14.02.1997

Den Tiger bändigen

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Den Tiger bändigen

Im Dezember 1994 wurde das mexikanische Währungssystem von einer schweren Krise erschüttert, die Millionen Menschen ins Elend stürzte – in einem Land, dessen Öffnung zum Weltmarkt man allenthalben als Erfolg gefeiert hatte. Das Modell Deutschland, das für die Verbindung von Wachstum und sozialer Sicherheit stand, zeigt mit einer schon seit Monaten steigenden Arbeitslosigkeit deutliche Verschleißerscheinungen. Unterdessen erfährt Großbritannien hohes Lob von der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): Das Land weist die beiden typischen Charakteristika der wirtschaftlichen Liberalisierung auf – exzellente Wirtschaftsdaten und Sozialabbau (siehe die Seiten 10 und 11). Doch gegen ebendieses Entwicklungsmodell, das auf die Globalisierung setzt, regt sich zunehmend Widerstand. Bereits im Dezember 1995 drückte sich die Ablehnung eines neoliberalen Europa in der massiven französischen Streikbewegung aus. Nun, im Januar 1997, haben die südkoreanischen Arbeiter, die den Lohnabhängigen in der Alten Welt lange Zeit als Vorbild angepriesen wurden, den Kampf gegen die Globalisierung aufgenommen. Sie sind nicht bereit, die „Flexibilisierung“ hinzunehmen, die ihnen das Regime aufzwingen will, und fordern statt dessen mehr demokratische Rechte.

Von LAURENT CARROUÉ *

INNERHALB von drei Jahrzehnten ist Süd-Korea zur Wirtschaftsmacht aufgestiegen: Das Land liegt weltweit auf Rang zwei im Schiffbau, auf Rang drei im Bereich der Massenelektronik, auf Rang fünf im Automobilbau, auf Rang sechs in der Stahlerzeugung. Das südkoreanische Import-Export-Volumen ist das zwölftgrößte der Welt. Zwischen 1963 und 1995 hat sich das effektive Bruttoinlandprodukt (BIP) verzwölffacht und das Pro-Kopf-Einkommen versiebenfacht; die Industrieproduktion ist in den letzten fünfzehn Jahren um 450 Prozent gestiegen.

Diese außergewöhnlichen Fortschritte sind allein den chaebol (den großen multinationalen Konzernen) zu verdanken. Samsung, Hyundai, LG Group, Daewoo, Sangyong – diese Unternehmensgruppen (die noch zu zwei Dritteln von den Familien der Firmengründer geleitet werden) standen Pate bei einem Entwicklungsprogramm, das von einem nationalistischen und dirigistischen Militärregime in Gang gesetzt wurde.1 In drei großen Phasen (1953-1961: Importsubstitution; 1961- 1973: Exportoffensive; 1973-1980: Entwicklung der Schwerindustrie) schaffte Süd-Korea den Übergang vom Entwicklungsland zum Schwellenland – heute ist das Land einer der stärksten asiatischen „Tiger“.

Süd-Korea hat eine hohe Bevölkerungsdichte. Extrem hoch sind auch das Stadt-Land-Gefälle und die Konzentration der städtischen Bevölkerung in Seoul. Die Hauptstadt ist der Wasserkopf des Landes. Sie liegt in punkto Lebenshaltungskosten und Umweltbelastung mit an der Weltspitze.2 Ihr Leitungswasser ist so stark mit Schwermetallen belastet, daß es im Grunde nicht mehr trinkbar ist. Die städtische Bevölkerung Süd-Koreas soll von 28 Prozent im Jahre 1963 auf geschätzte 86 Prozent im Jahre 2000 ansteigen.3 Durch ungezügelte Bodenspekulation konnte sich eine schmale Schicht von Grundbesitzern bereichern: Heute besitzen 5 Prozent der Bevölkerung zwei Drittel der privaten Grundstücke.4 Im Baubereich kommt es häufig zu Katastrophen wie Brückeneinstürzen; 1995 forderte der Einsturz des Einkaufszentrums Sampoong in Seoul 500 Tote und 900 Verletzte. Wegen der hohen Zinsbelastung (um 25 Prozent) sind Wohnungsbaukredite für die meisten Familien unerschwinglich.

Daß der wirtschaftliche Erfolg teuer erkauft ist, zeigt sich nicht nur in Bereichen wie Umwelt, Wohnen und Verkehr, sondern auch an der krassen Ausbeutung der Arbeitskräfte.5 In den siebziger Jahren kam es zu spektakulären Selbstverbrennungen protestierender Arbeiter; erst 1987, nach äußerst gewaltsamen Demonstrationen, wurden die Gewerkschaften teilweise legalisiert. Noch 1996 sah sich der koreanische Verband der Kleinunternehmer gehalten, seine Mitglieder zu ermahnen, weniger brutal mit ihren Angestellten umzugehen.6 Gerade diese Unternehmer beschäftigen den größten Teil der ausländischen Arbeitskräfte, die Zahl dieser legalen und illegalen „Industriepraktikanten“ wird auf 150000 geschätzt.

Um diesen Preis hat es Süd-Korea allerdings geschafft, Ende 1996 in den Club der reichen Länder aufgenommen zu werden: in die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die Zeit der Opfer ist damit aber noch nicht vorüber, denn die chaebol, in deren Hand sich ein Großteil der Wirtschaft befindet (auf die zehn größten unter ihnen entfallen 23 Prozent der nationalen Produktion und 60 Prozent der Exporte), sind Kolosse auf tönernen Füßen. Mit ihrer extremen Verschuldung können sie nur überleben, solange sie bedingungslos von den Banken unterstützt werden, die ihrerseits direkt von den Machthabern kontrolliert werden.7 Ihr Wachstum verdanken sie der Protektion eines autoritär geführten Staates, die noch verstärkt wird durch engste Kontakte zu den politischen Führern. Samsung verdankt alles dem ersten Nachkriegspräsidenten Syngman Rhee, und der Aufstieg von Daewoo wäre ohne die Protektion durch den damaligen General und Staatspräsidenten Park Chung Hee nicht denkbar gewesen. Doch die Verfilzung zwischen Unternehmen, Regierung und Bürokratie führte zu einer allgemeinen Korruption, die inzwischen in den Gerichtsverfahren aufgedeckt wird, bei denen sich eine Reihe von Spitzenvertretern aus Wirtschaft und Politik verantworten müssen. So hat etwa General Roh Tae Woo, von 1988 bis 1992 Staatspräsident, während seiner Amtszeit 650 Millionen Dollar beiseite geschafft.

Die chaebol sind aber auch eingebunden in ein dichtes Netz wirtschaftlicher und strategischer Abhängigkeit von den USA und Japan, das noch zu Zeiten des Kalten Krieges geknüpft wurde. Diese beiden Länder haben mit ihren Exporten nach Süd-Korea einen Marktanteil von 18 bzw. 24 Prozent erobert und bestreiten 29 bzw. 37 Prozent der Auslandsinvestitionen. Beträchtlich ist auch die Außenhandelsabhängigkeit: 1961 betrug der Exportanteil nur 2 Prozent des BIP, 1995 war er schon auf 35 Prozent angewachsen, mit deutlichen Schwerpunkten bei den Branchen Elektronik (38 Prozent aller Exporte) und Textilien (15 Prozent), gefolgt von Chemie und Schiffbau (7 bzw. 5 Prozent). Allerdings stoßen die chaebol, die eine konsequente Dumping-Politik betreiben, um Auslandsmärkte zu erobern, auch auf Abwehrmaßnahmen. Im Februar 1996 zum Beispiel beschloß die EU-Kommission in Brüssel, Mikrowellenherde aus Korea mit einer Einfuhrsteuer von 24,4 Prozent zu belegen.

Und noch ein Handicap haben die chaebol auszugleichen – ihre Abhängigkeit von ausländischer Technologie, eine Folge mangelnder Leistungen im Bereich Forschung und Entwicklung. So belaufen sich etwa die Zahlungen, die südkoreanische Werften an japanische Firmengruppen leisten müssen, auf einen Anteil von 5 bis 10 Prozent vom Gesamtpreis eines Schiffes. Ähnlich ist die Situation im Automobilbau: Als Hyundai sich 1993 dazu gratulierte, sein erstes Auto selbständig entwickelt und produziert zu haben, besaß Mitsubishi immer noch 11 Prozent des Firmenkapitals. Bei Kia hält der japanische Hersteller Mazda 7,5 Prozent des Kapitals, und Daewoo hat es gerade erst geschafft, seine Verbindungen zu General Motors zu lösen.

Inzwischen gibt es eine Menge Joint- ventures, über die sich die chaebol einen preisgünstigen Zugang zu ausländischer Technologie verschaffen. Zugleich betreiben die Konzerne systematisch Beobachtung und Spionage im Bereich Technologie- und verfahrenstechnische Entwicklung, die sich vorwiegend gegen Japan und die USA, neuerdings aber auch gegen Europa richten. So hat die Automobilsektion von Daewoo Ingenieure von BMW, Porsche und General Motors abgeworben und Forschungszentren in Großbritannien und in München eingerichtet; außerdem arbeitet sie mit einem italienischen Karosseriedesigner zusammen.

Hinzu kommt, daß sich die chaebol neuerdings nicht mehr auf einen geschützten Binnenmarkt verlassen können. Als OECD-Mitglied muß Süd-Korea ab 1997 gemäß den Abkommen mit der Welthandelsorganisation (WTO) seine Märkte auch für ausländische Unternehmen öffnen. Durch die Aufhebung der Schutzzölle sind 5 bis 12 Prozent der heimischen Produktion gefährdet, und damit 170000 bis 450000 Arbeitsplätze.8 Auch wird der Staat seine Eingriffe beschränken müssen. Seine Rolle als Vermittler zwischen den konkurrierenden chaebol hat er bereits aufgegeben, wie sich bei der jüngsten Offensive von Samsung zeigt: Der Konzern versucht mit aller Macht, die Vorherrschaft von Hyundai in der Automobilbranche zu brechen.

Kampfstrategien

GENAUGENOMMEN bleibt den chaebol gar nichts anderes übrig, als miteinander zu konkurrieren und so schnell wie möglich internationale Produktionsstandorte zu finden. Sie werden dabei Opfer ihrer eigenen Strategien im Wirtschaftskrieg zwischen den Ländern mit hochwertiger Industrieproduktion und den aufstrebenden Ländern Asiens, die mit ihrer Massenware auf niedrige Löhne angewiesen sind.

Jeder der chaebol will zu einem der ganz großen multinationalen Konzerne werden, die sich unter den globalen industriellen und technologischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts behaupten können. Samsung hat sich das Ziel gesetzt, vom 18. auf den 10. Platz der Weltrangliste der Unternehmen aufzusteigen, Daewoo (Rang 33) geht davon aus, seinen Auslandsumsatz innerhalb von fünf Jahren zu verdoppeln und für seine wichtigsten Produkte 10 Prozent Weltmarktanteil zu erobern. Die Zahl der Niederlassungen in Europa soll sich verdreifachen (auf 180 bis zum Jahr 2000).

Die Auslandsinvestitionen der chaebol haben sich von 1996 gegenüber dem Vorjahr um 28 Prozent erhöht und einen Gesamtumfang von etwa 16 Milliarden Dollar erreicht. Die wichtigsten Zielländer dieser Investitionen waren bislang China (30 Prozent der Gesamtsumme) und die übrigen asiatischen Länder (18 Prozent), gefolgt von den USA (25 Prozent). Doch seit drei Jahren sind West- und Osteuropa (20 Prozent) ins Zentrum des Interesses gerückt, und hier insbesondere die drei großen Branchen: Luftfahrt-, Elektronik- und Autoindustrie.

In der Luftfahrtbranche geht es den Südkoreanern vor allem darum, sich dem Druck der USA zu entziehen (sie wollen, daß die Koreaner US-Militärflugzeuge in Lizenz bauen) und technologisch autonom zu werden. So hat Samsung 1995 ein Forschungsabkommen mit der deutschen Dasa geschlossen und wollte im November 1996 den bankrotten niederländischen Flugzeughersteller Fokker übernehmen – unter der Bedingung, daß der Staat knapp 600 Millionen Mark an Subventionen bereitstelle.9 Allerdings weigerten sich die anderen chaebol, in dieses Geschäft einzusteigen. Hyundai ging sogar eigene Wege und knüpfte eine Verbindung mit dem amerikanischen Hersteller McDonnell Douglas an.

Im Bereich der Massenelektronik sind die chaebol im großen Maßstab eingestiegen. Samsung hat das amerikanische Computer-Unternehmen AST übernommen und zahlreiche Kooperationsabkommen mit Firmen wie Toshiba, NEC, IBM, AT&T und Hewlett Packard geschlossen. Hyundai tritt zur erneuten Offensive in der Halbleiter-Branche an und investiert 5,5 Milliarden Mark in Schottland (siehe den Artikel von Guillaume Robin auf den Seiten 6 und 7), wo auch die LG Group 3,9 Milliarden Mark investiert. Die Firmengruppe KOHAP hat zum 1. Januar 1997 den Geschäftsbereich Magnetbandprodukte der deutschen BASF erworben (3700 Beschäftigte, 1,5 Milliarden Mark Umsatz), und Daewoo wollte kürzlich Thomson Multimedia übernehmen, was allerdings scheiterte. Insgesamt verfügen die großen chaebol in Europa über rund dreißig Produktionsstätten – in Großbritannien, Spanien, Italien, Frankreich, den Niederlanden, Deutschland, Portugal, Slowenien, Polen, Ungarn und der Türkei. Bei Mikrowellenherden halten sie in Europa einen Marktanteil von 40 Prozent.

Auch in der Automobilbranche läuft eine großangelegte Offensive. Die koreanischen Hersteller konnten ihren Absatz in Westeuropa 1995 um 39 Prozent steigern, liegen aber mit 2 Prozent Marktanteil noch deutlich hinter den Japanern mit 10,7 Prozent. Und Daewoo hat sich zum Ziel gesetzt, pro Jahr zwei Millionen Fahrzeuge zu verkaufen – zur Zeit sind es noch 700000. Die Hälfte dieser Autos werden im Ausland hergestellt: in China, Indien, Rumänien, Polen, Usbekistan, Iran, auf den Philippinen, in Indonesien, Vietnam, Tschechien und der Ukraine.

Diese Internationalisierungsstrategien befolgen ein Rezept, mit dem die chaebol bis jetzt noch immer Erfolg hatten: eine raffinierte Form von technologischem Raub, indem man zum einen in den industrialisierten Ländern einige Firmen mit hohem technischem Niveau aufkauft, zum anderen den Vorteil billiger Arbeitskräfte nutzt – die sich inzwischen im Ausland finden. So ist es Daewoo 1993 gelungen, nach dem Kauf einer Autofabrik in Usbekistan die Sozialgesetzgebung des Landes ändern zu lassen, so daß man jetzt rund um die Uhr, in drei Achtstundenschichten, produzieren kann.

Zudem handelte Daewoo einen Einfuhrzoll von 50 Prozent auf Importfahrzeuge aus, um seine usbekische Produktion zu schützen. Für die Eroberungsmethoden der chaebol lieferte Daewoo noch ein weiteres Beispiel: Im September 1996 drohte der Konzern, nachdem er in Polen 2,9 Milliarden Mark in die Automobil- und Elektronikbranche investiert, Grundstücke gekauft und sich als Sponsor des Warschauer Fußballvereins Legia betätigt hatte, sich aus Polen zurückzuziehen, falls die Regierung eine Autofabrik des Konkurrenten Hyundai genehmigen würde.

Und was hat dieser Eroberungsrausch den koreanischen Arbeitern gebracht? Die chaebol machen es sich einfach: Sie denken nicht daran, ihre Belegschaften weiterzubilden und besser zu qualifizieren oder in die Entwicklungsarbeit einzubeziehen, geschweige denn, sie an den gestiegenen Profiten zu beteiligen. Statt dessen versuchen sie, die zu teuer gewordenen Arbeiter durch Massenentlassungen wieder auf das alte Billiglohnniveau zu drücken.

Doch seit 1987 gibt es eine Demokratisierungsbewegung, die sich für die Zulassung von freien Gewerkschaften, die Abschaffung der Zensur und die Legalisierung der Opposition einsetzt und gegen die Lasten aufbegehrt, die der Bevölkerung vom Staat und den chaebol im Namen nationaler Interessen aufgebürdet werden. In knallharten sozialen Auseinandersetzungen haben sich die Arbeiter Lohnerhöhungen von 8,4 Prozent erkämpft, doch eine Mindestlohnvereinbarung gibt es nur mit den großen Konzernen, die etwa 10 Prozent der Arbeitnehmer beschäftigen. Süd-Korea ist inzwischen bei 89 Prozent des europäischen Lohnniveaus angelangt, die Arbeiter der großen Firmen sind besser bezahlt als die Belegschaften in Großbritannien (siehe den Artikel von Guillaume Robin, Seiten 6 und 7). Der steigende Lebensstandard hat auch zu neuen Forderungen geführt: bessere Sozialleistungen (Ruhestandsregelungen, Sozialversicherung, Bildungschancen) und höhere Lebensqualität.

Während die Exportquote stagniert, hat der Konsumrausch der neuen Mittelschicht10 die Handelsbilanz deutlich in die roten Zahlen gebracht. Ende 1996 propagierte die Regierung von Präsident Kim Young Sam – der ein langjähriger Gegner der Militärdiktatur und der erste zivile Staatspräsident Südkoreas seit dreißig Jahren war – ein drastisches Sparprogramm: Die Südkoreaner sollen ihren Konsum einschränken („Verzichtet auf die Neujahrsgeschenke!“), um die volkswirtschaftliche Bilanz wieder ins Lot zu bringen. Zugleich wurden Tausende Stellen in der staatlichen Bürokratie abgebaut.

Doch letztlich mußte die Regierung sich der Unterstützung der chaebol versichern. Der Beitritt Süd-Koreas zur OECD lieferte den Vorwand für ein neues Arbeitsrecht, das prinzipielle Rückschritte brachte und vor allem Entlassungen leichter machte: Die Abkehr vom Prinzip der Sicherheit des Arbeitsplatzes – einer der wenigen „Errungenschaften“ der Lohnabhängigen, die allerdings nur wenige genießen – führte dazu, daß die ohnehin hohe wöchentliche Arbeitszeit noch ausgedehnt werden konnte. Heute gilt in Korea die 54,5-Stunden-Woche. Die neuen Gesetze erleichtern den Unternehmen auch die Ersetzung streikender Arbeiter durch Beschäftigte mit Zeitverträgen; und sie untersagen die Gründung neuer Gewerkschaften bis zum Jahr 2000. Für die Verabschiedung dieser gesetzlichen Bestimmungen brauchte das Parlament nur sieben Minuten: Die Vorlagen wurden in geheimer Sondersitzung am 26. Dezember 1996 um sechs Uhr früh durchgepeitscht – die Opposition war gar nicht anwesend. Zu diesem Programm gehörte auch ein extrem demokratiefeindliches Gesetz, das der berüchtigten Abteilung für Staatssicherheit (KCIA) erweiterte Vollmachten bei der Bekämpfung aller „inneren Feinde“ erteilt. Gemeint waren damit natürlich die kämpfenden Arbeiter und ihre Gewerkschaften.

Die Betroffenen reagierten mit einem Generalstreik, dem ersten in der Geschichte des Landes. Hunderttausende Arbeiter aus Hunderten von Unternehmen gingen auf die Straße. Zum Generalstreik aufgerufen hatte der Gewerkschaftsverband KCTU (eine oppositionelle und nicht zugelassene Organisation, die zwischen 300000 und 500000 Mitglieder hat). Aber auch die einzige legale Gewerkschaft Koreas, der Gewerkschaftsbund FKTU, der 1,2 Millionen Mitglieder zählt und sich bis dahin durch eine Stillhaltepolitik ausgezeichnet hatte, schloß sich an. Der Generalstreik begann in den wichtigsten Branchen der chaebol, im Schiffbau und in der Autoindustrie. Eine entscheidende Rolle spielten die Belegschaften des Hyundai-Konzerns. Von dort griff der Streik auf den tertiären Sektor und die Staatsbürokratie über. Die Arbeiter entwickelten neue Kampfformen: Streiks von nur einer Woche Dauer im Wechsel mit Großdemonstrationen. In Seoul kamen am 26. Januar 100000 Menschen zu einer Kundgebung zusammen. Der koreanische Staatspräsident sucht natürlich nach Wegen aus der Krise, ist aber offenbar nicht bereit, in den entscheidenden Fragen nachzugeben. Die Gewerkschaften antworten mit immer neuen Kundgebungen.

Da hatte man die koreanischen Arbeiter ihren europäischen Kollegen stets als Vorbild für Anpassungsfähigkeit und Fügsamkeit angepriesen (Eigenschaften, die sich eher aus der Militarisierung der südkoreanischen Gesellschaft und weniger aus der Sorge der Arbeiter um deren Konkurrenzfähigkeit erklären). Jetzt aber haben sich diese Südkoreaner plötzlich als Avantgarde im Kampf gegen die wirtschaftsliberale Globalisierung profiliert.

dt. Edgar Peinelt

* Geograph an der Universität Paris VIII.

Fußnoten: 1 Siehe Jacques Decornoy, „Délicate fin de guerre dans la péninsule de Corée“, Le Monde diplomatique, November 1994. 2 „Human Development Report 1996“, New York (UN-UNDP) 1996. 3 Jacques Pezeu-Massabuan, „Corée, Géographie universelle“, 5. Band, Paris (Belin-Reclus) 1994. 4 „Le dévelopement économique de la Corée“, in der Reihe „Études économiques“, Paris (OECD) 1994. 5 Siehe Laurent Carroué, „Frankreich: Blindflug am Elektronikhimmel“, Le Monde diplomatique, Dezember 1996. 6 Bericht in der Asian Times (Bangkok), zitiert im Courrier international, Nr. 317, Dezember 1996. 7 Die Verschuldung der chaebol erreicht häufig das unglaubliche Niveau von 300 bis 500 Prozent des Eigenkapitals (Hyundai 500 Prozent, Daewoo 352 Prozent). 8 Philippe Pons, Le Monde vom 28. November 1996. 9 Ursprünglich verlangten die Südkoreaner das Zweieinhalbfache der Summe, mußten sich aber nach unten korrigieren, weil der niederländische Staat ablehnte. 10 Siehe Jacques Decornoy, „Seoul, ou la rage de consommer“, Le Monde diplomatique, Februar 1995.

Le Monde diplomatique vom 14.02.1997, von LAURENT CARROUÉ