16.05.1997

Wird Hongkong ein zweites Singapur?

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Wird Hongkong ein zweites Singapur?

AUS Pekinger Sicht erscheint die Rückgabe Hongkongs an China als ein Ereignis von hohem Symbolwert. Es steht für das Ende der westlichen Kolonialherrschaft auf diesem Territorium und für den Beginn einer Ära der Souveränität und Gleichheit mit den großen Industrienationen. Der Termin 1. Juli 1997 lenkt das nationale Bewußtsein auf diesen Übergang, dessen Regeln durch die zentralchinesische Regierung einseitig festgelegt worden sind, ohne jede Rücksicht auf die – wenn auch verspätete – Demokratisierung, wie sie der letzte britische Gouverneur, Christopher Patten, noch vorangetrieben hatte.

Von GUILHEM FABRE *

Einigen Analysen1 zufolge haben die chinesischen Machthaber offenbar nicht begriffen, welche Faktoren mit dem Erfolg Hongkongs untrennbar zusammenhängen: Liberalismus in der Wirtschaft, verbunden mit Rechtsstaat, Unabhängigkeit der Justiz und bürgerlichen Freiheiten. Die Szenarios über die Zukunft des Territoriums prophezeiten bis 1996 eine wachsende Destabilisierung infolge der Abwanderung von Wissenschaftlern und Technikern und eine Rezession des Immobilienmarkts, des Barometers für das Wirtschaftsleben in der Stadt. Geschehen ist das Gegenteil.

Nach jüngsten Prognosen wird die Bevölkerung bis zum Jahr 2011 von 6,3 Millionen auf 8,1 Millionen anwachsen, mit einer jährlichen Zunahme um 150000 Einwohner (50000 einwandernde Festlandchinesen und 100000 Geburten). Auf über 4000 Baustellen sollen 800000 Wohnungen entstehen. Der Druck der Nachfrage im Verhältnis zum Angebot ist so stark, daß die Immobilienpreise 1996 eine Hausse von 30 Prozent erlebten. Eine 50-Quadratmeter-Wohnung in der Stadt wird mit rund 1 Million Mark gehandelt, und die monatliche Miete liegt zwischen 5000 und 7000 Mark.

Die Entkoppelung der Bereiche von Politik und Wirtschaft ist seit den Ereignissen vom Tiananmen-Platz (1989) eine der wichtigsten Forderungen des chinesischen Regimes. Die Entwicklungen in den neunziger Jahren haben zu einer weiteren Verhärtung dieses Standpunkts geführt: Durch den massiven Zustrom von ausländischen Investitionen sowie die regionale und weltweite Ausdehnung der Handelsbeziehungen ist eine Verdreifachung der chinesischen Exporte zustande gekommen. Die Diplomatie der westlichen Länder hat, von ökonomischen Erwägungen beherrscht, weitgehend eine Kehrtwendung zu Lasten der Verteidigung der Menschenrechte vollzogen. Und schließlich zeigt das Beispiel Singapurs mit seinem unermüdlichen Antreiber, dem früheren Premierminister und noch immer höchst einflußreichen Politiker Lee Kuan-yew, wie ein Freihafen und Finanzzentrum von der Größe Hongkongs, das über vergleichbare Infrastrukturen wie der Stadtstaat und über westlich geprägte juristische und finanztechnische Rahmenbedingungen verfügt, mit einem politisch autoritären System zurechtkommen kann.

Peking setzt also darauf, die greifbaren Vorteile des wirtschaftlichen Anschlusses an China auszubauen, wohl wissend, daß ein guter Teil der Einwohner Hongkongs bereit ist, dafür mit Einbußen bei der Demokratie und den bürgerlichen Freiheiten zu bezahlen.2

Es steht einiges auf dem Spiel: Hongkong konkurriert mit Singapur um den ersten Platz als größter Containerhafen der Welt und als größtes Finanzzentrum in der Region, da Tokio vor allem auf seinen Binnenmarkt ausgerichtet ist. Die Vorteile, die der Hafen bietet – dreimal so billig und doppelt so schnell wie Shanghai –, die massive Verlagerung der verarbeitenden Industrie ins Delta des Perlenflusses infolge des Anstiegs der Produktionskosten in den achtziger Jahren und die Mittlerfunktion der Stadt für Unternehmen aus Drittländern haben ihre Rolle als Drehscheibe in den Außenhandelsbeziehungen des Festlands gefestigt: 60 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in China, über die Hälfte der chinesischen Exporte und über 40 Prozent der Importe laufen über Hongkong, das im Welthandel an achter Stelle steht.3

Bis 1993 wurde Hongkongs Wirtschaft von fünf großen englischen Unternehmen beherrscht – der Hongkong and Shanghai Banking Corporation, Jardine and Matheson, Swire, Kadoorie und Hongkong Telecom – sowie von einem Dutzend chinesischer Unternehmen, die jeweils 31 oder 33 Prozent des börsennotierten Aktienkapitals hielten.4 Die einflußreichsten Geschäftemacher (Tycoons) stammen aus Hongkong oder Kanton – wie Lee Shau- kee (Li Zhaoji) von der Henderson Land, Li Ka-hsing (Li Jiacheng) von der Cheung Kong Holding-Hutchinson Whampoa, die Brüder Kwok (Guo Bingpin) von der Sun Hung-kai und Cheng Yu-tung (Zheng Yutong) von der New World – oder aus der südostasiatischen Diaspora wie der Malaysier Robert Kwok (Guo Henian), Eigentümer der Shangri-la-Gruppe und Aktionär der Tageszeitung South China Morning Post, der Thailänder Dhanin Jiaravanen (Xie Guomin) von dem Agrar- und Nahrungsmittelunternehmen Charoen Pokphand oder der Indonesier Liem Sioe-liong (Lin Shaoliang) von der First Pacific Group, der Hongkonger Filiale der Firma Salim. Gemeinsam sind diesen Gruppen, trotz breit gestreuter Tätigkeitsbereiche, eine starke Präsenz auf dem Immobiliensektor und ausgezeichnete Beziehungen zu China, wo sie massiv investieren, besonders in den Bereichen Infrastruktur und Stadtplanung.

Peking hat sich in seiner Politik von der britischen Tradition leiten lassen und diese Geschäftsleute aufgefordert, einen Sitz im Vorbereitungskomitee und anschließend in der provisorischen Versammlung für das neue „Sonderverwaltungsgebiet“ einzunehmen, so wie sie vorher im Exekutivrat unter dem Vorsitz des Gouverneurs Ihrer Majestät ihren Sitz hatten. 30 der 94 Hongkonger Mitglieder des Vorbereitungskomitees, das getreu der Weisung Pekings die provisorische Versammlung gewählt hat, kontrollieren Aktiva von über 1 Milliarde Hongkong-Dollar (ca. 250 Millionen Mark). Deng Xiaopings Parole „Hongkong wird von den Hongkongern regiert“ entspricht also in der Tat einer Regierung durch die Magnaten des Business.5

Die starke Zunahme der Geschäftsleute vom Festland und ihre Übernahme von Beteiligungen haben zusammen mit denen der Hongkonger Tycoons zur Chinesisierung der lokalen Wirtschaft auf Kosten der britischen Unternehmensgruppen beigetragen, deren letzte Bastion die Hongkong and Shanghai Banking Corporation ist, mit Sitz in dem berühmten futuristischen Wolkenkratzer des Architekten Norman Foster.6 Anders gesagt, Hongkong mit seinem Lebensstandard, der zehnmal höher ist als der Chinas, mit seinem außergewöhnlichen Hafen, seinem technologischen und finanziellen Know- how und seiner großen Produktivität, die die Stadt an die Spitze der „neuen Industrieländer“ in Fernost stellt, hat eine gewaltige Anziehungskraft auf das Festland ausgeübt.

Die ersten großen Unternehmen, die davon profitieren, werden durch die „Partei der Prinzen“ kontrolliert, die Clans der Söhne von führenden chinesischen Politikern, die China immer mehr zu einer Familienangelegenheit auf indonesische Art machen. Wu Jianchang, Ehemann von Dengs ältester Tochter und Präsident der China National Nonferrous Metals Import and Export Corporation, ist durch die Firmen Silver Grand International Industries Ltd. und Onfem Holdings Ltd. vertreten. Deng Zhifang, Deng Xiaopings jüngster Sohn, ist Direktor der Shougang Concord Grand Ltd., der Hoi Shing Holding Ltd. und Präsident der Shanghai Sifang Real Estate Industrial Co. He Ping, der Ehemann von Deng Xiaopings dritter Tochter und Chef der Waffenabteilung im Generalstab der Volksbefreiungsarmee, ist mit Wang Jun, dem Direktor der Citic Chine und Sohn des Ex-Vizepräsidenten Wang Zhen, in den Firmen Poly Investment Holdings Ltd. und Continental Mariner Investment Co. assoziiert. Zur Partei der Prinzen gehören auch Prinzessinnen wie Chen Weili, die Tochter des verstorbenen Chen Yun (der früheren Nummer zwei in China), die die First Shanghai Investment Ltd. leitet.

Neben diesen Großunternehmen ist seit 1996 eine wahre Flut von Investoren aus der chinesischen Provinz zu beobachten. In nur einem Jahr erreichte ihr Aktienkapital einen Wert von 6,8 Milliarden Dollar und ihre Immobilieninvestitionen einen Wert von 7,7 Milliarden Dollar.7 In Hongkong präsent zu sein, ermöglicht den Firmen aus der Region die Finanzierung ihrer Entwicklungsprojekte – besonders im Bereich der Infrastrukturen – und zugleich die Nutzung von Gelegenheiten zu lokalen und internationalen Geschäften.

Diese relativ plötzlichen und gewaltigen Neuerungen haben die Wirtschaft auf dem Territorium gedopt. Der chinesische Vizepremier, Zhu Rongji, hat angeblich vor kurzem versucht, das „Hongkongfieber“, das das Festland erfaßt hat, etwas zu dämpfen, und bei einem Treffen mit Verantwortlichen aus der Provinz die dadurch ausgelöste Umlenkung von lokalen Entwicklungsfonds kritisiert.

Vaterlandsliebe und gute Geschäfte

DIE neue ökonomische Bedeutung Chinas auf dem Territorium Hongkongs verändert schlagartig die Spielregeln. Ende 1994 wurden die Investitionen von 1756 Festlandsunternehmen bereits auf 42,5 Milliarden Dollar geschätzt, weit höher als die japanischen – Ende 1996 schätzungsweise 19,5 Milliarden Dollar – und die amerikanischen Investitionen.8 Dieser verstärkte Zufluß erlaubt es China, von nun an eine wichtigere Rolle zu spielen als die britischen Unternehmen. Die zunehmende Verflechtung und Komplementarität in den Beziehungen zum Festland durch das Zusammenfließen der Investitionsströme kann Hongkong eine Zeitlang zu einer dominierenden Stellung in den Handelsbeziehungen im asiatisch- pazifischen Raum verhelfen.

Doch eine gewisse Unsicherheit bleibt, sowohl hinsichtlich der ökonomischen Spielregeln als auch der Fähigkeiten der lokalen Gesellschaft zur Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Eine Hauptsorge der Geschäftswelt gilt dem Import der in Festlandchina grassierenden Korruption, wie der Gouverneur, Christopher Patten, betonte. Die H-shares – börsennotierte Aktien chinesischer Unternehmen – machen ungefähr 10 Prozent des gesamten an der Börse notierten Aktienkapitals aus. Mit ihrem Zugang zu sensiblen ökonomischen und politischen Informationen könnten die Direktoren dieser Unternehmen durch Kursmanipulationen gewaltige Profite machen.

Abgesehen von der großen Finanzkriminalität ist Hongkong Zentrum einer prosperierenden Untergrundwirtschaft, die mit Schmuggel, illegaler Einwanderung, Prostitution, Finanzierung des Heroinhandels und Geldwäsche Geschäfte macht. Die vier Haupttriaden, die Sun Yee On, die Wo Shing Wo, die 14 K und die Wo Hop Wo, zählen angeblich 120000 Mitglieder, das sind 3 Prozent der Bevölkerung über fünfzehn Jahre.

Allerdings hat sich die Wirtschaft auf dem Territorium Hongkongs schon seit dem Opiumkrieg Mitte des letzten Jahrhunderts auf der Basis einer starken und funktionalen Durchlässigkeit zwischen den legalen und illegalen Bereichen entwickelt. Neu daran ist jedoch das ökonomische und politische Gewicht der Volksrepublik China. Pekings Bestreben, aus Hongkong eine Art zweites Singapur zu machen, wird gegenwärtig von der großen Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert, die auf diese Weise ihren starken Patriotismus mit ihren ökonomischen Interessen in Einklang bringt.

Allerdings kann es immer noch zu Reibungen zwischen den Hongkongern und den Festlandchinesen kommen. Eine der Ursachen, und zweifellos die heikelste wegen ihrer direkten Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben, liegt in der Assimilation der jährlichen Einwanderungswellen vom Festland. Jede Fehlentwicklung bei den Zuwanderungsbewegungen9 , die aufgrund der starken illegalen Emigrationsnetze und der zunehmenden Korruption bei der Polizei nicht auszuschließen ist, kann negative Reaktionen in der Öffentlichkeit auslösen.

Der zweite strittige Punkt betrifft die Rolle der Presseagentur Neues China (Xinhua), der offiziösen Vertretung Chinas in Hongkong, und des Büros für Angelegenheiten von Hongkong und Macau in Peking nach dem 1. Juli 1997. Einige Abgeordnete der Demokraten, wie Christine Loh, machen geltend, daß das Fortbestehen dieser Organe keinerlei Zweck mehr erfüllen wird. Pekings Intentionen sind noch recht unklar, sowohl in diesem Punkt wie auch bei dem sehr heiklen Thema des Rechts auf freie Meinungsäußerung und des Demonstrationsrechts, die Gegenstand widersprüchlicher und spitzfindiger Erklärungen waren.

Mehr noch als die Demokratisierung der Kolonie erscheinen die Bürgerrechte, noch zu erweitern um das Recht der Freizügigkeit, als selbstverständliche Privilegien. Betroffen wären von einer eventuellen Einschränkung die 600000 Hongkonger mit ausländischem Paß (10 Prozent der Bevölkerung). Emily Lau, seit den Wahlen 1995 Mitglied des Gesetzgebenden Rats und Vorsitzende der Vereinigung The Frontier10 , ist unter den politischen Persönlichkeiten eine der entschlossensten Kämpferinnen für die Demokratisierung und die Bürgerrechte. Mit Aufenthaltsverbot in China belegt (wie auch der Parteivorsitzende der Demokraten, Martin Lee), findet sie nach eigener Aussage in dem neuen ökonomischen Umfeld in Hongkong wenig Gehör. Die Untergrabung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, wie sie durch die Selbstzensur der Medien und durch verschiedene ökonomische Pressionen bereits eingeleitet worden ist (Aufkauf von Anteilen, Werbefinanzierung), könnte sich ihrer Meinung nach mit der Einführung restriktiver rechtlicher Rahmenbedingungen fortsetzen sowie mit der beruflichen Isolierung von Verfechtern der Menschenrechte oder gar mit deren Verhaftung.

Deng Xiaopings Parole „Ein Land, zwei Systeme“ wird gewiß dazu benutzt werden, jede Verteidigung der Bürgerrechte oder jede demokratische Errungenschaft mit Sezessionsbestrebungen gleichzusetzen. Der neue Gesetzesrahmen, den die provisorische Versammlung verabschieden wird, liefert nach dem Vorbild Singapurs die Waffen für ein juristisches Störfeuer11 gegen jegliche Art von Oppositionsbestrebungen.

dt. Sigrid Vagt

* Institut für orientalische Sprachen und Kulturen, Universität Le Havre.

Fußnoten: 1 Vgl. Michael Yahuda, „Hongkong: China's Challenge“, London (Routledge) 1996. 2 Vgl. Bernard Cassen, „Hongkongs letzte Tage auf dem Weg zum Anschluß an das Mutterland“, Le Monde diplomatique, Juli 1996, und T.L. Tsim, „China-Hongkong Relations“, China Review 1995, Chinese University Press, Hongkong. 3 Vgl. Françoise Lemoine, „L'intégration de la Chine dans l'économie mondiale“, Revue Tiers- Monde, Sommer 1996. 4 Vgl. Katsuo Hiizumi, „Overseas Chinese Business: Its present and future“, China Newsletter, Tokio (Jetro), Mai/Juni 1996. 5 Vgl. Nyam Mee-kau und Li Si-ming, „The Other Hongkong Report“, Chinese University Press, Hongkong 1996. 6 Vgl. Hing Lin-chan, „Chinese Investment in Hongkong, Issues and Problems“, Asian Survey, Oktober 1995. 7 Vgl. Zhengming, Hongkong, Januar 1997. 8 Vgl. Shen Jueren, „Chinese Enterprise Association“, Wenhui Bao, 17. März 1996, und „Kyodo News“, Summary World Broadcasts, BBC Asia-Pacific, 29. November 1996. 9 Vgl. Jacques Seurre, „La fièvre de Hongkong“, Perspectives chinoises, Nr. 38, Hongkong, November/Dezember 1996. 10 Die Internet-Adresse von The Frontier lautet: http:/www.frontier.org.hk/ 11 Vgl. Bernard Cassen, „Singapur ou le meilleur des mondes“, Le Monde diplomatique, August 1994.

Le Monde diplomatique vom 16.05.1997, von GUILHEM FABRE