Der Rechtsstaat als Testfall
Obwohl die Lage in der Region äußerst gespannt ist und in unmittelbarer Nachbarschaft der algerische Bürgerkrieg tobt, scheint Marokko im Begriff, einen friedlichen Machtwechsel zu vollziehen. Die Kommunalwahlen, die am 13. Juni stattfinden sollen, könnten erstmals in einer Atmosphäre wirklicher Transparenz durchgeführt werden. Möglicherweise wird das Ergebnis zum Testfall, wie weit die Machthaber bereit sind, sich an das mit der Opposition geschlossene Abkommen zu halten und der Demokratie den Weg zu bahnen. Wenn alles glattgeht, finden im September dann die Parlamentswahlen statt, bei denen es um weit mehr gehen wird: Wie viele Stimmen die Islamisten erhalten, bleibt unklar, aber die Umfragen zeigen, daß die Linke gute Aussichten hat, die Wahlen zu gewinnen und mit der Umsetzung ihres Programms (gemäßigter) Reformen zu beginnen. Eine solche Entwicklung – in einem Land mit großer sozialer Ungleichheit und starken inneren Spannungen – wäre ein historisches Ereignis für die gesamte arabische Welt.
Von ZAKYA DAOUD und BRAHIM OUCHELH *
AM 28. Februar 1997 unterzeichneten in Rabat der marokkanische Innenminister Driss Basri und elf politische Parteien, darunter auch fünf oppositionelle Gruppen, eine politische Grundsatzvereinbarung mit dem Ziel, sich gemeinsam „für die Festigung der demokratischen Herrschaft auf der Grundlage der Monarchie“ einzusetzen. Der Wortlaut dieses Abkommens macht deutlich, daß in Marokko ein Klima des Wandels eingekehrt ist. So haben sich alle Unterzeichner auf eine Einhaltung der Gesetze verpflichtet: Der Staat will dafür sorgen, „daß alle Parteien gleich behandelt“ und daß alle „ungesetzlichen Machenschaften bestraft werden“; im Gegenzug versichern die Parteien, daß sie ihren Wahlkampf „in konstruktivem Geist“ führen werden und die Rechtmäßigkeit der Wahlen schon im vorhinein anerkennen.
Die marokkanische Öffentlichkeit zeigte sich ob dieser Übereinkunft einigermaßen verblüfft. Ein Journalist drückte sein Erstaunen so aus: „Seit wann muß man denn in einer Demokratie mit großem Medienrummel ein Abkommen schließen, aus dem nur hervorgeht, daß sich alle an die Gesetze halten wollen?“1
Doch die Vereinbarung bedeutet ganz ohne Zweifel einen politischen Wendepunkt: Die im Bündnis kutla (Einheit)2 zusammengeschlossenen Oppositionsparteien haben damit ihre Tradition der Verweigerung aufgegeben, die seit 1959 vornehmlich die sozialistische USFP gepflegt hatte, die in verschiedenen dramatisierten Konflikten regelmäßig mal Öl ins Feuer gegossen und dann wieder die Feuerwehr gespielt hatte.
Für den Soziologen Muhammad Guessus erklärt sich dieses Verhalten in der Vergangenheit aus dem „Trauma des Ausgeschlossenseins“, das diese Partei bereits vor den sechziger Jahren erlitten hatte, als das Regime alle Institutionen in seine Macht brachte und der Staat sich weigerte, sich auf eine „Legitimierung durch das Volk“ (nach dem Verständnis des unbestrittenen Oppositionsführers Mehdi Ben Barka) einzulassen.3
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MAROKKO: WÄHLERLISTEN, WAHLVERSPRECHEN UND REALPERSPEKTIVEN
Der Rechtsstaat als Testfall
Neuerdings glaubt das Regime, die Lage soweit im Griff zu haben, daß es eine Politik der Öffnung und der Transparenz propagieren kann. Das würde auch eine Abkehr von den „unsauberen Machenschaften“ ermöglichen, wie es Abderrahman Jussufi, der Generalsekretär der USFP, genannt hat.
Besonders „unsauber“ waren die Parlamentswahlen von 1993, die kurz nach einem Referendum über eine Verfassungsänderung stattfanden. Die Opposition hatte bei diesem Referendum deutlich mit Nein votiert; im Gefolge der darauffolgenden Wahlen hatte das Kutla-Bündnis die Wahlmanipulationen angeprangert und den Rücktritt von Innenminister Driss Basri gefordert, den sie für den Hauptverantwortlichen hielten. Empört und enttäuscht ging USFP-Führer Jussufi sogar für anderthalb Jahre außer Landes – nicht ohne zuvor eine Änderung der Verfassung und der Wahlgesetze zu fordern, die seiner Meinung nach jeder Demokratisierung im Wege standen.
Um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, bot König Hassan II. damals den Oppositionsparteien eine Regierungsbeteiligung an, wobei er sich jedoch das Recht vorbehielt, den Ministerpräsidenten und die Minister des Inneren, der Justiz und des Äußeren selbst zu bestimmen. Die Opposition lehnte ab.
Erst nach langwierigen Verhandlungen zwischen Staatsmacht und Opposition, der es in erster Linie darum ging, Wahlfälschungen in Zukunft zu verhindern, konnten schließlich neue Wählerlisten aufgestellt und eine Nationale Kommission zur Überwachung der Wahlen gebildet werden. Nach siebenmonatigen Verhandlungen und umfangreichen Überprüfungen war vor kurzem in der marokkanischen Presse zu lesen, daß mehr als 4,5 Millionen Einträge in den Wählerlisten als zweifelhaft gelten (bei insgesamt 12 Millionen Wahlberechtigten). Sechsundzwanzig Arbeitstreffen waren nötig, bis der Innenminister Einsicht in die Wahlunterlagen gewährte und der Opposition Gelegenheit gab, die zahllosen Unregelmäßigkeiten zu monieren. Offenbar hat die Opposition recht mit ihrer Feststellung, daß „selbst nach vierzig Jahren der Unabhängigkeit niemand weiß, wie die politische Landkarte Marokkos wirklich aussieht“.
Das Wort des Königs – einziger Garant?
DIE Machthaber sind offenbar zu dem Schluß gelangt, daß man das Führungspersonal auswechseln und sich auf neue politische Kräfte stützen muß, und sei es nur, um den Anforderungen der entscheidenden Wirtschaftsinstanzen des Landes – dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank – nachzukommen. Zudem sind sie der Ansicht, daß die Integration in die Weltwirtschaft am besten funktioniert, wenn sie von politischen Reformen begleitet ist.
Der Prozeß der Annäherung zwischen Regierung und Opposition begann im Jahre 1992. Mit allen Tricks und auf jede nur erdenkliche Weise hatte die Opposition versucht, sich kleine Machtbereiche zu erobern, ohne in den Verdacht der Kollaboration mit dem Regime zu geraten – vergebens. Aber seit Aussicht auf einen Sieg bei den Parlamentswahlen im Herbst besteht, treten sich die Parteigrößen in den Korridoren der Ministerien gegenseitig auf die Füße und wollen von den früheren Konflikten nichts mehr wissen.
Dabei konnte die Opposition bereits bei den Wahlen von 1992 und 1993 einen Eindruck von dem gewinnen, was Nubir Amaui, Generalsekretär der Gewerkschaft CDT4 , als den „drohenden Obskurantismus“ bezeichnet. Gemeint sind damit nicht nur die „Versuchungen eines faschistoiden Populismus und die neue Verklärung der Vergangenheit“, die sich in den Erfolgen der Islamisten5 niederschlagen, sondern auch der wachsende Einfluß der „marokkanischen Mafia“, deren Einkünfte aus Schmuggel, Drogenhandel, Korruption und politischem Machtmißbrauch von dem Soziologen Muhammad Guessus auf etwa 50 Prozent des Bruttosozialprodukts geschätzt werden.6
Aber unter dem Eindruck jener „unaufhaltsamen Dynamik des Wandels“, die Hischam Ben Abdallah al-Alaui, ein Neffe des Königs, beschworen hat, haben alle ehemaligen Gegner zueinandergefunden. Und alle stimmen dem Diktum des USFP-Führers Jussufi zu, daß „die Entscheidung über den Machtwechsel an den Wahlurnen fallen muß“.
Der Umschwung kam im September 1996, als die Opposition – offenbar nicht ohne Gewissensbisse – den Beschluß faßte, bei dem neuen Referendum über die Verfassungsänderung für ein Ja einzutreten. Für die USFP war das etwas ganz Neues: Bei den vier vorausgegangenen Änderungen hatte sie entweder die Abstimmung boykottiert oder mit Nein gestimmt.7 Was brachte sie also dazu, 1996 zu akzeptieren, was sie 1992 noch abgelehnt hatte? „Weil wir endlich erreicht haben“, erläutern die Führer der Opposition, „daß die künftige Regierung aus Wahlen hervorgeht und dem Parlament verantwortlich ist, und daß die Erste Kammer dieses Parlaments direkt von den Bürgern gewählt wird.“ Allenthalben hört man die Ansicht, daß „zur Zeit im Bereich der Reformen mehr nicht zu erreichen ist“. Das Referendum vom 13. September 1996 hat eine veränderte Volksvertretung hervorgebracht: statt des bisherigen Einkammerparlaments (dessen Mitglieder zu einem Drittel indirekt von den Machthabern bestimmt werden) ein Parlament aus zwei Kammern: einem Unterhaus, dessen Zusammensetzung in allgemeinen Wahlen ermittelt wird, und einer „beratenden“ Kammer, deren indirekt gewählte Delegierte „die lebendigen Kräfte des Volkes“ repräsentieren sollen.
Doch nicht alle teilen die Begeisterung der politischen Klasse und der staatlichen Medien. Viele Bürger halten den Handel mit dem Regime für eine riskante Sache. Hinter vorgehaltener Hand äußern sich auch einige Oppositionsführer besorgt.
Ihre Hauptsorge sind die Garantien. Muhammad Bensaid, der Generalsekretär der OADP, war nicht bereit, zusammen mit den anderen Oppositionskräften die Verfassungsreform von 1996 zu befürworten, und mußte daraufhin erleben, daß seine Partei wegen dieser Frage auseinanderfiel. Bensaid gibt heute öffentlich zu bedenken, ob es nicht zunächst notwendig sei, demokratische Strukturen durchzusetzen, damit das Abkommen auch eingehalten werde. Auch Abderrahman Jussufi hat seine Zweifel an der Einhaltung der Garantien geäußert: „Wir haben nichts als das Wort des Königs.“ Und zweifellos werden die Machthaber nicht bereit sein, bei den kommenden Wahlen internationale Beobachter zuzulassen ...
Vor allem auf lokaler Ebene und innerhalb der Berufsverbände ist die Überprüfung der Wählerlisten noch nicht weit genug gediehen, um das Prinzip „ein Wahlregistereintrag, ein Wahlschein, eine Stimme pro Wähler“ zu gewährleisten. Und es ist keineswegs gesichert, daß diese Herkulesarbeit vor dem Wahltermin im Herbst 1997 abgeschlossen ist. Zwar sind mittlerweile die 297 Artikel des Wahlgesetzes – nach mindestens drei verschiedenen Zwischenfassungen – im Parlament verabschiedet, aber eine Reihe grundsätzlicher Regelungen blieb ebenso ungeklärt wie die Zusammensetzung der Zweiten Kammer des künftigen Parlaments.
Über dieses Gremium weiß man bislang nur, daß es zu drei Fünfteln aus Delegierten der Städte, Gemeinden und Provinzen bestehen soll – womit die ländlichen Gebiete überrepräsentiert wären. Die übrigen Mitglieder der Kammer sollen aus den Reihen der Gewerkschaften und der Berufsverbände kommen. Wenn also im September die Opposition in die Schlacht zieht, so einerseits zwar zum Teil mit geschlossenen Augen, doch andererseits endlich einmal in geschlossener Reihe: Das Kutla-Bündnis will gemeinsame Kandidaten aufstellen, wie schon für die Kommunalwahlen am 13. Juni in den rund 25000 Wahlbezirken. Ebenso wollen die sogenannten Regierungsparteien verfahren, die derzeit im Parlament die Mehrheit besitzen. Die Konstitutionelle Union (UC), die Volksbewegung (MP) und die Nationaldemokratische Partei (PND) haben sich zum Wifak-Bund zusammengeschlossen – einige ihrer Abgeordneten haben aber bereits gemerkt, daß der Wind sich dreht, und nähern sich den Positionen des Kutla-Lagers an.
Ungeachtet einzelner parteiunabhängiger Kandidaten geht die Entwicklung in Richtung zweier großer politischer Lager. „Es bleibt uns nichts anderes übrig“, meint Abderrahman Jussufi. „Wir wollen nicht auf die Zuspitzung der Lage setzen – das Land hat bereits vier Jahre verloren.“
Gegen diese Etappe der Demokratie werden noch weitere Bedenken laut: Die kleineren Parteien der radikalen Linken fühlen sich übergangen und müssen sich damit begnügen, auf die Straße zu gehen, wenn sie ihre Stärke demonstrieren wollen, was sie zuletzt im Januar 1997 getan haben.8 Dasselbe gilt für die Islamisten, von denen nur einige wenige Organisationen auf der politischen Bühne mitwirken.9 Es besteht die Gefahr, daß diese Gruppen in ihrer Widerstandshaltung verharren und sich in einer Art Verweigerungsfront zusammenschließen. Auch die Organisationen der sich herausbildenden Zivilgesellschaft wissen nicht recht, wie sie in diese politische Diskussion aktiv eingreifen können – das gilt für die Frauenorganisationen, die in der Frage der Quoten uneins sind, für die Menschenrechtsorganisationen10 , aber auch für die Emigranten, die eine parlamentarische Vertretung, wenigstens in der Zweiten Kammer, beanspruchen.11
Überdies tun sich einige Aktivisten in den Reihen der Oppositionsparteien schwer, ihre Konfrontationshaltung aufzugeben: Sie fürchten, manipuliert und instrumentalisiert zu werden. Zweifellos wird dieses Gefühl der Enttäuschung verstärkt durch die Reformgegner, die sich aber nicht offen zu exponieren wagen.
Ein schwerwiegendes Problem liegt darin, daß große Teile der Bevölkerung sich von der Politik abwenden – vor allem die Jugend, die keine Träume und Hoffnungen mehr hat. Für Abderrahman Jussufi, der sich als Mann der Besonnenheit und der Versöhnung für den friedlichen Übergang besonders stark gemacht hat, ist dieser Zustand empörend: „Wir müssen alle zur Mitarbeit bewegen“, erklärt er. „Neue Perspektiven liegen vor uns, die Aufgaben sind gewaltig.“ Und er nennt fünf entscheidende Programmpunkte der Opposition: „Man muß demonstrieren, daß man anders regieren kann; man muß endlich zivile Umgangsformen, eine reformierte Verwaltung und Justiz aufbauen; man muß die Idee der sozialen Einrichtungen erneuern; man muß ernsthaft darangehen, in der Wirtschaft, der es an Investitionen fehlt, wieder Effektivität, Rationalisierung, neuen Schwung sowie eine ehrliche und fähige Unternehmensführung durchzusetzen, und schließlich muß man sich um die Situation und die Zukunft der Jugend kümmern.“
Doch in einem Land, in dem so vieles so lange vernachlässigt wurde, gibt es natürlich zahllose Probleme, die dringend angepackt werden müßten. Obwohl in diesem Jahr die Wachstumsrate die Rekordmarke von 9,5 Prozent erreichen dürfte, stecken weite Bereiche der Wirtschaft in der Krise. Und ein Jahr nach den gewaltsamen Unruhen, die am 5. Juni 1996 in Tanger ausgebrochen waren, sind die sozialen Probleme unverändert bedrohlich: Analphabetismus (mit 50 Prozent die höchste Quote im Maghreb), Arbeitslosigkeit (20 Prozent der städtischen Erwerbsbevölkerung, wobei überwiegend Jugendliche betroffen sind, darunter auch 300000 Hochschulabsolventen) sowie die gewaltigen Ungleichheiten hinsichtlich Besitz, Einkommen, Gesundheitsversorgung und Bildungschancen schaffen extreme soziale Spannungen; die Verwaltung der Städte bricht zusammen, während die ländlichen Gebiete veröden; überall herrscht Unrecht, Willkür, Ungleichheit und Unsicherheit.
Außerdem muß das verlorene Vertrauen wiedergewonnen werden, und dies nicht nur bei den Bürgern, sondern auch bei den Investoren: Nicht einmal 5 Prozent der neun Milliarden Dollar, die an der Börse von Casablanca umgesetzt werden, sind Kapitalanlagen ausländischer Investoren. Die neue Regierung wird den Staatshaushalt sanieren und die Probleme der öffentlichen Verschuldung, der Inflation, des Handelsbilanzdefizits und der steigenden Lebenshaltungskosten anpacken müssen. Sie muß das gesamte Wirtschaftsleben, das von Korruption und ungezügeltem Liberalismus geprägt ist, reformieren und humaner gestalten. Auch andere Probleme, die ständig aufgeschoben wurden, stehen zur Lösung an. So gilt es vor allem, eine Verhandlungslösung in der Westsahara-Frage zu finden; und man muß die Integration aller marginalisierten und diskriminierten Gruppen vollbringen: der Jugendlichen, der Arbeitslosen, der Frauen, der Emigranten. Mit einem Wort: Es muß endlich ein Rechtsstaat geschaffen werden.
Bislang sind die wichtigsten Oppositionsführer klug genug, keine spektakulären Versprechungen zu machen. Aber ihnen ist auch klar, daß sie Reformen durchsetzen und sich neue, pragmatische und realistische Ziele stecken müssen, um für die Parole „Gemeinsam gegen die Resignation“ den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung zu finden. Es sind die vergangenen Kämpfe, aus denen sie ihre Glaubwürdigkeit beziehen. „Wir haben den Preis für unsere Überzeugungen gezahlt“, erklärt Abderrahman Jussufi, „und uns nicht von unserem Kurs abbringen lassen.“
dt. Edgar Peinelt
* Schriftstellerin und Journalistin; Vertreter der Vereinigung für Menschenrechte.