Der ibero-amerikanische Gipfel — Familienrat ohne Uncle Sam
Von GILLES LUNEAU *
EINUNDZWANZIG Staatschefs, unter ihnen der spanische König und der Präsident Portugals, unterzeichneten am 11. November 1996 im chilenischen Viña del Mar das Schlußdokument des sechsten ibero-amerikanischen Gipfeltreffens. In Paragraph I, Absatz 2 heißt es: „Wir bekräftigen unser Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaat und politischem Pluralismus, zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, zur Anerkennung des internationalen Rechtes und der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen (...).“
Dieses Dokument zu unterzeichnen, war für zwanzig Staatsoberhäupter eine Selbstverständlichkeit, für einen Teilnehmer jedoch ein Schritt von historischer Bedeutung – für Fidel Castro. Bereits seine Teilnahme an diesem Gipfel, der den Übergang von der formellen zur partizipativen Demokratie zum Thema hatte, wurde heftig und teilweise polemisch diskutiert. Einige sahen darin einen Affront gegen die Demokratie, und in Santiago demonstrierten etwa 60 Personen gegen sein Auftreten. Tags darauf ließen etwa 5000 Demonstranten „Fidel, Fidel“ hochleben. General Augusto Pinochet ließ lakonisch verlauten: „Gipfeltreffen gehen uns [die Militärs] nichts an“, und überließ es der Armee, Fidel Castro mit militärischen Ehren zu empfangen. Ob sich durch Castros Unterschrift irgend etwas an der Situation in Kuba ändern wird, ist fraglich. Doch wird dieser cumbre (Gipfel) der in Lateinamerika eingeleiteten Demokratisierung zweifellos Auftrieb geben.
Die erste Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs aller spanisch- und portugiesischsprachigen Länder Amerikas und Europas fand im Juli 1991 auf Anregung des spanischen Königs in Guadalajara (Mexiko) statt. Der ibero-amerikanische Gipfel bringt die politischen Führungsspitzen von 500 Millionen Amerikanern zusammen. Der Präsident der USA ist nicht dabei, was von vornherein einen unbefangeneren Umgangston erlaubt. Die Erklärung von Guadalajara hat die gemeinsamen Erwartungen so formuliert: „Als einer der großen geopolitischen Räume unserer Zeit sind wir (...) entschlossen, die Kraft unserer Gemeinschaft in das dritte Jahrtausend zu tragen.“
Auf den Gipfeltreffen in Madrid (Spanien) 1992, Salvador de Bahia (Brasilien) 1993, Cartagena (Kolumbien) 1994 und San Carlos de Bariloche (Argentinien) 1995 wurden alle aktuellen heiklen Fragen behandelt. Die Präsidenten erklärten sich für ein Verbot atomarer, chemischer und biologischer Waffen und gegen den Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Sie verurteilten den Drogenhandel und bekräftigten den Vorrang des nationalen Rechtes und der staatlichen Souveränität, sie diskutierten über ein Naturschutzprogramm für die Region und bekannten sich zur Anerkennung der verschiedenen indigenen Ethnien und Kulturen.
Thema des vierten Treffens von 1994 in Cartagena (Kolumbien) war „der internationale Handel und die Integration“. Unter dem wachsenden Druck durch die Globalisierung der Handelsbeziehungen prüften die Staatschefs die Übereinstimmung zwischen den rund zwanzig regionalen Zusammenschlüssen und Abkommen, etwa der Andengruppe (GRAN), der Gruppe der Drei (G3)1 , der Karibischen Gemeinschaft (Caricom), des Zentralamerikanischen Gemeinsamen Marktes (MCCA) und des Gemeinsamen Marktes des Südens (Mercosur)2 . Ihr erneutes Bekenntnis zur freien Marktwirtschaft, zu ökonomischem Multilateralismus und zu Investitionsgarantien garnierten sie mit dem Gelöbnis, staatliche Sozialprogramme und Pläne zur Bekämpfung der Armut umsetzen zu wollen.
Die Sache hat nur einen Haken: Die tatsächliche Politik läuft häufig der Rhetorik solcher Absichtserklärungen zuwider. Zwar wurde ein Fonds für Indigenas eingerichtet, doch die autochthonen Völker sitzen bei den Gipfeltreffen – wie in vielen Teilnehmerländern – am Katzentisch. Man empfängt sie in den Vorzimmern der Botschaften, nimmt ihre Beschwerden entgegen und heftet diese dann ab unter dem Kapitel „Kampf gegen die Ausgrenzung“.
In diesem Sinn spiegelte das sechste Gipfeltreffen in Viña del Mar fast sämtliche Widersprüche zwischen einer pompösen Gipfelinszenierung und der Wirklichkeit. Institutionell gesehen hat Chile die Diktatur noch immer nicht ganz überwunden. General Pinochet wird sich voraussichtlich erst Anfang 1998 in den Ruhestand begeben und damit den Weg zu einer Änderung der Verfassung ebnen, die er als Diktator auf seine Bedürfnisse zugeschnitten hatte. Die Indikatoren der chilenischen Wirtschaft sind positiv, die extreme Armut nimmt ab, die Presse ist frei; doch der Mittelstand leidet unter den Folgen des Wirtschaftsliberalismus, 30 Prozent der Chilenen leben nach wie vor unter der Armutsgrenze (siehe auch den Beitrag von Benoit Guillou auf Seite 18). Die große Mehrheit der Bevölkerung wartet immer noch vergebens, daß etwas von den Gewinnen der Wirtschaftselite für sie abfallen könnte. Dabei ist die Wirtschaft Chiles im Vergleich ausgesprochen leistungsstark. In allen anderen Ländern vertieft sich der Graben zwischen „Ein- und Ausgegrenzten“ – von Arm und Reich redet niemand mehr –, und die soziale Misere wächst in dem Maße, wie die „Modernisierung“ voranschreitet.
Die ausgegrenzte Bevölkerung murrt, immer häufiger kommt es zu Streiks, Protesten und Landbesetzungen. Die Wähler sind der politischen Parteien überdrüssig, die immer die gleichen Wirtschaftsrezepte anwenden und zu den gleichen Ergebnissen kommen. Wenn sie den Wahlurnen nicht ganz fernbleiben, setzen sie auf „starke Männer“: Fernando Collor de Mello in Brasilien, der kurz nach seiner Wahl wegen Korruption wieder abgesetzt wurde; Carlos Menem in Argentinien, der zwar die Hyperinflation erfolgreich bekämpft hat, aber bei einer Arbeitslosenquote von über 18 Prozent angelangt ist; Alberto Fujimori in Peru, der die verfassungsmäßigen Rechte suspendiert, während die extreme Armut bereits die Hälfte der Bevölkerung erfaßt hat; oder Abdala Bucaram in Ecuador, der im Juli 1996 gewählt und, nachdem er seine demagogischen Wahlversprechen gebrochen und einen Generalstreik provoziert hatte3 , im Februar 1997 zum Rücktritt gezwungen wurde.
Von der Verpflichtung des Madrider Gipfels, der die Ausarbeitung gemeinsamer Richtlinien zur sozialen Absicherung beschlossen hatte, ist man weit entfernt! In der Erklärung von Viña del Mar, die das für solche Treffen übliche Versprechen enthält, Armut, Ausgrenzung und soziale Ungleichheit zu bekämpfen, verpflichten sich alle Teilnehmer auf das demokratische Modell im westlichen Sinne. Das ist insofern beachtlich, als hier die Demokratie von Ländern beschworen wird, in denen noch vor nicht allzu langer Zeit Demokraten verblutet sind. Noch vor kurzem hatte jedes Land sich so etwas als Einmischung in seine innere Angelegenheiten verbeten. Diese Gipfeltreffen haben zwar noch keine permanente Staatengruppe etabliert, aber doch einen Meinungsaustausch in einem Klima des Vertrauens ermöglicht. Unter Ausschluß der Öffentlichkeit wird grundlegend und detailliert über alles gesprochen, was auf dem Kontinent gut oder schlecht läuft. Das hat immerhin nicht unerheblich zur Beilegung des Konfliktes zwischen Peru und Ecuador beigetragen.4
Auch ist der pädagogische Impetus, den die cumbres entfalten, nicht darauf angelegt, Kuba in die Ecke zu drängen. Denn das kubanische Volk gehört zu Lateinamerika, und manche der politischen Führer, die heute anderswo an der Macht oder in der Opposition sind, haben in diesem Land Zuflucht gefunden, als am Amazonas oder in den Anden noch Olivgrün die dominierende Farbe war. Damals war Kuba das einzige Land des Subkontinents, in dem sich die Armen auf eine solide Ernährung, Schulbildung und medizinische Hilfe verlassen konnten. In den Vororten der mittel- und südamerikanischen Städte hat man das bis heute nicht vergessen – auch wenn das eingebildete Eldorado eher das Ergebnis sowjetischer Infusionen als eines erfolgreichen tropischen Sozialismus war.
Deshalb können die ibero-amerikanischen Staatschefs an Präsident Fidel Castro appellieren, sich ihnen anzuschließen, und er kann sie anhören wie einen Familienrat. In diesem Zusammenhang ist auch die einstimmige strikte Verurteilung des Helms-Burton-Gesetzes zu sehen. Die wirtschaftlich erfolgreichen „Jaguare“ Lateinamerikas, alle mehr oder weniger gute Schüler von Uncle Sam, weisen ihren Lehrmeister darauf hin, daß er sich nicht an die eigenen Spielregeln hält. Washington kann nicht die Freiheit des Personen- und Warenverkehrs predigen, solange es seinen Interessen nützt, um sie dann bei Bedarf zu verbieten.
Im Falle Kuba ist klar, worum es den USA geht. Sie wollen allein über den Sturz des Castro-Regimes entscheiden, um hinterher als erste auf der wirtschaftlich lukrativen Insel Fuß fassen zu können. Also muß verhindert werden, daß andere Länder vor den USA dort investieren. Washington glaubt, durch die wirtschaftliche Öffnung werde ein kontrolliertes Ende des Regimes eingeleitet. Das Problem ist nicht mehr Fidel Castro, sondern die Zeit nach ihm. Kuba hat die Wahl zwischen einer Konzeption, die auf mehrere Investoren, darunter lateinamerikanische und europäische, setzt – und einer bereits fertigen Version made in USA, die garantiert sehr viel härter ausfällt. Der iberoamerikanische Raum, zu dem sich Fidel Castro gerne bekennt, bietet Kuba eine politische Chance: Das Gipfeltreffen von 1999 soll in Havanna stattfinden. Die „Familie“ wird dort überprüfen, inwieweit das Abkommen von Viña del Mar umgesetzt wurde. In diesem Teil der Welt ist die Politik noch glaubwürdig, was für viele Politiker nicht mehr gilt. Der argentinische Staatspräsident Carlos Menem, ein zum Ultraliberalismus übergetretener Populist, gilt als korrupt. In Kolumbien ist die paradoxe Situation eingetreten, daß Staatspräsident Ernesto Samper beschuldigt wird, Beziehungen zum Drogenhandel zu unterhalten – und die Beweismittel liefern die US-Geheimdienste, die nichts dagegen hätten, wenn Samper mitsamt seiner Sozialpolitik und der Souveränität, die das Land für die juristische Aburteilung seiner Staatsbürger beansprucht, von der Bildfläche verschwinden würde.5
Der Kontinent beginnt, eine eigene Identität zu entwickeln, doch das zwingt die iberoamerikanischen Politiker zu einer schwierigen Gratwanderung zwischen Diktatur und einer alles niederwalzenden Wirtschaftsideologie. Die Bevölkerung fordert demokratische Veränderungen, indem sie durch Demonstrationen und ihr Wahlverhalten Druck ausübt. Sie wird die Bereitschaft der Politiker, ihre sozialen Forderungen zu erfüllen, nicht nur an deren wohlmeinenden Reden messen.
dt. Birgit Althaler
* Journalist