Der französische Weg zum Konvergenzdiktat
Bei den französischen Parlamentswahlen am 25. Mai und 1. Juni geht es nicht nur um nationale Entscheidungen. Vielmehr wird dem Lande von der internationalen Finanzwelt angekreidet, es verhindere mit seinen altmodisch starren Institutionen und Vorschriften einen reibungslosen Vollzug der Globalisierung. Unter den Parolen „Befreiung“ des unternehmerischen Handelns, und „neuer Elan“ sind die Wähler unterderhand aufgefordert, sich blindlings in den Ultraliberalismus zu stürzen.
Freilich wird dieser Plan nicht als solcher angekündigt. Premierminister Alain Juppé ließ gar verlauten, er verstehe nicht, was die Begriffe „liberal“ oder „ultraliberal“ bedeuteten. Eine Finte, denn eigentlich weiß man schon im voraus, daß man gewiß nicht das tun wird, was man ankündigt. So überrascht es nicht, daß Präsident Jacques Chirac den europäischen Fahrplan, insbesondere den Termin der gemeinsamen Währung, als Begründung vorgeschoben hat, um das Parlament aufzulösen.
Wenn Juppé nicht weiß, was Ultraliberalismus ist, so haben die Bürger das Recht zu erfahren, wie dieser sich im Alltag jener Länder auswirkt (nämlich der USA und Großbritanniens), die unablässig als „erfolgreiche“ Vorbilder angepriesen werden.
Von BERNARD CASSEN
DAS europäische Konstrukt muß wirklich allerhand aushalten. So bürdet ihm denn der französische Staatspräsident Jacques Chirac, folgt man seiner Stellungnahme zur Auflösung der Nationalversammlung als erstes und wichtigstes Ziel den „Übergang zur gemeinsamen Währung“ auf, „die unabdingbar ist, wenn wir uns als bedeutende wirtschaftliche und politische Macht behaupten wollen“.
Das ist eine reichlich allgemeine und unverbindliche Formulierung, mit der die eigentliche Rolle des Euro, so wie das Abkommen von Maastricht sie vorsieht, eher verschleiert wird. Denn in Wahrheit geht es – auch wenn die politische Aufrichtigkeit fehlt, es einzugestehen – darum, mit aller Gewalt ein Europa durchzusetzen, in dem die monetären, budgetären, kommerziellen und bald auch die steuerlichen Entscheidungen der einzelnen Länder endgültig der demokratischen Einflußsphäre entzogen sein werden. Ist das neoliberale Wunschziel erreicht, werden die Bereiche Politik auf der einen sowie Wirtschaft und Finanzen auf der anderen Seite voneinander losgekoppelt sein.
Schon lange wird, gerade auch in dieser Zeitung1 , auf den antisozialen Charakter rein monetaristisch ausgerichteter Konvergenzkriterien hingewiesen, ebenso wie auf den bedenklichen Verlust an Demokratie, den es bedeutet, wenn die Geldpolitik einer Zentralbank überantwortet wird, die von Regierungs- und Wählerentscheidungen unabhängig ist. Wäre das Ziel tatsächlich wirtschaftliche und soziale Konvergenz gewesen – eigentlich eine absolut unverzichtbare Vorgabe für ein Gebilde, das sich selbst als „Gemeinschaft“ bezeichnet –, so hätten selbstverständlich auch die Kriterien wirtschaftliche und soziale sein müssen.
Zum Beispiel hätte man Maximalgrenzen für die Disparität des Bruttoinlandsproduktes pro Einwohner zwischen den Staaten und – innerhalb der einzelnen Länder – zwischen den Regionen festlegen können, sowie für Einkommensunterschiede und die Höhe der Arbeitslosenzahlen etc.
Man erinnere sich, daß Jacques Delors erst im Jahr 19952 öffentlich bekanntgab, er habe während der Verhandlungen über das Maastricht-Abkommen im Jahre 1991 die Minister der zwölf Mitgliedstaaten vergeblich aufgefordert, die Arbeitslosenquote als einen der Parameter beim Übergang zu einer gemeinsamen Währung zu berücksichtigen. Warum nutzte er seinerzeit nicht seine Stellung als Präsident der EU- Kommission, um sich direkt an die europäische Öffentlichkeit zu wenden und so einen wirksamen Druck auf die Regierungen auszuüben? Damals, an Ort und Stelle, hätte er den „Kampf gegen den Ultraliberalismus führen“ müssen und nicht vier Jahre später in der Presse3 .
Tatsächlich wurde das Europa der Institutionen zwischen 1957 und der Mitte der neunziger Jahre nach dem Modus der „Verzahnung“ und der „praktischen wechselseitigen Unterstützung“ errichtet, dessen Theoretiker Jean Monnet war. Sein leitendes Prinzip bestand darin, die wirtschaftliche Integration voranzutreiben, indem in regelmäßigen Abständen durch ein Bündel von einzeln greifenden Maßnahmen unumkehrbare Tatsachen geschaffen wurden, wodurch wiederum ganz natürlich ein Bedarf nach politischer Koordination hervorgerufen würde. Mit anderen Worten: Ebenso zwangsläufig, wie die Frösche in der Fabel nach einem König verlangen, wird der gemeinsame Markt, wenn er erst zum Binnenmarkt geworden ist, nach einer demokratischen Institution verlangen, die ihn reguliert.
Daß die Pioniere der Konstruktion Europas in den fünfziger und sechziger Jahren in ihren Entwürfen eine solche Perspektive verfolgen konnten, war durchaus legitim. Damals dominierte in ganz Europa der Wohlfahrtsstaat, der noch alles und jedes überwachte und regelte, und die Gründungsväter extrapolierten aus den nationalen Regulationsmechanismen, die kaum jemand in Frage stellte, wie die Zukunft Europas aussehen sollte. Doch mit den achtziger Jahren sollte diese Perspektive sich zunehmend in eine Illusion verwandeln, und diejenigen, die sie weiterhin bewußt oder naiv propagierten, wurden entsprechend zu Illusionisten.
„Egoistischer Individualismus, rüder Kapitalismus und ein einfältiger Hyperliberalismus“ kennzeichnen – wie Alain Juppé kürzlich selbst in Erinnerung rief4 – die achtziger Jahre. Der Staat wurde – abgesehen, versteht sich, von seiner Funktion als Hüter der öffentlichen Ordnung – zum Feind; die öffentlichen Dienste wurden privatisiert, die sozialen Vereinbarungen außer Kraft gesetzt, „Flexibilität“ und freier Kapitalfluß propagiert. In Großbritannien hat Margaret Thatcher dieses Programm lanciert, und John Major hat es weiterbetrieben bis zu jenem „ökonomischen Horror“5 nach britischem Rezept, dem die Wähler soeben eine Abfuhr erteilt haben.
Diese „Philosophie“ (es war auch diejenige von Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten) hat nach und nach den ganzen Westen und seit dem Fall der Berliner Mauer die ganze Welt erobert. In Europa wurde sie mit aller Kraft von der EU-Kommission propagiert, der die ultraliberale britische Wochenzeitung The Economist angesichts ungerechtfertigter Anfeindungen durch konservative Euroskeptiker nun endlich Lob und Ehre erwiesen hat: „Die EU-Kommission – das so vielgescholtene ,Brüssel‘ – hat sich im großen und ganzen als eine der wichtigsten Kräfte im Kampf gegen überholtes Besitzstandsdenken und für die volle Freiheit der Märkte erwiesen. (...) In dieser Hinsicht ist es gewiß nicht der Kontinent, sondern Großbritannien, das mit dem europäischen Projekt am besten Schritt hält.“6 Unter dem Druck der globalen Märkte und dem Brüsseler Deregulierungsfuror haben sich die europäischen Staaten zunehmend selbst ihrer ökonomischen, industriellen und monetären Richtlinienkompetenz beraubt.
Aber man täusche sich nicht: Dieser Kompetenzverlust ist keineswegs von außen erzwungen worden, sondern Ergebnis eines klaren Kalküls, das offen zu benennen Elie Cohen, Wirtschaftsfachmann, Professor am Institut d'études politiques in Paris, obwohl Verfechter dieses Prinzips, immerhin die Courage hat: „Das marktpolitische Gefüge ist ein Zwangsapparat, den die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und insbesondere die romanischen Länder (Frankreich, Spanien und Italien) sich selbst geschaffen haben, um ihre Politik in jenen geschützten Bereichen zu reformieren, wo die Gewerkschaften noch stark waren und der politische Konsens es praktisch verbot, wichtige Anpassungen vorzunehmen. (...) In dem Maße, wie Brüssel sich zu eben einem solchen Zwangsapparat auswuchs, wurde es auch zu einem machtvollen Hebel der Modernisierung, der sich gegen Lobbies, egal welcher Couleur, ansetzen ließ sowie gegen eine Politik, gelähmt vom Zusammenspiel eher konservativer Kräfte, denen es um die Wahrung sozialer Besitzstände ging.“7 Damit ist die „Software“ der Gemeinschaft perfekt umrissen. Diese Äußerung verdeutlicht auch, welchen Stellenwert die rituelle Beschwörung eines „sozialen Europa“ hat, welches in der Folge eines „politischen Europa“ quasi automatisch entstehen soll.
Wem wird man ernstlich weismachen können, daß die Kräfte des Marktes, die – dank des oben beschriebenen selbstgeschaffenen Zwangs – die Politik auf nationaler Ebene ihrer Substanz beraubt haben, ihr diese auf europäischer Ebene zurückgeben werden? Wer meint, daß jene, die, in Frankreich oder anderweitig, „weniger Staat“ verfechten, sich auf Gemeinschaftsebene stark machen für „mehr Staat“, beweist ein gerütteltes Maß an Gutgläubigkeit. Denn der Markt braucht keine neuen Regulationsinstrumentarien. Ihm genügen die EU-Kommission und die künftige Europäische Zentralbank vollauf. Diese ist exakt so konzipiert, daß sie die Rolle einer De-facto-Regierung übernehmen kann, die durch das Spiel der demokratischen Kräfte nicht gestört wird.
Auch in dieser Beziehung kann uns Elie Cohen, ein Wissenschaftler, der nicht unter den Zwängen irgendeiner gerade bevorstehenden Wahl steht, bei der Aufklärungsarbeit behilflich sein. In einem Gespräch8 , dessen Lektüre all jenen empfohlen sei, die vorbehaltlos oder auch mit einigen Einschränkung dem Gedanken der gemeinsamen Währung anhängen, räumt Cohen mit den wichtigsten Argumenten auf, die vorgebracht werden, um die Schaffung des Euro zu rechtfertigen. Gehen wir sie Punkt für Punkt durch. Der Binnenmarkt könne ohne gemeinsame Währung nicht funktionieren? „Ein Binnenmarkt wäre auch mit einem System fester Wechselkurse sehr gut vorstellbar.“ Die Transaktionskosten? „Man kann bestenfalls mit einem halben Prozentpunkt Gewinn beim Bruttoinlandsprodukt rechnen. Hingegen ist nie errechnet worden, wie hoch die Kosten der Umstellung auf den Euro sein werden.“
Die Furcht vor wettbewerbsbedingten Abwertungen? „Man muß eben alles daransetzen, daß auch Italien, Spanien und Großbritannien zur ersten Gruppe gehören.“ Der Euro als Waffe, um das Ungleichgewicht im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und Japan zu verringern? „Es ist bekannt, daß die Deutschen sich gegen diese Verpflichtung aussprechen und sie jedenfalls so nicht unterschreiben wollen.“ Und die vorläufige Schlußfolgerung des Verfassers: „Man hat uns nicht erklärt, warum eine gemeinsame Währung wirklich notwendig sein soll“, um so mehr, fährt er fort, als „der Wirtschaftsspezialist nachweisen kann, daß uns diese Theorie auf dem Gebiet des Wachstums und der Beschäftigung sehr teuer zu stehen gekommen ist“.
Man ahnt freilich, daß hinter der angeblichen Notwendigkeit des Euro etwas anderes steckt. Die Erklärung findet sich „in einem Aspekt, den niemand einzugestehen wagt, der jedoch in meinen Augen grundlegend ist und den ich ,freiwillige Unterwerfung‘ nennen möchte. (...) Die verschiedenen Regierungen waren nicht imstande, der Öffentlichkeit zu erklären, daß das Konzept der wirtschaftlichen Intervention radikal verändert werden mußte. Die Lösung war die Wirtschafts- und Währungsunion. Geldpolitik allerdings, so lautet das neue Paradigma, ist von so hoher Bedeutung, daß man sie dem demokratischen politischen Prozeß entziehen muß. Ein so wichtiges Instrument wie das Geld darf nicht in den Händen der Politiker verbleiben, denn da diese dem Kreislauf der Wahlen unterworfen sind, könnten sie versucht sein, daran zu rühren. (...) Aber das ließ sich der Öffentlichkeit nicht gut verkaufen.“
Der Vollständigkeit halber sei gesagt, daß Elie Cohen dem Projekt des Euro verpflichtet bleibt. Er ist nur entsetzt darüber, wie wenig die Politiker der Gemeinschaft und der einzelnen Länder auf die Probleme vorbereitet sind, die mit der Einführung der gemeinsamen Währung entstehen werden – Verteilung der Aufgaben zwischen der Europäischen und den einzelstaatlichen Nationalbanken, Handhabung der absehbaren Risiken auf europäischer Ebene, die Zukunft der Finanzbranche, die gewaltige Macht, die den Finanzoperateuren übertragen wird, das Überleben der kapitalistischen Strukturen in Frankreich usw.). Für Cohen ist „die Rolle der ,aufgeklärten Despoten‘ zu Ende. Es wird mehr demokratische Politik geben, und es wird mehr Regulationspolitik auf europäischer Ebene geben.“ Aber was in seinen Augen eine Prognose ist, mag anderen als riskantes Glaubensbekenntnis erscheinen.
Es muß nicht eigens erwähnt werden, daß bei den bevorstehenden Wahlen in Frankreich keine der Fragen, die sich in Zusammenhang mit dem Euro stellen und bei denen es um die demokratische Zukunft Europas geht, zum Katalog der Wahlkampfthemen der Regierungsparteien gehört. Das Nachsehen haben freilich die Bürger bei diesem überstürzten Wahlkampf, der entsprechend schlecht vorbereitet wurde und den die regierende Rechte nicht als Gelegenheit zu vertiefter Auseinandersetzung genutzt sehen möchte, sondern als quasi administrative Formalität („um nicht acht Monate zu verlieren“), die eingehalten werden muß, ehe man sich in aller Ruhe den ernsten Dingen der kommenden fünf Jahre widmen kann: der Gleichschaltung Frankreichs auf „europäische“, das heißt Thatcheristische Norm.
Denn genau das verbirgt sich hinter dem „neuen Elan“, den die Wähler mit ihrem Votum gutheißen sollen. Wenn es sich, wie an anderer Stelle zu Recht erklärt wird, um „eine Frage“ handelt, „die unsere ganze Zivilisation betrifft“, dann müßten sämtliche Bewertungselemente vor dem Urnengang offen auf den Tisch gelegt werden. Denn die Geschichte der Konstruktion Europas, insbesondere seit Mitte der achtziger Jahre, zeigt in aller nur wünschbaren Deutlichkeit, daß aufgeklärter Despotismus nicht das Monopol eines bestimmten politischen Lagers ist.
dt. Eveline Passet