11.04.1997

Renault-Werke bleiben ein soziales Laboratorium

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Renault-Werke bleiben ein soziales Laboratorium

Von SOPHIE BOUTILLIER BLANDINE LAPERCHE DIMITRI UZUNIDIS *

ALS die Schließung des Renault- Werks im belgischen Vilvoorde angekündigt wurde, zeigte sich die Börse entzückt. In Paris kletterte der Kurs der Renault-Aktie an einem einzigen Tag von 130 auf 147 Franc. Doch dem Image des französischen Unternehmens wurde unzweifelhaft Schaden zugefügt, denn damit gehen mehr als 7000 Arbeitsplätze verloren: 3100 im Werk selbst und etwa 4000 bei Zulieferern und Subunternehmen. Kurz vor der Hundertjahrfeier des Konzerns hatten die Franzosen Renault im Dezember 19961 zur Marke des Jahrhunderts gewählt, und zwar mit großem Abstand vor Mercedes, Volkswagen oder Citroän. Vor dem Zweiten Weltkrieg stand das Unternehmen an der Spitze des technischen Fortschritts, zwischen 1950 und 1970 galt dies auch in sozialer Hinsicht, doch in letzter Zeit wird es nach ultraliberalen Prinzipien zurechtgestutzt. Der Konzern produziert im wesentlichen Autos und Nutzfahrzeuge, aber für Gewinne sorgen allein seine Geldgeschäfte.

Louis Renault, ein Autodidakt und begeisterter Mechaniker, hatte das Unternehmen 1898 gegründet und dank seiner Erfindungen2 vorangebracht. Im Zuge der beiden Weltkriege erschloß sich die Firma neue Produktbereiche wie Munition, Panzer und Krankenfahrzeuge und verdoppelte seinen Umsatz. Louis Renault, ein Keynesianer der ersten Stunde, gründete eine Konsumkreditgesellschaft und veranlaßte den Staat, die Nachfrage nach Kleinwagen zu fördern. Er gründete Auslandsniederlassungen und Verkaufsstellen in ganz Europa. Im Januar 1945 wurde er wegen „Kollaboration“ mit der deutschen Besatzung verurteilt und sein Unternehmen verstaatlicht. In den fünfziger und sechziger Jahren ist der Staatsbetrieb Renault ein Symbol für soziale Neuerungen und für den industriellen Erfolg des öffentlichen Sektors.

Die Entwicklung der Arbeitsorganisation innerhalb der Automobilindustrie von 1945 bis 1975 ist typisch für die Zeit des Wirtschaftsaufschwungs: riesige Fertigungshallen und Fließbandanlagen bei gleichzeitig hohem gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Bei Renault herrschte ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen der kommunistischen Mehrheitsgewerkschaft CGT und der Unternehmensführung: Der mörderische Arbeitstakt des Taylorismus wird durch soziale Vorteile (Urlaub, Sondervergütungen) kompensiert – ein Prinzip, das in der übrigen Staats- und Privatwirtschaft Schule machte. Dennoch kam es seit Ende der sechziger Jahre immer wieder zu Streiks: „Akkord ist Mord.“ Die Unternehmensführung zog daraufhin ausländische Arbeitskräfte heran, die aber gleichfalls rebellierten (1981er Streiks in Flins).

Ein solches Sozialmodell kann im allgemeinen nur bei einem kontinuierlich wachsenden Markt überleben. Seit der Krise der siebziger Jahre ist dies nicht mehr der Fall: Damals sah sich Renault mit Kostensteigerungen (bei Löhnen und Zulieferbetrieben), aber auch mit zunehmender Konkurrenz konfrontiert, die zunächst aus Japan und später aus Korea kam. Im Vertrauen auf seine Stellung auf dem französischen Markt3 diversifizierte Renault seine Investitionen, ging eine Vielzahl von Partnerschaften ein, ließ sich in Mittel- und Osteuropa (Rumänien, Jugoslawien, UdSSR) nieder und stieß schließlich mittels seiner Kontakte zu Mack und American Motors auf den amerikanischen Nutzfahrzeugmarkt vor. Das Unternehmen konsolidierte seine Position in Europa (Abkommen mit Volvo, Investitionen in Spanien und Portugal) und reagierte auf die Politik der Importsubstitutionen, die in Lateinamerika betrieben wurde, durch die Gründung von Tochtergesellschaften.

Doch die Offensive schlug fehl: Gewinne und Marktanteile gingen zurück. Hatte das Unternehmen 1981 in Frankreich noch einen Anteil von 38,9 Prozent und in Europa von 13,9 Prozent, so fiel es bereits 1985 auf 28,7 bzw. 10,7 Prozent zurück. Das erste Defizit – in Höhe von 700 Millionen Franc – verzeichnete man 1981. 1985 betrug es 11 Milliarden Franc und die Schuldenlast 62 Milliarden Franc. Die Produktivität war weiterhin niedrig: 1985 produzierte ein Beschäftigter 10,4 Autos pro Jahr gegenüber durchschnittlich 12 in Europa und über 30 in Japan.

Um zu überleben, mußte Renault sich modernisieren. Das soziale Modell wurde der Rentabilität geopfert: Zwischen 1985 und 1990 wurden 15000 Arbeitsplätze abgebaut. Gleichzeitig bewilligte der Staat zwei Milliarden Franc für den Kauf neuer Maschinen und die längst fällige Automatisierung. Schon in den sechziger Jahren hatte Renault computergestützte Techniken für Zeichnung, Entwurf und Herstellung eingeführt4 , zehn Jahre später waren Fertigungsstraßen installiert, die bei geringem Personaleinsatz eine halbautomatische Produktion rund um die Uhr und sieben Tage in der Woche ermöglichen. Gleichzeitig wurden die erfolgreichen japanischen Produktionsmethoden übernommen (just-in-time-Produktion, Qualitätszirkel, Verzicht auf Lagerhaltung und totale Qualität).

1983 tut sich Renault mit Matra zusammen, um ein Großraumfahrzeug, den Renault Espace, auf den Markt zu bringen, das schnell zum neuen Prunkstück wird: Die Risikobereitschaft wird belohnt. Belohnt werden auch die Bemühungen um Qualitätssicherung bei den seit 1988 bzw. 1990 produzierten Modellen R 19 und Clio. Renault verfolgt jetzt die Strategie, Marktlücken und neue zahlungskräftige Kunden aufzuspüren: ein Beispiel ist der 1993 herausgebrachte Twingo, aber auch die sechs Modelle des ab 1995 produzierten Mégane (vom Großraumfahrzeug zum Coupé) und die Modelle Spider, Modus und 4X4. Renault-Motoren gewannen mehrfach die Formel-1-Weltmeisterschaft. Das Unternehmen zählt zu den Pionieren bei der Entwicklung von energiearmen Motoren (Elektroantrieb) und Navigationssystemen (Carminat-System).

Aber seit dem Ende der achtziger Jahre prognostizieren die Berichte über die Zukunft der europäischen Automobilindustrie, daß Renault und Fiat das 20. Jahrhundert nicht überleben werden. Diese Diagnose wurde inzwischen dahingehend korrigiert, daß Renault den internationalen Preiskrieg nicht ohne Partner überstehen kann. Das Unternehmen ist folglich eine Vielzahl von Allianzen und Partnerschaften eingegangen, um seine Präsenz auf ausländischen Märkten zu festigen5 ; gleichzeitig hat es seine Tätigkeitsbereiche neu geordnet. Das Firmenkonglomerat hat sich in ein Netz von Firmen verwandelt, wobei die Partner am Risiko beteiligt werden.

Der Staat hat sich etappenweise aus dem Unternehmen zurückgezogen, 1992 scheiterte die Annäherung an Volvo, während RVI, der Nutzfahrzeugbereich Renaults, 1996 ein Abkommen mit General Motors über die gemeinsame Entwicklung von Nutzfahrzeugen unterzeichnete. Ein anderes Abkommen, über den Bau von Motoren, Getrieben und Kabinen, wurde mit dem finnischen Unternehmen Sisu Trucks und ein weiteres, über den Bau von mechanischen Getrieben, 1997 mit dem deutschen Unternehmen ZF abgeschlossen. Renault, die Peugeot AG und Volvo arbeiten gemeinsam an einem V-6- Motor. Diese Politik der Kostenteilung geht Hand in Hand mit Investitionen in Lateinamerika und Rußland.6 In einer Doppelstrategie werden zum einen mögliche Nachfragepotentiale erforscht, zum anderen rationalisiert man die Produktion in den bereits eroberten Marktsegmenten. 1991 wurde ein Werk in Spanien geschlossen, das gleiche Schicksal traf 1992 die „Arbeiterbastion“. 1996 wurde das Werk in Setubal an den portugiesischen Staat abgetreten und die Nutzfahrzeugherstellung in Creil und Batilly neu organisiert. Gleichzeitig ging das „Abspecken“ beschleunigt weiter: 1988 hatte Renault 180000 Beschäftigte, 1996 waren es weniger als 140000. Innerhalb von acht Jahren hat sich das Unternehmen von einem Viertel seiner Belegschaft getrennt.

Offensichtlich sind diese Anstrengungen vergeblich: 1995 hinkt Renault mit 1,8 Millionen produzierten Fahrzeugen (Fiat: 2,5; VW: 3,5; General Motors: 7,9 Millionen), einem Umsatz von 184 Milliarden Franc (bei Daimler-Benz betrug er umgerechnet 351 Milliarden Franc), mit einer maximalen Produktivität von 46,9 Fahrzeugen pro Beschäftigtem (gegenüber 56,7 bei Nissan, 64,3 bei Fiat und 71,9 bei Opel) seinen Konkurrenten immer noch hinterher. Der Verlust für das Jahr 1996 beträgt 5 Milliarden Franc. Die Schließung des Werks von Vilvoorde, der geplante Abbau von 2800 Arbeitsplätzen in Frankreich und das Zurückfahren der Automatisierung sollen Kapital- und Lohnkosten reduzieren.

Die Senkung der Lohnkosten, die durch die Flexibilisierung der Arbeitszeiten erreicht wurde, hat hier und da die Einführung neuer Maschinen überflüssig gemacht.7 In Flins arbeitet seit 1993 eine dritte Schicht, zum Teil auch nachts, um die Produktion der Modelle Twingo und Clio zu erhöhen. Im Falle des Scénic, bei dem die Nachfrage größer ist als die Produktionskapazität, schafft Renault keine neuen Arbeitsplätze, sondern verlängert die Arbeitszeiten.

Wenn man die Produktionskosten pro Fahrzeug um 3000 Franc senken will (dies entspräche jährlichen Einsparungen zwischen 4,5 und 5 Milliarden Franc), muß man den Einkauf neu organisieren (Plan Synergie 500 vom September 1995), die Zusammenarbeit mit den 530 Zulieferern intensivieren und die enormen Investitionskosten reduzieren, die für die Einführung eines neuen Modells nötig sind (sie beliefen sich beim Mégane auf 14 Milliarden Franc gegenüber 4 Milliarden für das Fiat-Modell Bravo/Brava). Der größte Teil der Forschungs- und Entwicklungsvorhaben des Konzerns (1995 7,9 Milliarden Franc, das heißt 4,9 Prozent des Umsatzes) wird ab 1998 in dem imposanten Technocenter von Guyancourt stattfinden, wo 6300 Ingenieure und Techniker arbeiten werden.

Liegt die Zukunft von Renault in den Händen der Börsianer? Kann der Staat, der seit 1996 nur noch 47 Prozent des Kapitals hält, sich einfach bequem heraushalten? Das ist zu befürchten, nachdem er am 26. Februar 1997 die Weigerung ausgesprochen hat, den Vorruhestandsplan für 40000 Beschäftigte von Renault und Peugeot zu finanzieren. Die Aussichten bleiben düster: Der europäische Automarkt, der durch Prämien für den Erwerb von Neuwagen („Balladurette“, „Juppette“ und so weiter) kurzzeitig gepuscht worden ist, leidet unter Überkapazitäten, die auf zwei Millionen Fahrzeuge pro Jahr geschätzt werden. Die Konsequenz waren 113 Tage Kurzarbeit im gesamten Renault-Konzern im Jahr 1996 und schon 22 Tage von Januar bis März 1997. Durch sein Vorgehen hat Renault im März 1997 den ersten europaweiten Streik gegen die Globalisierung der Wirtschaft in Gang gebracht, an dem sich Zehntausende in mehreren Ländern der EU beteiligt haben. Renault bleibt also ein soziales Laboratorium, diesmal allerdings eher gegen seinen Willen.

dt. Christian Voigt

* Dozenten und Forscher am Laboratorium für Umstrukturierung und Innovation der Industrie an der Université du littoral, Dunkerque.

Fußnoten: 1 Laut einer BVA-Umfrage, die im Dezember 1996 bei 5694 Haushalten durchgeführt wurde. 2 Die ersten Erfindungen Louis Renaults (Getriebe, Motoren) wurden 1898 patentiert. Insgesamt hat er mehr als 500 Patente angemeldet. 3 Am Ende der siebziger Jahre kamen von fünf in Frankreich verkauften Fahrzeugen zwei von Renault. 4 Renault hat das Systeme Unisurf (Unification des surfaces – Vereinheitlichung von Oberflächen) entwickelt, das es möglich macht, die herzustellenden Karosserieteile zu erkennen und ihre Herstellung mittels computergestützter Werkzeugmaschinen zu steuern. 5 Während Fiat 36 Prozent seiner Autos außerhalb Europas verkauft, sind es bei Renault nur 18 Prozent. Auf dem französischen Markt stagniert der Marktanteil Renaults bei 29 Prozent. RVI, der Nutzfahrzeugbereich Renaults, hat in Europa einen Marktanteil von 12 Prozent bei den Lkw über 16 Tonnen; mit Hilfe von Mack sind es in Nordamerika in der gleichen Kategorie ebenfalls 12 Prozent. 6 Ab 1999 werden im brasilianischen Corituba jedes Jahr 120000 Mégane hergestellt. In Rußland sind zwei Werke geplant: eins für die Montage der Modelle Mégane Classic und Laguna, das andere für den R 19. 7 Der Automatisierungsgrad bei der Produktion des Nachfolgemodells für den R 21 (Laguna) ist in Sandouville von 90 auf 75 Prozent heruntergefahren worden, beim Twingo liegt er nur bei 82 Prozent, verglichen mit 98 Prozent beim Clio, was einer Einsparung von mehr als 200 Millionen Franc entspricht.

Le Monde diplomatique vom 11.04.1997, von SOPHIE BOUTILLIER und BLANDINE LAPERCHE / DIMITRI UZUNIDIS