter schwinden. Ebenso düstere Perspektiven ergeben sich, wenn der Irak (und andere arabische Staaten) sich als unfähig erweisen, ihren eigenen Weg zu Demokratie und Volkssouveränität zu finden. Nach den Erfolgskriterien, die Amerika für sich und den Rest der Welt gesetzt hat, ist ein Scheitern fast wahrscheinlich. Was immer die USA mit ihrem Einmarsch in den Irak bezweckten – mit den Folgen werden sie und wir fortan leben müssen.
deutsch von Edgar Peinelt
* Gründer des „Institute for the Transregional Study of the Contemporary Middle East, North Africa and Central Asia“ an der Princeton University (USA). Prinz Hischam Ben Abdallah, ein Vetter des marokkanischen Königs, war in mehreren Friedensmissionen für die Vereinten Nationen im Einsatz, insbesondere im Kosovo. Seit zwei Jahren lebt er in den USA. Der vorliegende Artikel beruht auf einem Vortrag des Autors am 29. September 2003 in der Harvard Business School.