17.01.1997

Ein unabhängiges Quebec liegt unbegreiflich nah

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Ein unabhängiges Quebec liegt unbegreiflich nah

DER hauchdünne Sieg der Neinstimmen beim Referendum im Oktober 1995 hat die Debatte um die Souveränität Quebecs nicht beendet, sondern die Positionen nur noch weiter zugespitzt. Die Regierung unter Jean Chrétien in Ottawa verweist auf die schlechte Wirtschaftslage und dramatisiert die Konsequenzen, sollte die Provinz ihre Unabhängigkeit erlangen. Angesichts dieser Strategie der Bundesregierung versucht der Regierungschef von Quebec, Lucien Bouchard vom Parti québécois, die Quadratur des Kreises: Er will die englischsprachige Bevölkerung für sich gewinnen, ohne das Ziel der Souveränität innerhalb eines losen Staatenbundes preiszugeben; und er versucht, sich neoliberalen Positionen anzunähern, ohne zugleich sein sozialdemokratisches Bekenntnis zu verraten. Dabei läuft er Gefahr, eine Basis zu verlieren, für die nationale Selbstbehauptung und das Projekt einer solidarischen Gesellschaft miteinander verknüpft sind.

Von unserem Korrespondenten BERNARD CASSEN

Wie oft war schon zu hören, künftig werde nichts mehr so sein wie früher? Quebec kann bestimmt drei solcher Ereignisse für sich verbuchen, deren Schockwellen bis weit über die kanadischen Grenzen hinaus reichten. Das erste war de Gaulles Satz „Es lebe das freie Quebec!“, den er am 24. Juli 1967 vom Balkon des Montrealer Rathauses herab verkündete. Zu seinen Füßen brach eine Woge der Begeisterung los, gefolgt von einer Zorneswelle der anglophonen Welt. Das zweite Ereignis dieser Art fand am 15. November 1976 statt, als der Parti québécois (PQ) bei den Wahlen zum Provinzparlament erstmals die Stimmenmehrheit erlangte. In der Folge löste René Lévesque den Liberalen Robert Bourassa an der Spitze Quebecs ab. Das Unvorstellbare war geschehen, und der frühere Bundesminister und Kandidat der Liberalen, Jean Marchand, zögerte unter dem Eindruck des Augenblicks nicht, eine Art Weltuntergang vorauszusagen, Quebec werde in die Sklaverei zurückfallen und am Ende dastehen wie Uganda unter Idi Amin Dada.

Das dritte Ereignis schließlich war das Referendum vom 30. Oktober 1995, als die Befürworter der Souveränität nur knapp (mit 49,4 Prozent) unterlagen – und dies nach einem Wahlkampf, der unter der Führung von Ministerpräsident Jacques Parizeau vom PQ nur schleppend begonnen hatte und erst in den letzten Wochen in Schwung kam, was Lucien Bouchard zu verdanken war, dem damaligen Chef des Bloc québécois im Bundesparlament in Ottawa. Parizeau zog die Konsequenz aus seiner persönlichen Niederlage und übergab im Januar 1996 die Amtsgeschäfte an Bouchard. Zuvor, am 9. Dezember 1995, hatte er vor dem PQ-Vorstand noch einmal an den Begeisterungstaumel erinnert, der am Wahlabend für ein paar Stunden die Separatisten ergriffen hatte – und der zwischen der englisch- und der französischsprachigen Bevölkerung von Quebec, aber auch zwischen Quebec und dem restlichen Kanada eine irreversible Situation geschaffen hat: „Am 30. Oktober haben wir beinahe das Ziel erreicht. Einige Stunden lang war der Blick frei auf das Land, das uns erwartet, und diese Stunden haben uns mit Stolz und Freude erfüllt und uns eine Würde verliehen, die nun ein Teil von uns ist.“

„In Quebec spürt man die Jahreszeiten sehr stark, und sie diktieren deutlich auch den Rhythmus des politischen Lebens“, erklärt Bruno Jean, Professor an der Universität von Quebec in Rimouski am Unterlauf des Sankt-Lorenz-Stroms. „Nach dem Herbst des Referendums kam der Winter; inzwischen ist gut ein Jahr vergangen, und all das erscheint nun ziemlich fern; es regiert wieder der Alltagstrott, und das große Projekt ist dahinter verschwunden.“ So oder ähnlich machen quer durch die Provinz viele Unabhängigkeitsbefürworter ihrer Enttäuschung Luft. Die Regierungspolitik von Bouchard ist freilich auch kaum geeignet, diese Empfindungen zu zerstreuen. Gerade erst ernannt, hat der neue Ministerpräsident zu verstehen gegeben, daß ein neues Referendum frühestens nach den nächsten Parlamentswahlen abgehalten werden könne – es sei denn, man änderte das Gesetz über Volksbefragungen; jetzt sei nicht die Zeit für hehre Gefühle, sondern es gehe darum, der dahinsiechenden Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen.

Stabilisierung der öffentlichen Finanzen, Nulldefizit, Sparpaket, Wettbewerbsfähigkeit, Flexibilität, Deregulierung des Arbeitsmarktes, Neustrukturierung des öffentlichen Dienstes, Anpassung an die globale Wirtschaftslage, und alles natürlich der Beschäftigung zuliebe: Diese vermeintlichen Patentrezepte neoliberaler Provenienz klingen europäischen Ohren vertraut; in den Reden von Bouchard kehren sie unablässig wieder, mit besonderem Nachdruck während seiner drei öffentlichen Großauftritte im letzten Jahr: bei den beiden Gipfelkonferenzen zur sozialen und wirtschaftlichen Situation im März und Oktober und auf dem Parteitag des PQ im November (siehe unten den Artikel von Jean Pichette).

Die englischsprachigen Medien nahmen an diesem Parteitag lediglich die Tatsache ernst, daß die Unabhängigkeit weiterhin das erklärte politische Ziel bleibt; der Rest – neoliberaler Wirtschaftskanon und Beibehaltung des Status quo in der hochsensiblen Frage des affichage public, also der Verwendung des Französischen im geschäftlichen und öffentlichen Bereich –, ist in ihren Augen Opportunismus und Doppelzüngigkeit. Der Ministerpräsident sei ein „Nebelwerfer“, schrieb die Toronto Sun. Und The Telegraph Journal aus St. John in New Brunswick kommentierte, der Parteitag sei „natürlich eine Farce“ gewesen, denn wenn Bouchards Standpunkt schon die moderate Linie verkörpere, wo stünden dann erst die wunderlichen Randfiguren?

Treffend resümierte die Edmonton Sun die in der anglophonen Öffentlichkeit verbreitete Meinung: „Dieser Mann ist für Kanada gefährlich. Bouchard verfügt über mehr Entschlossenheit als Lévesque und ist glaubwürdiger als Parizeau. Und für viele Quebecer ist seine Glaubwürdigkeit seit dem Parteitag noch gestiegen. Sollte sich die wirtschaftliche Lage in Quebec tatsächlich erholen, dann ist die Abspaltung zum Greifen nah.“1 Da mag der Ministerpräsident Entgegenkommen und Öffnung signalisieren: nichts kann den Affront ungeschehen machen, als den all jene den annähernden Sieg der Autonomiebefürworter empfinden, die im Namen des ROC (Rest of Canada) sprechen – und das ist alles, was nicht zu Quebec zählt.

Ein Beispiel für diese Haltung konnte man nach den verheerenden Überschwemmungen im Gebiet des Saguenay erleben, die im vergangenen Juli große Schäden anrichteten und bei denen zwölf Menschen den Tod fanden. Es gab englischsprachige Kommentatoren, die sich dahin verstiegen, in dieser Katastrophe ein „Eingreifen Gottes“ zu sehen, mit dem eine Hochburg der Separatisten bestraft werden sollte! Dies verhinderte glücklicherweise nicht, daß die Mehrheit der Kanadier den „Bleuets“ gegenüber – wie man die Bewohner dieser 500 Kilometer nordöstlich von Montreal gelegenen Gegend nennt – ihre Solidarität bekundeten.

Beschilderungsgesetze

EIN weiteres Anzeichen für die Radikalisierung ist die politische Linie, die der neue Eigentümer der englischsprachigen Tageszeitung The Gazette, Conrad Black, seinem Blatt aufgezwungen hat und die in einer ebenso einfach gestrickten wie kompromißlosen Ablehnung der Unabhängigkeit Quebecs besteht. Sein Konfrontationskurs hat die Chefredakteurin Joan Fraser zum Rücktritt bewogen – obwohl die in Montrealer Pressekreisen sehr geschätzte Frau nun wahrlich nicht in dem Ruf steht, den Parti québécois mit Glacéhandschuhen anzufassen. Im Gegenteil: Sie bezichtigt den PQ, beim letzten Referendum Stimmzettel ungültig gemacht zu haben, die eine Neinstimme trugen. Joan Fraser zufolge hat diese Abstimmung „jedes der beiden Lager traumatisiert. Es war ein unvorstellbarer Schock, denn niemand hatte wirklich geglaubt, daß es so weit kommen könnte. Da die Regierung im Moment keine neue Volksabstimmung durchführen kann, redet man statt dessen von der Verteidigung der Sprache.“

Einige der anglophonen Bürger von Montreal betrachten sich allen Ernstes als Geiseln der hiesigen Politik. Sie glauben, daß ihnen nur noch die Wahl zwischen innerem Exil oder Abwanderung bleibt. Joan Fraser schildert die Fälle von mehreren Freunden und nennt Zahlen: Von einer Million Anglophonen, die Anfang der siebziger Jahren in Quebec lebten, seien bis zum Ende der achtziger Jahre 200000 abgewandert, ein Phänomen, das sich seit dem letzten Referendum noch beschleunigt habe.2 Sie hingegen hat sich anders entschieden: „Ich bin Kanadierin, aber ich möchte nirgendwo anders leben als in Montreal.“

In dieser Stadt besitzt die Ausgewogenheit zwischen den Sprachgemeinschaften einen hohen symbolischen Wert für ganz Quebec. Die Gesetze zur Sprachregelung (siehe Kasten) wurden im Laufe der Jahre vor allem deshalb erlassen, damit das Französische nicht in der Hauptstadt eines zu 80 Prozent frankophonen Landstrichs zur Sprache einer Minderheit wird. Am heftigsten streitet man dabei seit zwanzig Jahren um die Frage, welche Sprache im öffentlichen Raum Verwendung finden soll. Das Gesetz über den affichage public, dessen Beibehaltung Bouchard auf dem Parteitag des PQ durchgesetzt hat, sieht vor, daß die öffentliche Beschilderung zweisprachig sein kann, sofern dem Französischen dabei eine Vorrangstellung im Verhältnis zwei zu eins eingeräumt wird. So könnte sich ein französischer Muttersprachler durchaus heimisch fühlen, wenn er durch die Innenstadt von Montreal spaziert. Doch eine offizielle, im November publizierte Studie zeigt, daß dieser Eindruck trügt: Die Zahl der Geschäfte in Montreal und Umgebung, die sich ausschließlich auf französisch an ihre Kunden wenden, stagniert bei etwas mehr als 40 Prozent; dem stehen rund 40 Prozent gegenüber, die das Gesetz über die Ausgewogenheit zwischen den Sprachen als für sich nicht verbindlich betrachten.

Die Positionen, die sich in diesem Sprachenstreit gegenüberstehen, sind unvereinbar, denn praktisch alle Anglophonen und Allophonen (also jene, die untereinander weder Französisch noch Englisch sprechen) reden von etwas anderem als die Mehrzahl der Frankophonen. Für die ersteren geht es um das Recht, bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens Englisch zu reden. Für die letzteren, die die Meßlatte wesentlich höher ansetzen, geht es um nicht weniger als um das Überleben einer französischsprachigen Insel im englischsprachigen Meer Nordamerikas und folglich um den Fortbestand einer „Gesellschaft von besonderer Art“.

Dennoch sieht Pierre-Etienne Laporte, ehemaliger Präsident des Conseil de la langue française, der kürzlich als Kandidat der Liberalen ins Parlament einzog, keine unmittelbare Gefahr: „Ich kann kein alarmierendes Anzeichen dafür entdecken, daß sich die Situation des Französischen verschlechtern würde, während ich durchaus Anlaß hatte, darauf aufmerksam zu machen, daß der englischsprachigen Jugend die Diskriminierung droht.“ Dieser Argumentation leistete Lucien Bouchard auf dem Parteitag des PQ unerwartet Schützenhilfe, als er den zweisprachigen affichage public zu einer Sache der „Grundrechte“ und des „Respekts gegenüber Minderheiten“ machte. Womit er sich sofort eine heftige Erwiderung von Lise Bissonnette, Direktorin von Le Devoir, einhandelte: „Noch keine Regierung Quebecs, weder unter den Liberalen noch unter dem Parti québecois, hat bisher Sprachrechte den Grundrechten zugerechnet. Weil sie es nämlich von der Sache her nicht sind. Die Länder sind in ihrer Sprachenpolitik frei, und diese kann mehr oder weniger restriktiv sein.“3

Für die in der Wolle gefärbten Separatisten gibt es keinen Mittelweg, der den „extremistischen“ Anhängern einer französischen Einsprachigkeit wie deren erbittertsten Gegnern eine Abfuhr erteilte. Der Schriftsteller Yves Beauchemin meint, die Gegner des Französischen „gefährden unsere Sprache und Kultur, während ihre Verteidiger selbstverständlich nicht das Englische bedrohen, das unverändert blüht und gedeiht“. Man möge sich doch einmal vorstellen, schreibt er, die Frankophonen gerieten in Montreal in die Minderheit; dann würden „jene, die von uns verlangen, daß wir die Minderheit respektieren, mit der Forderung kommen, die Mehrheit zu respektieren. Genau das lehrt uns die Geschichte der französischen Minoritäten in den anderen Provinzen Kanadas.“4 Letztlich kommt man immer auf Montreal zurück, das Bollwerk der „sprachlichen Sicherheit“ Quebecs, und auf das Problem der Immigranten, von denen es gesprengt werden könnte, denn 90 Prozent der Zuwanderer siedeln sich im Großraum Montreal an.

Ginge es nach den Verfechtern einer konsequenten Sprachenpolitik, dann sollte jeder Neuankömmling auf dem Flughafen Mirabel sofort begreifen, daß er nicht irgendwo in Nordamerika einwandert, sondern in ein französischsprachiges Land. Daher die Bedeutung des affichage public. „Jedes zweisprachige Plakat“, meint René Lévesque, „gibt dem Einwanderer zu verstehen: Hier gibt es zwei Sprachen, und jeder kann sich für eine der beiden entscheiden.“ Seit 1977 die Charte de la langue française verabschiedet wurde, sind zahlreiche Anstrengungen unternommen worden, damit die Immigranten sich für das Französische entscheiden. Überdies hat die Provinz das Recht, einen Teil der Neuankömmlinge selbst auszuwählen, und kann dadurch jenen – in erster Linie Asiaten und Südamerikanern – den Vorzug geben, die dem Französischen kulturell näherstehen als dem Englischen. Nadia Assimopoulos, Präsidentin des Conseil de la langue française, zieht denn auch eine eher optimistische Bilanz: „Inzwischen erhalten 80 Prozent der Immigranten Unterricht in Französisch und nur 20 Prozent in Englisch.“

Daß Nadia Assimopoulos ein offizielles Amt von der Regierung Bouchard angenommen hat, ist verdienstvoll, denn die 80000 in Montreal lebenden Griechen sind in ihrer großen Mehrzahl anglophon; 99 Prozent lehnen eine Abspaltung von Kanada grundsätzlich ab und wählen liberal. Das gilt auch für die beiden anderen wichtigsten „kulturellen Gemeinschaften“ (so der offizielle Begriff), von denen es in Quebec rund fünfzig gibt – nämlich für die 200000 Italiener und die 120000 Juden. „Es braucht seine Zeit, bis man zum Separatisten wird“, bemerkt unsere Gesprächspartnerin mit einem Lächeln. Doch diese Zeit scheint abgelaufen, glaubt man den von Föderalisten selbst an die Wand gemalten Befürchtungen und denen der Vereinigten Staaten angesichts einer eventuellen Abspaltung Quebecs – was den enttäuschten Kämpfern für die Unabhängigkeit doch eigentlich Auftrieb geben müßte.

David Campbell, einer der Chefredakteure von Canadian Watch, einer Publikation der Universität von York (Ontario), hält es rückblickend für erschreckend, „wie wenig beide Seiten auf einen Sieg der Separatisten beim Referendum im vergangenen Jahr vorbereitet waren. Kanada steht jetzt vor einer großen Herausforderung, und es kann sich nicht erlauben, sie zu ignorieren oder zu hoffen, daß sie sich in nichts auflöst.“5 Die zurückliegenden vierzehn Monate haben zwar ein wenig Klarheit darüber geschaffen, was auf dem Spiel steht, aber inzwischen setzt Ottawa auf Konfrontation.

Erst versuchte es die Bundesregierung von Jean Chrétien mit Zuckerbrot (in Quebec „Plan A“ genannt), nunmehr mit der Peitsche (dem „Plan B“). Das Zuckerbrot gab es vor der Abstimmung, um die Wähler davon abzubringen, mit Ja zu stimmen: Man versprach, den besonderen Charakter Quebecs in der kanadischen Verfassung „einzubetten“ und der Provinz ein Vetorecht innerhalb der Föderation einzuräumen. Tatsächlich ließ der Ministerpräsident dann aber nur ein einfaches Gesetz verabschieden, das keinerlei verfassungsmäßigen Charakter hat.

Ein Kuhhandel. Doch mehr war einfach nicht drin, meint Guy Laforest, Professor an der Universität von Laval6 , denn das Grundgesetz von 1982, das Kanadas Ministerpräsident Pierre Trudeau gegenüber Quebec durchgesetzt hat und mit dem die kanadische Verfassung zugleich von London nach Ottawa „überführt“ wurde7 , ist eine „uneinnehmbare Festung, ein nicht veränderbares Ganzes“, da jede Änderung der Zustimmung des Bundesparlaments und aller Provinzparlamente bedarf. Die unnachgiebige Haltung des ROC läßt eine solche Perspektive freilich aussichtslos erscheinen.

Man hat sich in eine Sackgasse verrannt, und keiner der beiden Protagonisten verfügt mehr über viel Handlungsspielraum: Quebec kann Kanada nicht ohne ein neues Referendum verlassen, und Chrétien kann seinem Land (selbst wenn er es wollte, was nicht der Fall ist) keinen einleuchtenden Grund nennen, warum man sich auf „das schöne Risiko“, wie René Lévesque das Projekt eines von Grund auf neu gestalteten föderalen Systems genannt hat, einlassen sollte. Bouchard bemüht sich bislang ohne Erfolg, den Anglo- Quebecern Garantien zu geben, in der Hoffnung, einige schlössen sich am entscheidenden Tag den Separatisten an. In Ottawa dagegen betreibt man eine Politik der verbrannten Erde und will mit dem Plan B demonstrieren, daß die Unabhängigkeit kein Spaziergang sein wird.

So hat die Bundesregierung den Obersten Gerichtshof Kanadas angerufen, der nun über die Legalität einer möglichen Abspaltung Quebecs entscheiden soll. Als handelte es sich um ein juristisches Problem! Zudem hat die Bundesregierung erklärt, daß die Assoziierung eines souveränen Quebec mit dem ROC sie nicht interessiere: Entweder alles bleibt, wie es ist, oder Quebec verläßt Kanada. In diesem Fall würde es einen hohen Preis zu zahlen haben, insbesondere wäre dann die Mitgliedschaft in der Nordamerikanischen Freihandelszone (Nafta) neu zu verhandeln – mit welchem Ergebnis, bleibe dahingestellt.

In diesem Kontext sind die Offensiven von anglophonen Aktivisten zu sehen, die sich für einen zweisprachigen, wenn nicht gar einsprachig englischen affichage public stark machen, und ebenso die offene Drohung bestimmter anglophoner Gemeinden, sich aus der Provinz Quebec herauszulösen. Hierher gehören die diskreten Ermunterungsrufe – auch aus einer Ecke des britischen Unterhauses – an die indigenen Gemeinschaften (Indianer und Inuit), sie sollten sich an den Anglophonen ein Beispiel nehmen. Bizarre Zukunftsszenarien8 werden entworfen. Man prophezeit Montreal eine Zukunft als zweites Belfast, Sarajevo oder Jerusalem. Nach einem vielbeachteten Artikel in Foreign Affairs9 , in dem es um einen eventuellen „Zerfall“ Kanadas ging, befaßte sich sogar schon der US-amerikanische Kongreß mit der Angelegenheit: Im vergangenen September referierten vier Fachleute vor einem Unterausschuß des Repräsentantenhauses über mögliche Folgen einer Abspaltung Quebecs für die Vereinigten Staaten.

Der Traum vom Gegengewicht

DIE Möglichkeit einer Abspaltung wird also auch von denen eingeräumt, die sie bekämpfen oder fürchten; und so bleibt nicht mehr viel Spielraum für einen hypothetischen „Plan C“, der in einer Neugründung Kanadas bestünde, die von den Provinzen und nicht von Ottawa ausginge. Der Bürgermeister von Quebec, Jean-Paul L'Allier, dessen Stadt mit Calgary (Alberta) eine Partnerschaft eingegangen ist („und wir verstehen uns ausgezeichnet“), meint: „Da sich nun einmal das föderale System jeder Entwicklung verweigert, könnte als letztes Ziel auch eine Konföderation angestrebt werden“, die ungefähr dem Verhältnis zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten entspräche.

Doch wie auch immer der institutionelle Rahmen beschaffen sein mag, es bleibt eine viel wichtigere Frage: Das Projekt eines souveränen Quebec hätte keinen Sinn, wenn es nicht auch „ein Projekt sozialer Emanzipation“ wäre, „das einer Großzahl Allophoner, Anglophoner und Autochthoner erlauben würde, sich ihm anzuschließen“10 . Ein so geartetes souveränes Quebec aber ist kaum vereinbar mit der neoliberalen beziehungsweise Freihandelspolitik der derzeitigen Provinzregierung.11 Wenn Bernard Landry, stellvertretender Ministerpräsident und Staatsminister für Wirtschaft und Finanzen, jeden Montag in seinem Wahlbezirk den Bürgern Rede und Antwort steht, geht er dieser Frage nicht aus dem Weg. Er erinnert daran, daß Quebec sich als erster kanadischer Bundesstaat für die Unterzeichnung des Nafta-Abkommens stark gemacht habe und daß man diesen Kurs auch weiter verfolgen wolle. Landry verweist auf die Römischen Verträge von 1957 und bringt „eine Organisation der beiden Amerika“ ins Gespräch, „die zu der erdrückenden Macht der Vereinigten Staaten ein Gegengewicht schaffen könnte“. Es gebe durchaus Gemeinsamkeiten zwischen Quebec und dem südlichen Teil der Hemisphäre: „Wir sind die Lateinamerikaner des Nordens. Ein Brasilianer sieht die Dinge häufig so wie wir.“

Ein souveränes Quebec als Motor einer Integration auf dem amerikanischen Kontinent? „Ja, denn die kontinentale Dimension ist dem Volk von Quebec in die Wiege gelegt. Wir haben uns zwar auf ein kleines Territorium zurückgezogen, aber innerlich haben wir Größe bewahrt.“ Eine verlockende Vision, aber sie setzt voraus, daß die USA bereit wären, politische Regulationsmechanismen als für sich bindend anzuerkennen, die in kontinentalem Maßstab gedacht sind. Man muß schon sehr optimistisch sein, um zu glauben, daß Washington sich eines Tages darauf einlassen könnte. Doch dann kommt Landry wieder auf die „Märkte“ zu sprechen, auf die Aufmerksamkeit, mit der diese das Haushaltsdefizit von Quebec registrieren; und er kann nur noch trocken feststellen, daß sich im Augenblick „unser Schicksal an der Wall Street entscheidet“.

dt. Eveline Passet

Fußnoten: 1 Englischsprachige Pressestimmen zum Parteitag des PQ, Le Devoir, Montreal, 30. November/1. Dezember 1996. 2 Nach vorläufigen Angaben von Statistique Canada wanderten zwischen Januar und Juni 1996 19000 Personen aus Quebec in andere kanadische Provinzen ab, während 12000 nach Quebec kamen; ein Negativsaldo von 7000 Personen. 3 Lise Bissonnette, „L'Engrenage“, Le Devoir, 29. November 1996. 4 Yves Beauchemin, „La recette impossible. Douze mauvaises raisons de garder la loi 86“, Le Devoir, 20. November 1996. 5 Canada Watch, Vol. 4, Nr. 5-6, August 1996, York, Ontario. 6 Guy Laforest ist mit Mikhaäl Elbaz und Andrée Fortin der Herausgeber von „Les Frontières de la modernité. Modernité et postmodernisme au Québec“, Paris (L'Harmattan) 1996. 7 Bis 1982 bedurfte jede Verfassungsänderung der Zustimmung des britischen Parlaments (Anm. d. Ü.). 8 Siehe die Sondernummer von Canada Watch, a. a. O, die dem „Plan B“ gewidmet ist. Siehe auch Robert Lecker, Professor für Englische Literatur an der McGill-Universität von Montreal und heftiger Autonomiegegner, der ein wahrhaftes Katastrophenszenario von Chaos und Terrorismus entwickelt hat: „The Writing's on the Wall“, Saturday Night, Toronto, Juli/ August 1996. 9 Charles F. Doran, „Will Canada Unravel?“ Foreign Affairs, New York, September/Oktober 1996. Auch die September/Oktober-Nummer von Canada Watch bietet drei amerikanische Beiträge zur Unabhängigkeit Quebecs. 10 Gilles Bourque und Jules Duchastel, „Des camps retranchés“, Le Devoir, 25. Oktober 1996. 11 Siehe Ignacio Ramonet, „Lehrstück Quebec“, Le Monde diplomatique, April 1996.

Le Monde diplomatique vom 17.01.1997, von BERNARD CASSEN